> Werner Mork: Hunger im Kriegsgefangenenlager

Werner Mork: Hunger im Kriegsgefangenenlager

Dieser Eintrag stammt von Werner Mork (*1921) aus Kronach, Februar 2010:

Im Kriegsgefangenenlager Horazdovice hausten wir in selbst gegrabenen Erdlöchern. Und dieses "Hausen" in den Erdlöchern wurde langsam eine große Sauerei. Die Sonne war die eine Qual für uns, weil wir ihr schutzlos ausgesetzt waren. Eine andere Qual waren die Nächte auf dem nackten Boden dieses Lochs, weil wir nichts hatten, was uns hätte Schutz geben können. Ganz schlimm wurde es bei Regen und Gewitter, weil dann regelrechte Sturzbäche hernieder gingen und die Brühe in die Löcher lief. Katastrophal waren die sanitären Verhältnisse im Lager, bei denen es ein Wunder war, dass es nicht zu einer Epidemie kam, aber Kranke gab es sehr viele. Wer krank wurde, konnte auf Hilfe kaum rechnen, die Amis waren darauf nicht eingestellt, so blieben für eine mögliche Behandlung nur die im Lager befindlichen deutschen Sanitäter und einige Ärzte, die aber kaum über ausreichend Medikamente verfügten. Gut war es nur, dass alle, die ins Lager kamen, entlaust wurden. Das "Anti-Läuse-Puder" von den Amis wurde mit Hilfe einer großen Holzspritze in die Klamotten gespritzt. Das war auch dringend erforderlich, denn die Landser, die von der Front ins Lager kamen, waren durchweg alle total verlaust, wie auch ich, und das sehr gründlich. Wochenlang keine saubere Wäsche, kein richtiges Waschen mehr, da war es kein Wunder, von den Läusen komplett okkupiert worden zu sein. Der Kopf war voll von diesem Ungeziefer, die Klamotten waren die Nester und Brutstätten der Läuse, gegen die wir nicht mehr ankamen. Das war grauenhaft und ekelhaft, und wir waren den Amis zumindest dafür dankbar, dass sie uns mit ihrem "Anti-Läuse-Mittel" von diesen widerlichen Mitbewohnern befreiten, wenn auch mehr aus eigenem Interesse und weniger als Wohltat für uns, aber wir lernten die Vorzüge vom "DDT" kennen und schätzen. Vor allem war eine mögliche Seuchengefahr damit doch reduziert worden.

Ich zumindest blieb von schwerwiegenden Krankheiten verschont, nur nicht vom Hunger. Die Verpflegung war ein sehr schwerwiegendes Problem, nicht zuletzt, weil die uns bewachenden Amis eine Kampfeinheit waren, die auf die Versorgung so vieler Gefangener nicht eingestellt waren. Unser Lager hatte ständig "Zuwachs" bekommen, es war restlos überfüllt. Die Logistik der Amis musste dabei versagen. Wir litten furchtbar unter Hunger und Durst. Jetzt erlebte ich am eigenen Leib, was es bedeutet, Hunger zu haben, der nicht gestillt werden kann. Die Qualen des Hungers wurden bald unerträglich. Es gab nun auch die ersten Verhungerten, die ersten Toten, die wegen Hunger starben. Das betraf zuerst die noch blutjungen Soldaten, die als Kinder in Uniform gesteckt worden waren, um gegen die Russen zu kämpfen. Da gab es viele 12 bis 14-jährige Knaben, die entweder dem Volkssturm angehört hatten oder als Flakhelfer eingesetzt worden waren, aber auch völlig verblendete Bengels, die sich noch in letzter Stunde irgendwo freiwillig für Führer, Volk und Vaterland gemeldet hatten. Von diesen Kindern sind viele den Hungertod gestorben, bis dann endlich die Amis etwas unternahmen, um diesem Kindersterben Einhalt zu gebieten. Nur kam das dann für viele dieser Kinder zu spät, da waren sie bereits gestorben. Diese Kinder, in ihren viel zu großen Uniformen, die den Krieg überlebt hatten, starben jetzt einen grausamen Hungertod.

Aber auch unter uns "alten" Soldaten gab es viele Hungertote, und wir wussten nicht, wie es weiter gehen würde, wir glaubten, dass die Mehrheit von uns den Hungertod erleiden würde. Die so genannte Verpflegung bestand aus täglich einem Kochgeschirrdeckel, gefüllt mir einer roten Brühe, die aus italienischen Tomaten-Konserven "gekocht" worden war, ohne irgendwelche Einlagen. Diese Konserven waren Tomatenmark aus erbeuteten Wehrmachtsbeständen. Die großen 5-Liter-Dosen wurden in die Kessel gekippt und dann mit viel Wasser vermischt, d.h. verdünnt. Nach dem Erhitzen dieser Brühe wurde die dann als "warme Mahlzeit" ausgegeben. Zweimal in der Woche gab es "zusätzlich" frisches, amerikanisches Weißbrot, das sich drei Mann teilen mussten. Dieses Stück Brot wurde sofort mit Heißhunger verschlungen, und dann musste wieder bis zur nächsten Brotzuteilung gewartet werden - wenn man dann noch am Leben war. Es vergingen viele Wochen, bis die Verpflegung endlich etwas aufgebessert wurde, aber noch immer nicht ausreichend war. Hungertote gab es weiterhin.

Auch ich litt unter den Qualen des Hungers, ich näherte mich dem Zustand einer Entkräftung, in der ich anfing, mich selber auch schon aufzugeben. In dem Zustand der Verzweiflung packte mich dann aber ein Mut, der nicht ungefährlich war. Aber darüber dacht ich nicht weiter nach, ich wollte nur versuchen, mir und auch meinem Kameraden irgendwie zu helfen, auch wenn ich/wir dabei draufgehen würden. Unser Erdloch war in nicht allzu weiter Entfernung von der Stelle, wo die Amis ihre Feldküchen aufgestellt hatten. Dort nahmen die Amis ihre warmen Mahlzeiten täglich in Empfang. Das konnten wir nun mit unseren knurrenden Mägen sehen, aber auch, wie die Amis die Reste ihrer Mahlzeiten in die Abfallgruben warfen, die in der Nähe der Feldküchen ausgehoben waren. Aber nicht nur das, sie pinkelten auch schon mal in die Grube rein. An jedem zweiten Tag wurde in die Grube eine Ladung Chlor geschüttet. Allen Gefangenen war es ausdrücklich verboten, sich dieser Grube zu nähern, die anwesenden Posten hatten die Anweisung, bei Nichtbefolgung von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.

Aber in meinem Kopf hatte sich dennoch eine direkt fixe Idee eingenistet. Als der Hunger nicht mehr zu ertragen war und ich kaum noch klar denken konnte, setzte ich diese Wahnidee in die Tat um. Es war ein Punkt erreicht, wo mir alles egal war, weil ich nur noch einmal mich satt essen wollte, wenn auch nur für einen Tag. Danach könnte dann das Ende kommen. Mein Kumpel hielt das zwar für Wahnsinn, aber er wollte mitmachen.

In den vergangenen Tagen hatte ich mich in dem Gelände der Abfallgruben mal etwas näher umgeschaut, aber sorgsam darauf geachtet, dass die amerikanischen Posten nichts merkten. Dabei hatte ich festgestellt, dass mein geplantes Vorhaben eigentlich durchführbar sein müsste. Der nächste Schritt war der, dass wir uns leere Konservendosen organisierten, die wir für unseren Plan benötigten.

Dann war es an einem Abend möglich, in der Dämmerung mit drei Dosen im Arm über die Wiese auf allen Vieren an die Grube heranzurobben, unter Rückendeckung durch meinen Kameraden, der den Auftrag hatte, gut aufzupassen und sich sofort bemerkbar zu machen, wenn es mulmig werden sollte. Ich gelangte unbemerkt an den Rand der Grube und ließ mich in diese langsam hineingleiten. Dann grabschte ich im Dreck, Unrat und Gestank nach Essensresten, die ich in meine Büchsen packte, um nun schnellstens wieder aus dem Dreck herauszukommen, weil ich es kaum noch aushalten konnte, aber auch, weil ich Stimmen von Amis hörte. Ganz still und sehr langsam zog ich mich dann aus Dreck wieder nach oben, um mühsam kriechend wieder das Erdloch zu erreichen. Es war alles gut gegangen, nichts war bemerkt worden, die Amis hatten mich nicht gesehen. Wir hatten uns auf diese Weise drei Dosen mit köstlichem Abfall besorgt, aus dem wir ein Festessen bereiten wollten!

Wir machten ein kleines Feuerchen und erhitzen die Dosen mit den Resten, die vorwiegend aus Fett bestanden, und produzierten dabei eine Art "Schmalztopf", in dem sich aber auch etwas Fleisch befand. Jetzt fehlten uns nur noch "gute" Zutaten für einen schmackhaften Schmaus, und die besorgten wir uns auf der Wiese am nächsten Tag bei Tageslicht. Das waren Löwenzahn-Blätter, die wir eifrig pflückten, um aus denen dann einen "herrlichen" Löwenzahn-Spinat zu machen. Dann haben wir nicht etwa gegessen, wir haben gefressen. Keiner hatte aber daran gedacht, welche Folgen diese Fresserei haben könnte, noch dazu mit dem völlig ungewohnten "Fettgenuss". Wir bekamen einen schlimmen Durchfall, bei dem wir uns wirklich beinahe tot geschissen hätten. Was wir da so sinnlos in uns hineingefressen hatten, das ungewohnte Fett, der Dreck aus der Grube versetzt mit dem Chlor vom Tage zuvor, das hätte uns wirklich umbringen können. Aber wir überstanden diese Tortur und haben dann noch einige Tage von unserem Vorrat gegessen, aber dann nur noch in kleinen Portionen. Dabei haben wir festgestellt, dass Löwenzahn nicht nur für Karnickel ein gutes "Essen" ist.

lo