> Werner Mork: Machtübernahme

Werner Mork: Machtübernahme

Dieser Eintrag stammt von Werner Mork (*1921 ) aus Kronach, Juli 2004:

Der 30. Januar 1933

Es herrschte ein widerlich nasskaltes Wetter bei uns in Aumund-Lobbendorf am 30. Januar 1933 und das zwang mich 11jährigen zum "Stubenhocken". Am Nachmittag dieses Montags war ich alleine in der Wohnung. Meine Mutter war zu meinem Vater ins Lokal gegangen und wollte dann noch einige Einkäufe tätigen. Etwas miesepetrig saß ich herum, hatte keine große Lust mich irgendwie zu betätigen, ich war unzufrieden mit dem seit Weihnachten anhaltenden "Scheißwetter", es wollte einfach nicht richtiger Winter werden. Sturm, Regen und eine widerliche kalte Nässe, verdarben uns Kindern die Hoffnung auf ein schönes, gutes Winterwetter, so richtig mit viel Schnee und klirrendem Frost. So saß ich da mit meiner Unlust und wartete auf meine Mutter, die gegen 18 Uhr wieder zurück sein wollte, aber dann schon um 17 Uhr wieder da war. Sie kam in einer sehr aufgeregten Stimmung, wirkte ziemlich aufgelöst und brachte keine guten Nachrichten mit nach Hause, an diesem Montag, dem 30. Januar 1933!

Mit vor Wut zitternder Stimme erzählte sie mir, daß der Hindenburg den "Kerl" Hitler zum neuen Reichskanzler ernannt habe. Sie wollte das zuerst nicht glauben, weil es doch so viele dumme Gerüchte in den letzten Tagen gegeben hatte, aber es sei doch die Wahrheit, über das Radio sei das offiziell bekannt geworden. In großer Angst, aber auch mit viel Wut war sie nun schnellstens nach Hause gegangen. Von Bekannten hatte sie auf dem Heimweg auch noch gehört, daß nun wohl das geschehen würde, was die SA schon immer gegrölt habe, nämlich "die Nacht der langen Messer": Jetzt würde es den Roten an den Kragen gehen. Die SA würde so aufräumen, daß nur noch ihr die Straßen gehören würden, gemäß dem SA-Lied: "Die Straße frei den braunen Bataillonen, die SA marschiert mit festem Schritt und Tritt". Aber gute Bekannte hatten ihr auch gesagt, daß mit der Ernennung von Hitler zum Reichskanzler die sehr große Gefahr eines Bürgerkrieges durch die Kommunisten endgültig vorbei sei, und das sei doch für uns alle gut, so hatten sie gesagt. Meine Mutter war dennoch skeptisch, für sie war diese Gefahr noch längst nicht aus der Welt. Sie hatte Angst vor der Reichswehr, weil es da so viele Gerüchte gegeben hatte, daß die Reichswehr so oder so in diesen Tagen putschen würde. Auch Nachbarn von uns, gute Sozialdemokraten, hatten in den letzen Tagen immer wieder von einer solchen Möglichkeit gesprochen und solch einen Putsch auch durchaus befürchtet, vor allem in Bezug darauf, daß Generale der Reichswehr, nicht nur der General Schleicher als derzeitiger Kanzler, doch stark involviert waren im gesamten politischen Geschehen, obwohl die Reichswehr laut Weimarer Verfassung unpolitisch sein sollte.

Meine Mutter meinte aber auch, die Eiserne Front, die Gewerkschaften und die SPD würden es nicht zulassen, daß die Nazis mit ihrem Hitler wirklich die Macht in Deutschland in ihre Hände bekommen. Die würden doch sicher jetzt zum Generalstreik aufrufen, aber vielleicht auch die versteckten Waffen hervorholen, was aber nicht gut wäre, weil es dann doch auch zu Schießereien kommen könne, und die Gefahr eines Bürgerkriegs bestehen würde, vor allem weil die Nazis nicht "klein" beigeben und sie ihre neue Macht nicht kampflos wieder hergeben werden. Meine Mutter schimpfte auf die verdammten Nazis mit dem dahergelaufenen Österreicher an der Spitze. Diese Machtübernahme durch die verdammten Nazis dürfe man aber nicht so ohne weiteres hinnehmen, dagegen müsse man sich schon zur Wehr setzen, aber möglichst ohne Blutvergießen. Meine Mutter war ziemlich mutlos und ratlos, sie rutschte von einer Meinung zur anderen und wußte nicht mehr ein und aus. Sie meinte dann, daß doch vielleicht die Eiserne Front gemeinsam mit der Reichswehr dagegen tätig werden könne, was aber sicher sehr schwer sein würde, weil doch Hindenburg als Reichspräsident Befehlshaber der Reichswehr ist.

Sie hatte keine Hoffnung, daß das alles in den nächsten Tagen gut gehen würde, wobei ihre größte Sorge war: Was geschieht in Vegesack, gibt es Krawall und wird unser Lokal davon betroffen? Wie würde nun in später Nacht ihr Mann, mein Vater, heil und ungeschoren von Vegesack nach Hause kommen, wo man doch nun mit allem rechnen müsse, auch mit Raub und Überfall. Und so sah sie mit großem Bangen dieser ersten Nacht entgegen, in der aber dann mein Vater völlig heil seinen Nachhauseweg hatte machen können. Es herrschte Ruhe auf der Straße, trotz der tosenden Begeisterung von Menschenmassen in Berlin, die wir dann am Wochenende in der Wochenschau im Kino erlebten. Wir sahen auch den Opa Hindenburg mit Hitler am Fenster stehend, die gemeinsam den Vorbeimarsch der uniformierten Kolonnen der NSDAP, des Stahlhelms und anderer rechter Wehrverbände abnahmen. Hindenburg strahlte förmlich beim Anblick dieser, in so tadelloser militärischer Ordnung an ihm vorbeiziehenden Einheiten, das war für ihn der langentbehrte Anblick eines guten, deutschen Menschenmaterials! Nun konnte Deutschland wieder groß werden, mit solchen Männern, die doch ein ganz anderes Bild boten als die so unguten Demonstrationen der ungeordneten Haufen aus dem linken Lager, die samt und sonders doch wirklich nur vaterlandslose Gesellen waren. Bei dem Anblick dieser geordneten rechten Organisationen muß das Herz des alten, preußischen Feldmarschalls doch wieder ganz hoch geschlagen haben, aber wohl nicht nur bei ihm. Die deutsch-preußischen Herzen von Millionen Deutscher haben an dem Abend und in der Nacht höher geschlagen. In Berlin marschierten nicht nur die militanten Kolonnen, es standen auch zivile Menschenmassen auf den Straßen, die laut jubelten und immer wieder das Deutschlandlied sangen und immer wieder diesen beiden deutschen Männern zujubelten, die am Fenster stehend die brausenden Ovationen entgegennahmen.

Das war kein befohlener Jubel, der wäre auch gar nicht möglich gewesen, das war der Jubel einer echten Begeisterung, auch wenn man die heute immer wieder abschwächen möchte, und so tun, als seien damals nur wilde Horden tobend und tosend durch die Straßen gezogen, aber denen hätte der Reichspräsident sicher nicht huldvoll zugewinkt. Wenn es auf den Straßen in unserem Umfeld relativ ruhig war, so lag das auch wohl daran, daß der Rundfunk das große Spektakel in Berlin über alle seine Sender übertrug. Die Menschen, die ein Radio hatten, erlebten zum ersten Mal das, was Goebbels wie in einem Handstreich möglich gemacht hatte. Wobei er aber auch genug willige Helfer beim Rundfunk gehabt haben muß, denn so ganz ohne eine Hilfe von rechtsgerichteten Angehörigen bei den Sendern wäre das nicht möglich gewesen. Eine direkte Befehlsgewalt hatte der Herr Goebbels in der Nacht noch nicht.

Die örtlichen Parteiorganisationen in Vegesack und Umgebung saßen bei den Bekannten, die schon ein Radio hatten und begeisterten sich an dem, was sie dort hören konnten. Nicht nur die zu hörende Begeisterung war eine Sensation, sondern auch die Übertragung selber in der noch jungen Geschichte des deutschen Rundfunks, in der erstmalig eine solche veranstaltet wurde für eine einzige Partei, die an diesem Tag den deutschen Reichskanzler stellte, mehr war das doch nicht. Aber daraus wurde unter der sehr geschickten Regie von Goebbels ein deutsches Ereignis, das über den Äther nicht nur die Deutschen berühren sollte, sondern auch die ganze Welt in die diese Übertragung ausgestrahlt wurde, und über Kurzwelle auch in viele Länder der Überseeregionen. Der Taumel in Berlin konnte von aller Welt vernommen werden. Aber es geschah nichts gegen diesen nationalen Ausbruch, diesen Taumel von nationalistischer Begeisterung, der doch eigentlich bei vielen in anderen Ländern zumindest ein starkes Bedenken hätte auslösen müssen, aber nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil, die neue Regierung wurde von allen Staaten anerkannt und die Herren Botschafter und Gesandten waren samt und sonders akkreditierte Diplomaten bei der Reichsregierung in Berlin, mit Herrn Hitler als dem anerkannten Reichskanzler.

Die Unruhe meiner Mutter an dem Tag war verständlich, nicht nur wegen der vielen herumschwirrenden Gerüchte in den vergangenen Tagen des Monats Januar, auch wegen der ganzen, uns sehr bedrückenden Atmosphäre im gesamten eigenen Umfeld. Die hatte auch ich zu spüren bekommen bei dem täglich stärker werdenden Ärger, den wir Rote Falken mit den "blöden" Pimpfen vom Nazi-Jungvolk hatten. Aber es lag auch eine furchtbar gereizte Stimmung über unsere Nachmittage im Heim. Die gesamte Tendenz war lustlos geworden, und die war von den Großen auf uns Kleine übergekommen. Nicht nur von den Großen aus der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ), sondern auch von den Männern des Reichsbanners und der Eisernen Front, die abends und nachts nun verstärkt Wache hielten in dem SAJ-Heim.

Es lag etwas in der Luft, was bedrückend wirkte, auch das so hektische Treiben, das Kommen und Gehen im benachbarten Gewerkschaftshaus. Es herrschte eine allgemeine Nervosität, bei der auch kaum noch einer ansprechbar war. Fast ein jeder giftete den anderen an, wenn er angesprochen wurde. Laß mich in Ruhe, war durchweg die einzige Antwort auf gestellte Fragen. Dann hörten wir aber, daß das alles mit den Nazis zusammenhängt, die verstärkt auf Krawall auswaren. Da sei etwas im "Busch", da braue sich was zusammen, was u. U. schlimme Folgen haben könne. Es kam auch zu mehr schlimmen Zusammenstößen mit der SA, die der Sturmbannführer Karl Lendroth nun fast jeden Tag auf den Straßen marschieren ließ. Von der SS wurde dabei kaum Kenntnis genommen, die existierte nur als eine Minderheit und trat nicht so massiert in Erscheinung wie die SA. Zeit zum marschieren hatten die SA-Männer zur Genüge: Von denen war die Mehrheit genauso arbeitslos, wie ihre politischen Gegner. Vor allem in der Umgebung des Gewerkschaftshauses trat die SA besonders in Erscheinung und das merkten wir sehr deutlich in unserem daneben befindlichen Heim. Aber auch die HJ mitsamt dem Jungvolk war stärker auf der Straße vertreten als je zuvor, wir kamen mit denen nun ständig in Kollision, wobei wir aber die Schwächeren waren. Diese ganze spannungsgeladene Lage übertrug sich auf uns Kinder. Wir waren voller Angst, weil von den Großen immer wieder das Wort vom Bürgerkrieg in Umlauf kam. Meine Mutter hatte also mit ihrer eigenen Angst nicht ganz Unrecht.

Diese unangenehme Situation war aber auch ein Grund dafür, daß ich auch an den weiteren Tagen mit mir selber so unzufrieden war, daß ich nur noch trüben Gedanken anhing und keine frohe Stimmung mehr aufkam. Als meine Mutter mit der schlimmen Nachricht nach Hause kam und ihrem Zorn freien Lauf ließ, war meine Stimmungslage auf einen Nullpunkt abgesackt. Dabei kam aber auch eine ziemliche Angst in mir auf vor dem weiteren Geschehen und ich dachte dabei nun ganz besonders an das, was ich in den letzten Tagen im SAJ-Heim immer wieder gehört hatte. Auch mein Vater war in einer sehr bedrückten Stimmung und er hatte ebenfalls eine Angst vor dem, was nun kommen wird. Er war zwar gefahrlos nach Hause gekommen in der Nacht, aber er meinte dennoch, daß die kommenden Nächte doch wohl sehr unruhig werden könnten. Auf jeden Fall würde er nicht ohne seinen Gummiknüppel unterwegs sein, aber das beruhigte meine Mutter keineswegs.

Nach diesem Tag, veränderte sich fast schlagartig das gesamte Leben in Deutschland. Auch wir Kinder in der Schule wurden davon betroffen und wir konnten das Neue unmittelbar erleben schon bei unseren Lehrern, die sich auch fast alle über Nacht verändert hatten und die nun ihre Zugehörigkeit zum rechten Lager deutlich und ganz offen darstellen konnten. Es gab zwar einige, die sehr bedrückt wirkten, aber die anderen, und das war die Mehrheit im Kollegium befanden sich in einer überschäumenden Jubelstimmung. Ob sie nun Nazis, Deutschnationale oder Stahlhelmer waren, sie alle redeten mit hochroten Köpfen über das Geschehene und über die jetzt endlich beginnende Erneuerung Deutschlands, den nationalen Wiederaufstieg. Es wurde auch darüber geredet, daß es nun bald ein Ende haben wird mit dem unseligen Schandvertrag von Versailles und daß Deutschland die geraubten Gebiete wieder zurück bekommen wird. Dabei dachte der Rektor an seine alte Heimat, an Westpreußen, aus dem die Polen ihn und viele andere Deutsche vertrieben hatten. Dieser Teil des Kollegiums trug nun auch offen die Abzeichen an den Reversen und Blusen, an denen zu erkennen war, welchem Teil des rechten Lagers sie zugehörten. Für uns war aber auch deutlich erkennbar, wie z. B. Frl. Fahrenholz und Herr Torborg von den Rechten geschnitten wurden, die sich abseits hielten und gar nicht froh aussahen.

Wir, die Kinder von roten Eltern, sollten in den kommenden Tagen dann auch die besondere Fürsorge der nationalen Lehrkräfte erfahren, besonders die Schüler in den zwei oberen Klassen, die doch immer so renitent gewesen waren gegen diese "guten Lehrkräfte". Dieser neue nationale Geist, der nun Einzug gehalten habe, wurde uns nun sehr deutlich gemacht. Jetzt würde man uns eine andere Gesinnung beibringen, jetzt würde Schluß sein mit dem sozialistischen Gedankengut, jetzt würde eine nationale Erziehung in den Schulen Einzug halten, jetzt nach der Machtergreifung.

lo