> Werner Mork: Pfadfinder und Hitler-Jugend 1933

Werner Mork: Pfadfinder und Hitler-Jugend 1933

Dieser Eintrag stammt von Werner Mork (*1921 ) aus Kronach , Juli 2004 :

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 hatten wir uns noch mit den "Roten Falken" eine Zeit lang heimlich getroffen. Kurz danach wurde dann der Boden auch für uns zu heiß. Es wurde die heimliche Parole ausgegeben, daß ein jeder von sich aus versuchen sollte, in einer der noch nicht verbotenen Jungendorganisationen Mitglied zu werden. Ausersehen wurde von uns dafür unser alter "Gegner", die Bündische Jugend, die Organisation der Pfadfinder, die ihr Stammlager in unmittelbarer Nähe unseres ehemaligen SAJ-Heims in der Lindenstraße hatten.

Es gab keine Schwierigkeiten. Wieso das so reibungslos klappte mit der Aufnahme, ist mir nicht in Erinnerung, aber wir wurden nun "Pfaffis", wenn auch vorerst mit einer etwas eingeschränkten Art von Mitgliedschaft. Anstatt des grauen Hemdes trugen wir ein weißes Hemd. Wir, die Neuen, mußten uns erst bewähren, bevor wir die Ehre haben würden, das graue Pfaffi-Hemd zu tragen. Nur dazu kamen wir nicht mehr: unser Vergnügen, bei den bürgerlichen Pfadfindern zu sein, war nicht von langer Dauer. Schon bald wurden die Pfadfinder im gesamten Reich "gleichgeschaltet", sie wurden samt und sonders in die HJ überführt. Das war die erste Jugendorganisation, die aber sehr freiwillig diesen Weg ging. Es hatte dazu keinen Zwang seitens der Reichsjugendführung der HJ gegeben. Die Bundesführung der Pfadfinder selber hatte sich dazu entschlossen. Das entsprach den Zeichen der neuen Zeit, der neuen deutschen Einigkeit und Einheit, so meinte es die Bundesführung. Die deutsche Jugend sollte das Vorbild sein für diese neue Einheit. Aus ihr sollte eine Zukunft wachsen, die keine Trennungen mehr kennen würde.

Tja, so wurde ich, wie auch die anderen alten Gesinnungsgenossen, förmlich über Nacht ein Mitglied der HJ, so wurde es uns jedenfalls gesagt. Wir mußten annehmen, daß das stimmen würde, auch wenn wir doch noch nicht "richtige Mitglieder" bei den Pfaffis waren. Somit hatten wir schon unsere Zweifel und fühlten uns eigentlich nicht betroffen von dieser Gleichschaltung. Förmlich überrumpelt wurden wir dann aber, als es hieß, auch die Pfaffis müßten an dem an Pfingsten 1933 in Bremen stattfindenden HJ-Gebietstreffen des Gebiets "Nordsee" teilnehmen. Laut Anordnung vom HJ-Gebietsführer Lühr Hogrefe müßten alle bereits gleichgeschalteten Organisationen daran teilnehmen. Gemeinsam mit der Hitlerjugend sollten sie dann vorbeimarschieren an dem Reichsjugendführer Baldur von Schirach, der nach Abschluß einer Groß-Kundgebung den Vorbeimarsch abnehmen würde zusammen mit vielen Größen der Partei, in Bremen vor dem Postamt Domsheide.

Der Ex-Stammführer von der Borch übermittelte uns diese Anordnung, die ein Befehl sei, dem wir alle nachzukommen hätten. Mitgefahren mit den übrigen Pfaffis bin auch ich, gemeinsam mit meinem Freund Helmut. In Bremen angekommen, haben wir uns dann verdrückt und uns die Stadt angesehen, wobei wir auch die Böttcherstraße besucht haben, von der wir schon einiges gehört hatten. Wir trugen unsere weißen Hemden, fielen damit aber nicht sonderlich auf. Nach unserem Bummel gingen wir dann zur Domsheide, um uns zumindest den Vorbeimarsch anzusehen, an dessen Teilnahme wir uns erfolgreich gedrückt hatten. Ansehen wollten wir uns diesen "Umzug" schon, da waren wir neugierig. Wir postierten uns gegenüber dem Postamt, auf dem Platz vor der "Glocke", und warteten auf die Dinge, die da kommen bzw. marschieren sollten. Was wir dann zu sehen bekamen, beeindruckte uns schon sehr. Diese in bester Ordnung marschierenden Kolonnen, die große Begeisterung der Jungens und Mädels, die Zackigkeit dieser jungen Menschen und die vielen Fahnen, die von stolzen Fahnenträgern dieser Jugend beim Vorbeimarsch getragen wurden. Aber auch der in einem PKW vor dem Postamt stehende und sehr sympathisch wirkende Reichsjugendführer Baldur von Schirach machte auf uns einen großen Eindruck, wie auch die anwesenden Führer der Hitlerjugend, die Führerinnen des BDM und die Größen von Partei und ihren Gliederungen.

Das alles wirkte auf uns so, daß diese Eindrücke uns schon sehr zu denken gaben, die uns auch positiv beeinflußten. Ziemlich bedrückt vom Erlebten fuhren wir dann mit der Bahn wieder zurück und belastet mit der Ungewißheit, was denn nun mit uns weiterhin geschehen würde. Mit den "Roten Falken" war es jedenfalls aus und vorbei: Das war uns nun völlig klar, zu unserem großen Leidwesen. Müßten wir nun mit mitmachen in der Hitlerjugend, zu der wir doch überhaupt kein Verhältnis hatten außer unserer unguten Spannung aus der jüngsten Vergangenheit? Wir waren voller Zweifel, meinten aber, daß wir uns umgehend etwas anderes suchen sollten, weil wir nicht von der HJ vereinnahmt werden wollten. Daß das ein Irrtum war, sollten wir sehr schnell erkennen müssen. Wir kümmerten uns nicht mehr um den bei den Pfaffis nun angesetzten Dienst. Wir machten einfach nicht mit und es passierte uns deswegen nichts. Noch gab es keinen Zwang, noch war das alles freiwillig. Weil wir ja auch nicht als ordentliches Mitglied bei den Pfaffis geführt worden waren, würden wir uns vor der Überweisung in die HJ auch wohl drücken können, obwohl wir schon an dem Gebietstreffen in Bremen hatten teilnehmen sollen, aber uns mit Erfolg doch da schon gedrückt hatten. Über uns würde es ja auch keine Unterlagen bei den Pfaffis geben, weil wir doch eigentlich noch gar nicht richtig aufgenommen waren, so dachten wir jedenfalls in unserer kindlichen Naivität. Die HJ könne somit über uns nichts wissen, sie hätte von unserer Existenz keine Kenntnis. Aber tun wollten wir schon etwas, um doch irgendwie zusammen zu bleiben, jetzt erst recht.

Die nur noch wenigen Ex-Roten-Falken wollten nun anderweitig einen Unterschlupf finden, zumindest für die Zeit, in der die Nazis noch am Ruder sind, was sicher nicht für alle Zeiten der Fall sein könne. Auch ein Irrtum, ein sehr gravierender sogar. Wir bekamen den Tipp, uns bei der "Evangelischen Jugend" als Mitglied einschreiben zu lassen. Diese Organisation hatte ihr Domizil im neuen evangelischen Gemeindehaus in Hammersbeck, wo die neue Kirche der Gemeinde erbaut worden war. Die Gruppe stand unter der Leitung von Pastor Otten, der uns nicht unbekannt war. Aber auch wir, diese roten Bengels waren ihm nicht unbekannt. Der Herr Pastor war aber dennoch sichtlich erfreut, daß da so etliche rote Jungens in seinem Verein Mitglied werden wollten und er nahm uns auf. Uns, die wir kurz zuvor noch als gottlos gegolten hatten! Aber es würde ihm schon gelingen, aus uns nun doch noch gottesfürchtige Jungens zu machen, dachte der Herr Pastor!

Wir brauchten in dem Verein nicht zu warten: Wir waren sofort Mitglieder geworden, wir durften auch sofort das "grüne Hemd" dieser Organisation tragen, dazu das violette Halstuch.

Jetzt waren wir "gute, evangelische Jungens", wir tummelten uns in diesen kirchlichen "Jung-Heerscharen", wir beteten auch ganz brav mit und fanden eigentlich das alles als gar nicht so übel. Wir meinten, es beim Pastor Otten aushalten zu können und daß wir wieder die "Alten" sein könnten, bis wir wieder Rote Falken sind. Hinzu kam, daß wir Jungens uns in dieser Gruppe doch schon von der Schule her kannten. Und wir Falken hatten mit den "alten" Mitgliedern dieser Gruppe ja auch nie Zoff gehabt, mit denen hatten wir uns immer gut vertragen. Hier gab es keine ideologischen Probleme, nur die etwas starke Frömmelei war uns schon mal auf den Wecker gegangen. Die mußten wir jetzt aber mitmachen und das fiel uns so schwer nicht - so gottlos waren wir nun doch (noch) nicht.

Aber wir hatten unsere Rechnung ohne die deutsche Gründlichkeit gemacht, wir hatten falsch gedacht. Die neue Freude, nun bei den Evangelischen gut untergekommen zu sein, war sehr schnell wieder zu Ende. Nicht wegen einer Gleichschaltung, die bei denen erst später erfolgte, sondern wegen der Suche der HJ nach ihren fehlenden Mitgliedern. Ihr fehlten die Ex-Falken, die bei den Pfaffis also doch registriert und als "Bestand" gemeldet worden waren. Wir existierten entgegen unserer Meinung also doch in der HJ. Wir waren namentlich gemeldet worden und bei Nachprüfung der Unterlagen stellte die HJ in Vegesack fest, daß etliche Jünglinge fehlten, die sich auch bisher nicht zum Dienst eingefunden hatten. Bei den dann angestellten Recherchen wurde festgestellt, daß diese "Fehlenden" untergetaucht waren bei der Evangelischen Jugend des Herrn Pastor Otten. Wir waren als bei den Pfaffis registrierte Jungens, vom Stammführer "weitergereicht" worden an die HJ, ganz ordnungsgemäß mit den Unterlagen des Stamms.

Pastor Otten wurde nun aufgefordert, die ihm nicht zustehenden Jungens wieder aus seinem Club zu entfernen und diese sofort der HJ zu überstellen. Die Liste mit den Namen der Abtrünnigen wurde ihm übergeben und er mußte nun das tun, was von ihm verlangt worden war, er konnte sich nicht verweigern. Wir wurden aus seinem Verein entlassen, was uns zwar nicht gefiel, aber auch wir hatten uns zu fügen, so dachten wir jedenfalls und nicht an Widerstand oder Verweigerung.

Wir, die so unbotmäßigen Jungens, erhielten die Order, uns umgehend bei der HJ in Vegesack zu melden mit der Maßgabe, daß wir ab sofort teilzunehmen hätten an den Dienst-Abenden auf dem Schulhof der Vegesacker Volksschule. In der Schule hatte die HJ auch einen Klassenraum zur Verfügung, in dem dann der so genannte Innendienst abgehalten wurde. Der Dienst am Abend und nicht am Tage, lag daran, daß die Mitglieder der HJ über 14 Jahre alt waren und sich zusammensetzten aus schon berufstätigen Lehrlingen, aber auch aus ungelernten Hilfskräften, die erst abends "Dienst" machen konnten. Hinzu kamen aber auch die "höheren Schüler" ab dem 14.Lebensjahr. Mit unserem Knabenalter gehörten wir ja nun eigentlich nicht in die HJ, sondern zum Deutschen Jungvolk, in dem die 10-14 Jahre alten Knaben "ihren Dienst" machten. Aber wir waren erst einmal vereinnahmt und tummelten uns bei der HJ. Und auch wir machten nun den vorgeschriebenen Dienst, ob uns der nun paßte oder nicht. Wir waren angekommen in der HJ und das schon im Jahre 1933, zwar gegen unseren eigenen Willen, aber wir waren bei unseren bisherigen Gegnern Mitglieder geworden, wir, die einstigen "Roten Falken."

Dagegen anzugehen war uns nicht möglich, weil wir als ordnungsgemäße Mitglieder der Bündischen Jugend an die HJ überstellt worden waren. Uns hatte zwar keiner gefragt, aber was sollten wir denn dagegen tun? Gut, wir hätten in der Zeit noch unseren Austritt, jetzt aus der HJ, erklären können, aber das würde Probleme geben, nicht nur für uns, auch für unsere Eltern, die ja die Austrittserklärung hätten unterschreiben müssen. Es war vorauszusehen, daß dann nicht nur wir Ärger bekommen würden, sondern unsere Eltern noch viel mehr an Ärger und möglichen Unannehmlichkeiten. Zwar waren unsere Eltern auch überrascht, daß wir so plötzlich in der HJ gelandet waren, ohne eigenes Dazutun. Aber dann meinten die meisten der Eltern, daß es doch wohl ganz gut sei, jetzt in der HJ mitzumachen. So schlecht sei das doch gar nicht: Diese Jungens machten doch einen sehr manierlichen Eindruck, verhielten sich viel anständiger als man zuerst angenommen habe und es seien doch auch viele Jungens der guten Bürger von Vegesack und Umgebung dabei. So würde sich der eigene Sohn doch in wirklich guter und bester Gesellschaft befinden.

Tja, so meinten die Eltern, die noch vor nicht allzu langer Zeit mit den "Braunen" nichts im Sinn hatten. Und ganz ehrlich: Wir selber, auch ich, kamen zu der Meinung, daß die HJ doch gar nicht so schlecht ist und das es Spaß machen wird mitzumachen. Dabei wirkte in uns auch das Gebietstreffen in Bremen doch sehr nachhaltig nach. Was wir dort gesehen hatten, hatte einen starken Eindruck hinterlassen, wir hatten eine sehr veränderte Einstellung bekommen, auch wenn wir uns zuerst noch dagegen innerlich und äußerlich wehrten. Aber die in tadelloser Ordnung auftretenden Hitlerjungens und BDM-Mädels hatten uns doch fasziniert. Wir, die wir noch dagegen waren, waren sehr beeindruckt von der Disziplin mit der sich alles abspielte und auch von der erkennbaren Verbundenheit der Führer, vor allem des Reichsjugendführers mit den Jungens und Mädels, die da so strahlend an ihm vorbeizogen in großartig wirkenden Marschblöcken. So sahen wir das an dem Tag und das nicht ohne eine gewisse Sympathie für dieses uns noch unbekannte Bild einer stürmischen Begeisterung, das wir so noch nie gesehen hatten. Das war wirklich etwas völlig Neues. Und wir, die "Roten", fingen an, nicht nur alles mit anderen Augen zu sehen, sondern uns selber auch zu verändern, eine andere Einstellung zu bekommen. Mit der Folge, daß wir auf unsere kindliche Art Frieden machten mit denen, die noch kurz vorher unsere Gegner gewesen waren. Und beide, die und wir, waren uns damals immer mit viel Hass begegnet, ein oftmals sehr fanatischer Hass auf beiden Seiten. Bei dem aber wir nicht etwa nur die unschuldigen Opfer waren, sondern bei dem wir selber auch immer tüchtig und sogar gewalttätig "ausgeteilt" hatten, mit Worten und mit Taten, wobei auch bei den "anderen" Blut floss und die Prügeleien bei den "Braunen", wie bei den "Roten" oftmals Wunden zur Folge hatten, die mehr waren als nur Schrammen.

     

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