> Werner Viehs: Evakuierung über die Ostsee 1945

Werner Viehs: Evakuierung über die Ostsee 1945

Dieser Eintrag von Werner Viehs (*1924) aus Bad Homburg (werner@viehs.de) von März 2011 stammt aus dem: Biografie-Wettbewerb Was für ein Leben! Der Text ist ein Auszug aus dem Buch: "Mein Jahrhundert"

Bei Kämpfen mit der Roten Armee bin ich am 4. April 1945 schwer verwundet worden. In einem Lazarett-Zug komme ich zwei Tage später im Hafen von Pillau an. Ich stehe noch unter Einwirkung der Operation und Narkose. Wir, die Verwundeten, liegen auf Tragbahren an der Pier in Pillau. Ich nehme vieles nur im Halb-Schlaf wahr. Der Aufenthalt außerhalb des Schiffes ist nur kurz. Hier ist Frontbereich. Seit einer Woche ist der Russe gegenüber in Gotenhafen und Danzig. Bis vor wenigen Tagen konnte der Brückenkopf Oxhöfter Kämpe noch gehalten werden. Nur von Pillau und jetzt bevorzugt von der Halbinsel Hela, dem kleinen Fischerort, gehen die Schiffe nach Westen. Der Russe beharkt uns vom Festland und aus der Luft. Es detoniert in meiner Nähe. Meist schlafe ich und kriege nicht viel davon mit.

Unser Einschiffen erfolgte am 8. April auf die "Albert Jensen", einen Transporter für Schütt- und Frachtgüter. Die Bunker-Ladefläche ist mit Stroh ausgelegt. Wir liegen dicht in Reihen nebeneinander. Die Ladeluke ist ca. 6 bis 7 Meter über uns. Zugang ist über eine seitliche Steg-Treppe oder lose Leitern. "Das ist ein geschlossener Sarg!"

Einige Sanitäter kümmern sich um uns. Es gibt zeitweilig auch etwas zu essen. Für das 'kleine Geschäft' habe ich eine alte Konservendose. Ein Geleitzug soll zusammengestellt werden. Die Schiffe formieren sich auf Reede. Unser Schiff wird belegt. Knapp 300-400 Verwundete sind da. Fliegeralarm! Bomben! Erschütterung! Wir sind getroffen! Wassereinbruch. Leichte Schlagseite, .... kentern ? Schreie, Schüsse, Selbstmord? In der ersten halben Stunde herrscht Chaos. Die Leichtverwundeten sind fluchtartig draußen. Keiner kümmert sich um uns, die Schwerverwundeten. Die Schräglage des Schiffes ist am eingelaufenen Wasser erkennbar. Unser Schiff schwimmt ja noch! Notdurft mach ich neben mich. Ich verstehe es heute besser, (exakt wörtlich), wenn man die Hosen voll hat. Das passiert auch Helden! Keine Hilfe. Ich kann wieder beten. "Ich bin im Sarg!"

Die Schräglage nimmt zu. Wasser läuft nach. Ich liege in der Mitte und krieche zum oberen Rand. In meinem Bereich sind noch ca. 100 hilflose Schwer-Verwundete. Nach paar Stunden zeigt sich oben am Luk ein Sani der beruhigt und Hilfe verspricht: "Wir sind noch schwimmfähig". Ob man uns etwas vormacht? Ob es wahr ist? Wir haben keine Übersicht zu den Auswirkungen des Bombentreffers. Hilfe kommt nicht. Brandgeruch und Schräglage verstärken sich. Fast 24 Stunden halte ich es aus.

In jeder Minute erwartete ich etwas Entscheidendes: Hilfe oder Untergang. Jede Minute war eine Ewigkeit. Dann wage ich es, über die ca. 6-Meter-Leiter auszusteigen. Beide Arme sind verbunden. Streifschuss und Stecksplitter. Das linke Bein hat einen schweren, mit Gips verkleisterten Verband. Ein faustgroßes Loch reicht fast bis zum Knochen. Die vielen kleinen Pflaster an den Beinen zählen nicht. Mit dem rechten Bein erfolgt ein Sprossenspringen und Hochziehen über ca. 6 Meter. Erschöpft komme ich oben an. Ich rufe ein nahe liegendes Boot an, lasse mich ins Wasser fallen, schwimmen bei schockartigen, niedrigen Wasser-Temperaturen. Ich werde sofort heraus gezogen. Gott sei Dank.

Mit einer flachen Fährpräme werde ich dicht an Land, an den Minenfeldern und Russen vorbei, nach Hela gebracht. Im versumpften Oder-Delta schirmte uns der Deutsche Brückenkopf ab. Pillau fiel am 24. April 1945. Hela und das Oder-Delta werden bis zum Waffen-Stillstand am 09. Mai 1945 gehalten. Ihnen verdanke ich und weitere 450.000 Flüchtlinge, Verwundete und Soldaten, dass wir im April und Mai 1945 noch heraus gekommen sind. Danke!

Am 10. April 1945 komme ich in Hela auf ein Lazarettschiff kleinerer Größe. Ich liege auf dem Kabinenboden zwischen zwei Deutsch-Russen von einem Freiwilligen-Corps. Einer hieß Alex. Wir rauchten eine gemeinsame "Machorka". Mein Verband stinkt. Es ist noch mein Erst-Verband vom 5. April. Die Läuse jucken darunter. Ich könnte den Verband zerschlagen. Draußen spielt der Russe verrückt. Flieger-Angriffe. In der Nähe fallen Fliegerbomben. Immer wieder fliegt der Russe in neuen Wellen an. Er hört nicht mehr auf.

Die "Moltkefels" und das kleine Lazarettschiff "Posen" sind getroffen. Die Treffer hinterließen ein Blutbad. Auf der "Moltkefels" gingen von 4.500 Menschen ca. 1.000 unter. Der Schwere Artillerieträger "Soemba" rettete von der "Posen" noch ca. 250 Verwundete. Das Schiff nahm die restlichen Hilflosen mit in die Tiefe. Mein Schiff, die "Albert Jensen" hatte sich vor zwei Tagen für seinen Untergang mehr Zeit gelassen. Nur Zufälligkeiten bestimmen über Leben und Tod.

Wir warten auf das Geleit. Zwischendurch zusammenrücken, es kommen noch mehr an Bord. Dann geht es ab in Richtung Westen. Raus aus dem Kessel. Am 15./16. April 1945 U-Boot-Alarm! Jetzt bin ich der Gejagte. Wir sind zwischen Hela und Rügenwalde (Pommern). Das kann nicht viel werden. Ich schätzte die Russen noch ein, wie es vor Ende 1944 war. Da war die russische Marine im höchsten Nordosten der Ostsee eingepfercht und verkrochen. Wir beherrschten die Ostsee. Von der 'Wilhelm Gustloff' wusste ich nichts. Seit Ende 1944 kamen die russischen U-Boote bis in die entlegensten deutschen Hafenbuchten. Sie lagen jetzt entlang der deutschen Küste auf der Lauer und warteten auf uns. Es war anders geworden. Ich schätzte die Gefahr anders und falsch ein. Das beschlagnahmte norwegische Frachtschiff "Goya" wurde vor Rixhöft durch das russische U-Boot "L 3" torpediert. 5.220 (andere Informationen nennen 7000) Tote. Es war eine der größten Katastrophen.

Am 17. April 1945 Fliegeralarm. Die Flak der Nachbarschiffe schießt. Wir sind ein Lazarettschiff! Wir schießen nicht. Oder doch? Es hört sich so nah an. Wer wird im Geleitzug getroffen? Wir erfahren nichts. Nach ca. 2½ Tagen Seefahrt kommen wir am 18. April durch bis Stralsund. 450 km auf See. Davon mindestens 400 km in großer Gefahr. Der Konvoi hatte die See-Route gewählt. Der Russe hatte die gesamte Küste besetzt bis Swinemünde. Hinter dem dänischen Bornholm nahmen wir Land-Kurs: Stralsund. Erst im Schatten von Rügen können wir auf den letzten 50 km aufatmen. In Stralsund Unterbringung im Hilfslazarett (Kloster). Verbandswechsel nach 2 Wochen, Eiter, Läuse, ich stinke.

Am 20. April, auf Hitlers- Geburtstag erhalte ich in Stralsund das Verwundeten-Abzeichen verliehen. Der Dank des Vaterlandes ist dir gewiss!!! Ich danke nur der Marine, die mich bis hier brachte!!! … und nicht diesen Schwätzern, die nicht aussterben wollen. Wir glauben nicht mehr an den Endsieg. Der Russe ist knapp 100 km entfernt. In einem Lazarettzug verließ ich Rügen Richtung Westen.


  • Werner Viehs: Untergang der "Cap Arcona" und Kriegsende 1945
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