> Wolfgang Herchner: Luftwaffenhelfer

Wolfgang Herchner: Luftwaffenhelfer

Dieser Eintrag stammt von Wolfgang Herchner (*1928) aus Hamburg, Juli 2002:

Die elften Klassen wurden am 4. Januar 1944 zur Luftabwehr, oder Flak (Flug-Abwehr-Kanone) wie man damals sagte, eingezogen. In der Aula wurden wir vom Direktor verabschiedet. Bedingungsloser Gehorsam dem Führer und absolute Pflichterfüllung dem Vaterland gegenüber, Soldatenehre, Mut und Kampfbereitschaft des jungen deutschen Helden wurden beschworen. Diese Art der Glorifizierung sagte uns nicht Neues, wir waren damit aufgewachsen. Wir Kinder, damals 15jährig, sollten nach dem Willen Hitlers die Flaksoldaten ersetzen, das heißt, sie für den Fronteinsatz freimachen.

Im Gleichschritt, von einigen besorgt dreinblickenden Müttern begleitet, ging es über drei Kilometer in die Luftwaffenkaserne in Hamburg-Sülldorf, dem heutigen Krankenhaus Rissen. Die Mütter mußten draußen bleiben, uns scheuchte man im Laufschritt in die Bekleidungskammer. Der "Kleiderbulle", ein alter Obergefreiter, murmelte etwas von "Kindergarten und dann mal los". Jeder bekam eine Wolldecke, mußte sie vor sich ausbreiten und dann flogen wie von Geisterhand Bekleidungsstücke und Gebrauchsgegenstände auf uns zu. Wildes Gefluche setzte ein, als einige von herumwirbelnden Stiefeln, Butterdosen oder Stahlhelmen getroffen wurden. "Und jetzt macht, daß ihr hier rauskommt", brüllte der Obergefreite. Wir stopften eilig in den Rucksack, was hineinging, der Rest wurde in der Decke zusammengerafft und als unförmiges Bündel vor dem Leib getragen. Auf dem eiskalten Kasernenflur mußten wir die Flakuniformen anziehen. Wir versuchten gegenseitig zu tauschen, denn die meisten Sachen paßten überhaupt nicht.

Es war inzwischen Spätnachmittag geworden, es war stockdunkel, keinerlei Beleuchtung wegen der Verdunkelung, Straßen und Wege vereist, wir hatten draußen minus 10 Grad. Der Haufen, der sich da Richtung Großbatterie Sülldorf in ca. drei Kilometer Entfernung in Marsch setzte, hatte mit einer Militäreinheit wenig zu tun. Eine vorne und hinten bepackte, orientalische Karawane hätte wahrscheinlich besser ausgesehen und sich disziplinierter verhalten. Stöhnend, schimpfend, hänselnd und lachend zogen wir durch die Dunkelheit mit allen möglichen Gegenständen scheppernd und klappernd. Der Unteroffizier, der uns befehligen sollte, hatte es aufgegeben, an diesem Haufen alberner Gören etwas ändern zu können und schien mit seinem Schicksal zu hadern.

Auf einmal passierte es, einer von uns hatte in seinen brandneuen Nagelstiefeln den Halt verloren und stürzte gegen seinen Vorder- und Nebenmann, die gleichsam zu Boden gingen und drei Wolldeckenbündel entleerten ihren umfangreichen Inhalt auf die Straße. Butterdosen gingen zu Bruch, Kochgeschirre wurden verbeult und Gasmaskenbehälter landeten im Straßengraben. Alles Gefluche half nichts, man mußte auf die Knie und die verstreuten Sachen wieder zusammensuchen. Von jetzt an lief man nur ganz vorsichtig, wie auf rohen Eiern. Der arme Unteroffizier murmelte noch etwas von Sabotage, mutwilliger Beschädigung von Heeresgut und dergleichen, was aber keine Besserung der Situation bewirkte.

Halb erfroren, total entnervt, hungrig und maßlos enttäuscht von dem ersten Tag bei der deutschen Luftwaffe erreichten wir unsere Flakstellung. Von Stolz und Heldenmut frisch gebackener Vaterlandsverteidiger, wie es der Herr Schuldirektor noch am Vormittag verkündet hatte, war nicht mehr viel zu merken.

lo