Dieter Lenzen
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
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Deutschland um 1900

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Die Bemerkung, daß früher die Welt noch in Ordnung gewesen sei, nötigt uns in der Regel nicht mehr ab als ein Kopfschütteln über den vermuteten Konservatismus dieser Aussage und ein mitleidiges Schulterzucken über den altersbedingten Erinnerungsoptimismus, den wir hinter einer solchen Einschätzung vermuten. Eine solche Überheblichkeit ist jedoch vollkommen unangebracht. Nimmt man ihn nämlich wörtlich und bezieht man ihn auf den Lebenslauf der Menschen, dann ist er sehr zutreffend. Der Lebenslauf der Menschen in der traditionellen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, weit hineinreichend in das zwanzigste, war geordnet. In manchen eher ländlichen Regionen Nord- und Westeuropas haben sich beträchtliche Bestände dieser Ordnung erhalten, für Südeuropa gilt dieses in besonderer Weise und, was die Zukunft für die Gestaltung des Lebenslaufs der Menschen in Osteuropa, aber auch in Ostdeutschland bringen wird, gehört zu den anthropologisch interessantesten und politisch wichtigsten Fragen an die nächsten Jahrzehnte.

Wenn von der Ordnung des Lebenslaufs die Rede ist, dann ist damit nicht die Ordnung der Besitzverhältnisse gemeint, die Ordnung politischer Herrschaft, die Ordnung der Moral oder diejenige von Wissenschaft und Kunst. Die Ordnung des Lebenslaufs ist eine Ordnung der Zeit. Es geht um die Regeln, um die Organisation des einen Lebens, das jedem Menschen gegeben ist. Dem, dem Freiheit und Selbstbestimmung wichtige Werte sind, sträubt sich bei dieser Fragestellung bereits der Widerstand. Soll uns die Freiheit genommen werden, unseren Lebenslauf so zu gestalten, wie es uns paßt? Das kann sicher nicht das Thema sein. Wenn wir indessen schwerwiegende soziale und individuelle Probleme und Desorientierungen der Gegenwart verstehen wollen, dann müssen wir uns vor Augen führen, wie sich die Verhältnisse durch eine Umorganisation der Zeit im Lebenslauf verändert haben.

Die Menschen haben sich schon sehr früh Gedanken darüber gemacht, ob ihr Lebenslauf eine gesetzmäßige Ordnung besitze. Die erste bekannte Periodisierung des Lebenslaufs datiert bereits von 600 v. Christus. Die Längen der idealtypischen Lebensphasen haben sich in der Geschichte häufig geändert. Der Zahl 7 kam dabei, wie im 90. Psalm, immer eine besondere Bedeutung zu. Oftmals wurde auch von sieben Lebensphasen unterschiedlicher Länge ausgegangen. Die Tatsache, daß es sich dabei um eine ungerade Zahl handelte, begünstigte die Vorstellung eines bestimmten Aufbaus des Lebenslaufs. Dieser Aufbau wurde im Bild der Lebenstreppe vorgestellt. Sie sah das Leben als einen Auf- und Abstieg, zwischen denen ein "Lebensgipfel" lag. Da in der Regel der Mann im Zentrum dieser Darstellungen stand, stellte denn auch der geschäftliche Erfolg im bürgerlichen Leben den Höhepunkt der Treppenstruktur dar. Diese Vorstellung enthält den christlichen Gedanken, daß das Leben durch die Aufgabe der Bewährung gekennzeichnet sei. Der Gedanke an den sicheren Tod wird in der Aufbauphase unterdrückt, um im absteigenden Flügel der Treppe im Mittelpunkt zu stehen, der sich am körperlichen Verfall orientiert. Mit diesen Vorstellungen von einem Lebenslauf können wir uns als Zeitgenossen der Leistungsgesellschaft noch recht gut orientieren. Sie sind denn auch nicht zufällig neuzeitliche Modelle für den Lebenslauf, die besonders im 19. Jahrhundert ein beliebtes Thema zahlloser Illustrationen waren. Dieser Strukturtyp ist aber bereits die Überlagerung einer älteren Lebenslaufvorstellung, die im Bilde des Rades, des Lebensrades, enthalten war. Die zentrale Eigenschaft dieser ältesten, von den christlichen Bewährungsvorstellungen noch nicht vollständig überlagerten Konzeption ist diese:

Das Leben beginnt an derselben Stelle, an der es endet, oder umgekehrt formuliert: es endet an derselben Stelle, an der es beginnt. Der Mensch wird aus dem Tod heraus in das Leben geboren und aus dem Leben heraus in den Tod zurückgebracht. Die organisierende Kategorie dieser zyklischen Lebenslaufvorstellung ist also die des Todes. Das Leben ist demnach ein zeitlich überschaubarer Ausstieg aus dem Kontinuum des Nichtlebens. Und ebenso sicher, wie die Menschen diesem Tod entstammen, führt der Lebenslauf sie dorthin wieder zurück. Die Unbegreiflichkeit, den Schrecken der Todestatsache begreiflich und tendenziell hinnehmbar zu machen, war wohl die zentrale Aufgabe jener zyklischen Lebenslaufvorstellung. Wir finden sie außerhalb Europas in zahlreichen Kulturen wieder, die Nirwana-Vorstellung im ostasiatischen Raum ist wohl die bekannteste.

Warum war nun aber die zyklische Lebenslaufvorstellung, das Bild des Rades, in besonderer Weise geeignet, die Menschen mit ihrer Todestatsache zu versöhnen? Diese Leistung läßt sich nur verstehen, wenn man berücksichtigt, daß die einzelnen Lebensphasen jenes Zyklus einige strikte Bedingungen erfüllten:
- Die Zahl und Art der Lebensphasen war eindeutig definiert.
- Die Abfolge der Lebensphasen gehorchte einer Ordnung, innerhalb derer es keine Umkehrbarkeit und keine Wiederholungen gab.
- Die Orientierung innerhalb des Lebenslaufes wurde den Menschen dadurch erleichtert, daß die Gemeinschaft Riten der Überführung, Transitionsriten, bereithielt, mit deren Hilfe den Menschen anschaulich gemacht wurde, in welcher Phase sie sich befanden.

Betrachtet man die Zahl der für die traditionelle Gesellschaft verbürgten Lebensphasen, dann muß man feststellen, daß diese wesentlich größer war, als wir es uns heute vorstellen können. Eine idealtypische Rekonstruktion erlaubt es uns, etwa folgende Phasen zu unterscheiden:
- Geburt
- frühe Kindheit
- Schulalter
- Lehrjahre/frühe Jugend
- Jugendalter
- Adoleszenz
- Ehe
- Zeugungsalter
- Schwangerschaft/werdende Vaterschaft
- mittleres Lebensalter/Elternschaft
- "empty nest" (das "leere" Elternhaus)
- Großelternschaft
- Tod.

Die Übersicht über diese Lebensphasen erscheint uns auf den ersten Blick nicht weiter überraschend. Kaum eine dieser Phasen hinterläßt den Eindruck, heute verlorengegangen zu sein. Die Differenz wird allerdings auffälliger, wenn wir uns vor Augen führen, daß die Struktur dieses Lebenszyklus wegen seiner Zyklizität einmal die beiden genannten Bedingungen der Unumkehrbarkeit und der Nichtwiederholbarkeit einzelner Lebensphasen erfüllte. Weil zum Beispiel außereheliche Sexualität und die damit verbundene mögliche Folge außerehelicher Elternschaft nicht positiv sanktioniert war, konnte es eine Umkehrung der Phasen Ehe - Zeugungsalter - Elternschaft nicht geben, und ebensowenig war an eine Wiederholung einzelner Lebensphasen zu denken, wie sie beispielsweise durch die Freigabe der Scheidungsmöglichkeit einer Ehe entstanden ist. Die Lebensphase der Ehe, der Elternschaft, aber auch anderer wie die mit der Ausbildung verbundenen können heute,

man denke nur an die Forderung nach lebenslangem Lernen, jederzeit wiederholt werden.

           
 
 
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