Rosmarie Beier
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
Deutsch-deutsche Befindlichkeiten -
Die Besucherbücher der Ausstellung "Lebensstationen in Deutschland" als Spiegel der mentalen Lage der Nation
  Link zur Homepage des DHM  
Teil 1 Teil 2 Teil 3
Teil 4 Teil 5 Teil 6

Katalog

Vorwort
Einführung

Deutschland um 1900

DDR
BRD


Aufsätze



Ausstellungsarchitektur



Besucherreaktionen

GWU


Virtueller Spaziergang



Ausstellungsgrundriss



Weitere Informationen


 

Aufriß

Elsa K. machte ihrem Unmut Luft: "Die Ossis müssen erst einmal das Leben im Kapitalismus lernen, die können ja nicht mal richtig arbeiten." Der sozialistische Konter folgte: "Seit die Grenzen offen sind, ist alles teuer, und die Drogen sind rübergekommen. Ich hätte lieber Honecker wieder anstatt Kohl." Stimmen aus Deutschland vier Jahre nach dem Mauerfall - der Ort des Schlagabtausches: das Deutsche Historische Museum im Zeughaus Unter den Linden. In den Gästebüchern der Ausstellung "Lebensstationen in Deutschland 1900 bis 1993" sagten die Besucher, was sie voneinander halten.
Diese Äußerungen sind ein Gradmesser für die deutsch-deutschen Befindlichkeiten im dritten Jahr nach der Wiedervereinigung. Die Gesamtzahl der während der zehnmonatigen Laufzeit der Ausstellung zusammengekommenen Besucheräußerungen beträgt rund 7500. Davon waren rund 80 Prozent auswertbar, so daß als Datenbasis etwa 6000 Besuchereinträge genutzt wurden. Die Auswertung erfolgte hier primär nach qualitativen Gesichtspunkten: Es wurden inhaltliche Schwerpunkte ermittelt, die die hauptsächlichen Meinungsströme und -richtungen wiedergeben. Den im folgenden dargestellten Schwerpunkten konnten rund drei Viertel der ausgewerteten Äußerungen zugeordnet werden:

- Retrospektive ostdeutscher Besucher auf die eigene Biographie in der DDR (Kap. 3)

- Schlagabtausch und Versöhnungsappelle zwischen Deutschen-Ost und -West (Kap. 4)

- Deutsch-deutsche Begegnungen als Begegnungen von Entfremdeten (Kap. 5)

- Ansichten zur Zukunft (Kap. 6)

Um die Entstehungsbedingungen der Besucheräußerungen transparent zu machen, sei jedoch zunächst mehr über die Ausstellung, ihre Fragestellungen und ihre Zielsetzung gesagt. (Kap. 1 u. 2)

1. Zur Ausstellung

Die Ausstellung "Lebensstationen in Deutschland 1900 bis 1993", gezeigt von März bis Dezember 1993 , unterschied sich in mehrfacher Hinsicht vom üblichen Spektrum historischer Ausstellungen, denn sie thematisierte nicht allein die Vergangenheit. Vielmehr standen auch Fragen und Probleme der deutsch-deutschen Gegenwart im Zentrum. In einem kulturhistorischen Rahmen stellte die Ausstellung dar, welche wichtigen Lebensabschnitte und -zäsuren in Deutschland zwischen 1900 und 1993 vorzufinden sind und wie sie sich mit den Veränderungen von Gesellschaft und Kultur gewandelt haben. Lebensstationen wurden dabei verstanden als individuell wie kollektiv wichtige Ereignisse, die einen Einschnitt in der Biographie darstellen und den Übergang von einem Lebensabschnitt in einen anderen markieren. Dazu zählen Taufe, Kommunion/Konfirmation und Heirat ebenso wie etwa die Mitgliedschaft in einer (staatlichen) Jugendorganisation, der Eintritt ins Berufsleben, die Absolvierung des Wehrdienstes oder der Übergang ins Rentenalter. Sind diese Einschnitte und Übergänge für den einzelnen oft von großer Wichtigkeit und Bedeutung, so sind sie aus gesellschaftlicher Perspektive selbstverständliche Routine, weil die Stationen, seien sie nun religiöser oder säkularer Natur, kollektiv geteilt werden. Thema der Ausstellung war also, wie sich die Struktur eines individuellen Lebens, seine Abschnitte und Einschnitte, mit dem gesellschaftlichen Wandel im 20. Jahrhundert auch verändert haben.

Nahezu die Hälfte der Ausstellung befaßte sich mit der unterschiedlichen Entwicklung der Lebensstationen in Deutschland-Ost und Deutschland-West nach 1945. Die Abteilungen "DDR" und "Bundesrepublik Deutschland" waren räumlich parallel zueinander konzipiert, und zwischen ihnen befand sich eine Mauer - eine begehbare allerdings. Von ihr aus konnten die Besucher zugleich auf beide "Deutschlands" blicken und sie unmittelbar vergleichen. Was sahen sie von dieser Brücke aus? Auf der einen, der DDR-Seite, gab es eine streng und geradlinig angelegte Ausstellungsarchitektur, die einen gelenkten Lebenslauf vorstellte, dessen einzelne Stationen sich gleichförmig reihten, während auf der anderen (bundesrepublikanischen) Seite die einzelnen Lebensstationen ein Labyrinth mit vielen Ein- und Ausgängen bildeten. Die Architektur visualisierte also mit den ihr eigenen Mitteln der Darstellung zwei diametral entgegengesetzte Lebenskonzeptionen: Das straff geregelte Leben von der Kinderkrippe bis zum "Feierabendheim" auf der einen Seite, auf der anderen das "ganz normale Chaos" ohne starre Abfolge und mit fließenden Übergängen. Verstärkt wurde der Kontrast zusätzlich durch die Farbgebung der Ausstellungsarchitektur: Ein zurückhaltendes Gelb auf der einen, leuchtende Buntstiftfarben auf der anderen Seite sollten die unterschiedlichen Erscheinungswelten verdeutlichen.

Die Besucherbücher, die sehr schnell zum nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil der Ausstellung avancierten, waren von uns an zentraler Stelle platziert worden, nämlich auf der bereits erwähnten Brücke mit Blick auf die Ausstellungsabschnitte "Deutsche Demokratische Republik" und "Bundesrepublik Deutschland". Unter der Überschrift "Und heute 1993?" war hier eine Situation in der Ausstellung geschaffen worden, die die Besucher aufforderte, sich nicht nur zum in der Ausstellung Gesehenen ins Verhältnis zu setzen, sondern darüber hinaus auch zur Situation in Deutschland nach der 'Wende'.

Was lag der Entscheidung für die Entgegensetzung der Lebensstationen in Ost und West zugrunde? Der Lebensweg, das waren in der DDR im allgemeinen feste Gleise. 80 Prozent der Säuglinge kamen in die Krippe, 98 Prozent der Kinder wurden schon mit der Einschulung "Junge Pioniere". Es folgte die FDJ, der rund drei Viertel aller Jugendlichen beitraten, und nach dem Einschnitt durch die Jugendweihe, an der 98 Prozent aller 14jährigen teilnahmen, der Betrieb. Er war oft das ganze Berufsleben lang derselbe, und er wurde zu einer Art Heimat. Ein Wechsel des Arbeitsplatzes galt als anrüchig; selbst für die Wissenschaftler an den Hochschulen waren befristete Stellen die Ausnahme. Während einer Psychotherapie-Tagung in Potsdam 1993 fiel folgerichtig das Wort von der "Verkrippung der DDR", und es bezog sich nicht nur auf die fast "flächendeckende" sozialistische Krippenerziehung der Kleinkinder. "Wir wurden ja immer ans Händchen genommen, das ganze Leben lang", sagte eine Ärztin aus dem Plenum.

Im Westen dagegen ist, so die Befunde der Sozialwissenschaften, die Bildungszeit offener und durch ungeplante Verlängerungen gekennzeichnet. Der Übergang ins Berufsleben ist wenig geregelt, und durch einen lockeren Zeitplan kommt es häufig zu einer Verzögerung dieser Statuspassage. Im Gegensatz hierzu unterlag die Verlängerung der Bildungszeit in der stärker reglementierten Gesellschaft der DDR (J. Zinnecker spricht hier vom "selektiven Moratorium") einem strikten Zeitplan, und der Übergang ins Arbeitssystem war hochgradig vorgeplant. Dementsprechend blieb in der durch einen "Modernisierungsrückstand" auch auf sozio-kulturellem Gebiet charakterisierten DDR wenig Raum für die Zeit der Jugend als eine Zeit von Reifungskrisen und Identitätssuche.

Während im Westen der Zeitpunkt der Gründung einer eigenen Familie zumeist hinausgeschoben wird (von 1975 bis 1987 stieg das durchschnittliche Heiratsalter der Männer von 25,3 auf 28 Jahre und das der Frauen von 22,7 auf 25,2 Jahre) und die gewonnene Zeit zur Erprobung von Partnerschaft(en) und Sexualität verwandt wird, fand im Osten die Ablösung von der Herkunftsfamilie durch die frühe Neugründung einer eigenen Familie statt; eine "Probephase" entfiel zumeist. 1981 lag das durchschnittliche Heiratsalter für Frauen bei 23 Jahren (1971 sogar bei 21 Jahren); nur wenige heirateten - anders als im Westen - jenseits der dreißig zum ersten Mal. Dementsprechend brachten die meisten Frauen ihre Kinder zwischen dem 20. und dem 25. Lebensjahr zur Welt. Danach war, in den Termini der Demographie, die "generative Phase" im allgemeinen abgeschlossen.

Der Übergang ins Erwachsenenalter und die Annäherung an den Status der eigenen Eltern vollzog sich in der DDR also sehr viel schneller und sehr viel häufiger als in der Bundesrepublik. Man sieht, die Lebenswege unterschieden sich in Ost und West hinsichtlich der Vorgaben, der Verbindlichkeit und der Steuerung durch überindividuelle Faktoren fundamental.

 
           
 
 
GO! Link zur Homepage des DHM Zurück Zurück zur Homepage Sitemap Gästebuch Nach Oben Zur nächsten Seite Vergrößern