Rosmarie Beier
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
Deutsch-deutsche Befindlichkeiten -
Die Besucherbücher der Ausstellung "Lebensstationen in Deutschland" als Spiegel der mentalen Lage der Nation
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Katalog

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4. Ost & West zwischen Schlagabtausch und Versöhnungsappellen

Die Besucherbücher liefern in einer Hinsicht Äußerungen, die sich aus anderen Formen der Datenerhebung kaum gewinnen lassen: In ihnen dokumentiert sich Streit in Form gegenseitiger Beschimpfungen. Äußerungen dieser Art finden sich - wenn man denn Vergleiche sucht - weder in den Graffiti und ähnlichen flüchtigen Parolen noch in offenen Befragungen und Gruppendiskussionen der empirischen Sozialforschung. Haben erstere Schlagwortcharakter und sind sie in der Regel monologisch konstruiert, so sind letztere versachlichten Diskursformen verpflichtet. So erstaunt es nicht, daß sozialwissenschaftliche Forschungen solch eine Heftigkeit der Ressentiments nicht zutage fördern, wie sie in den Besucherbüchern sichtbar wird.


"Im Westen fast nur Scheiße! entschuldigen Sie bitte die Wortwahl, aber was sein muß, muß sein. Baut die Mauer höher!", schreibt ein Besucher aus der ehemaligen DDR im Sommer 1993 in eines der Bücher. (1: 23.9.93) Ein anderer, offensichtlich aus dem Westen, setzt herausfordernd darunter: "Lang lebe das Grundgesetz!!" Ein dritter Besucher, nun wiederum aus der DDR, reagiert: "Wir Ossis sind das einzig wahre Deutsche Volk!" Darauf folgt, von wieder einem anderen Besucher (wohl aus dem Westen), die Bemerkung: "Ihr habt wohl ne Macke", und ein weiterer (auch aus dem Westen?) fügt hinzu: "Wir Deutschen sind die wahren Ossis" Eine Bürgerin aus dem Osten greift in die Fehde ein und bekundet: "Als ehem. DDR-Bürgerin distanziere ich mich von der o. g. Meinung ganz entschieden."


Beschimpfungen, Versuche, den anderen (östlichen) Deutschen zum Deutschen "2. Klasse" zu stempeln, sind kein Einzelfall. In einem Besucherbuch findet sich im Sommer 1993 der Eintrag: "Wir haben gewonnen! Ein BRDler!! (Wir wollen die Mauer wiederhaben, die DDR kostet viel zuviel!)". "WOHLSTANDSCHAUVINIST!" ergänzt in Großbuchstaben aufgebracht ein anderer Besucher, und ein dritter, vermutlich aus der ehemaligen DDR, fügt hinzu: "Ihr denkt wohl, Geld allein wäre genug!" Ein weiterer Besucher schaltet sich ein: "Die o.g. Bemerkung zeigt, wie wenig eine Vergangenheit und Bildung in einem freiheitlich-demokratischen Staat Vernunft oder Humanität garantiert. Schade um jeden Beweis derartigen Egoismus." (2: 26./27.7.93, m, Rheinland)


"Kohls Aussage 'KEINEM WIRD ES SCHLECHTER GEHEN' - das Gegenteil ist ja wohl jetzt nach drei Jahren 'Einheit' bewiesen!"


"Wenn Euch Ossis die 40 Jahre mit der Mauer so gut gefallen haben, könnt Ihr sie ja jetzt wieder aufbauen."


"Sie steht im Kopf."


"Natürlich ist es besser geworden, jedenfalls für uns 'Ossis', leider nicht für alle."


"Wenn man im Vergleich DDR - BRD nicht sehen kann, daß auf jeden Fall eine Besserung eingetreten ist, ist man 'wohl mit Blindheit geschlagen."


"Ein Blinder." (6: 12./13.10.93)


Versucht man, diese Schlagabtausche zu systematisieren, so stellt man fest, daß ein Cluster sich auf das Besser- oder Schlechtergehen bezieht: Werden in Erinnerung an die DDR die Arbeit für alle und das staatlich garantierte Auskommen hochgehalten, so lautet im Gegenzug der Vorwurf, es habe keine Freiheit gegeben (auf die andere, aus dem Osten, dann wieder gerne verzichten wollen). Sehen die einen mit dem Einzug westlicher Mentalität Raff- und Geldgier um sich greifen, so verweisen die anderen auf die beschränkten Konsummöglichkeiten in der alten DDR. An diesen deutsch-deutschen Schmähungen wird deutlich, daß fundamentale Orientierungsgrößen des Westens, nämlich Freiheit, individuelle Leistung und Konsummöglichkeiten, nach dem Fall der Mauer ihre Attraktivität für viele der neuen Bundesbürger offensichtlich eingebüßt haben. Vier Jahre nach der Wende werden die ehemaligen grundlegenden Orientierungsgrößen des Ostens, nämlich soziale Sicherheit, Kollektivität, beschränkte Märkte, wieder favorisiert.


Dies geht aber nicht einher mit einer vorwärtsschauenden Politik, also mit dem Versuch, die alten Orientierungen in der neuen Republik zu verwirklichen. Vielmehr lautet die Parole: Die Mauer muß wieder errichtet werden - ohne daß freilich gesehen wird, daß sie dann auch an der Ostgrenze der ehemaligen DDR errichtet werden müßte. Durchgängig wird in den Besucherbüchern das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland nicht in den Kontext des völligen Zusammenbruchs des Sozialismus eingebettet. In den Köpfen der Besucher dominiert die stillschweigende Annahme, daß der status quo in der DDR keine Veränderungen erfahren hätte, wäre die Mauer nicht gefallen. Zudem wird das Problem entweder als eines auf der Staatsebene oder als eines zwischen westlichen und östlichen Personentypen (und nicht zwischen Einzelpersonen) verhandelt.


Ein Besucher, der offenkundig beruflich in den neuen Bundesländern tätig ist, notiert: "Ein richtiger Schritt auf dem Weg zur Einheit wäre, auch in den neuen Bundesländern, die DDR endlich offen als das zu bezeichnen, was sie war: als eine totalitäre Unterdrückungsmaschine mit den gleichen Eigenschaften eines totalitären Staates wie die NS-Militärdiktatur. Die DDR als einen Staat zu bezeichnen, der im Interesse der Menschenrechte und der Freiheit genauso untergegangen ist wie der Hitler-Staat, und froh zu sein, daß es so und nicht anders gekommen ist. Dr. A. Heine, Denzungen (Baden), z.Zt. Halberstadt (Sachsen-Anhalt)."


"Auf diesen Geistesblitz können wir in Halberstadt gut verzichten! M. Müller, Halberstadt."

"Ein 'kluges Köpfchen', dieser Dr. A. Heine, die armen Halberstädter, die ihn ertragen müssen!"

"Wie kommt so ein 'Denkriese' zu einem akademischen Grad? Gekauft?" (12: 21.11.93)


Die Kommentare geben das gereizte Verhältnis zwischen den Deutschen-Ost und den Deutschen-West wieder. Ressentiments finden sich auf beiden Seiten der (ehemaligen) Mauer. Es sind weder die "Ossis" noch die "Wessis" allein, die attackieren. Von der jeweils anderen Seite herabgewürdigt, wehren sich viele durch die Identifikation mit dem abwertenden Terminus "Ossi" bzw. "Wessi". Zwar bricht kein Nationalitätenkonflikt aus, da die imaginäre Ost-West-Grenze keine zwischen Ethnien oder Nationen ist; was aber sichtbar wird, ist ein Konflikt zwischen zwei imaginären Staaten mit unterschiedlichen Wirtschafts- und Sozialregimen. Stolz zu sein, dem einen oder anderen zuzugehören, ist einerseits ein Ausdruck von Hilflosigkeit, bewegt man sich doch lediglich in einem imaginär anderen Staat, während man faktisch in ein und derselben Bundesrepublik Deutschland lebt. Andererseits ist der Stolz Ausdruck eines starren Beharrens auf Traditionen und verinnerlichten Normen und Wertvorstellungen, die zu verändern man nicht bereit ist. Beide Seiten sind verletzt, irritiert, begegnen der jeweils anderen mit Mißtrauen, Ressentiment, manchmal auch mit Haß. Daß diese vergiftete Stimmung in den Büchern im Laufe des Sommers noch zugenommen hat, ist auffällig. Man wird es damit erklären können, daß sich insgesamt die Stimmung in Deutschland im Herbst 1993 verschlechtert hat, so daß die Besucherbücher hier ein Spiegel der allgemeinen Verhältnisse sind.


Doch trotz aller verbalen Schmähungen äußern sich auch viele Besucher betroffen und mit großen inneren Bedenken zu dem Auseinanderfallen der deutschen Bevölkerung in "Ossis" und "Wessis". Warnungen vor dem Selbstabgrenzen, sei es auf östlicher, sei es auf westlicher Seite, werden wiederholt formuliert. "Die Bevölkerung spaltet sich selber in Ossis und Wessis!", lautet ein Eintrag im Juli 1993. (11: 22.7.93); und ein anderer Besucher schreibt: "Mich stimmt es traurig, daß wir untereinander so verhaßt über den 'Ossi' und den 'Wessi' reden. Beide Seiten haben sich zwar verschieden entwickelt, aber müßten doch nach der langen Sehnsucht des Zusammenseins besser miteinander umgehen". Unterzeichnet ist der Eintrag von einem "Mensch(en) mit Bauchschmerzen". (2: 13.7.93)


Bestürzung über den Haß zwischen Ost und West findet sich auch in diesem ausführlichen Bericht einer jungen Frau aus Westberlin: "Mir macht Deutschland Angst mit dem ganzen Ausländerhaß. Aber mir macht auch der Haß unter den Deutschen Angst. Freunde von mir lästern kräftig über Ossis, und es fällt mir schwer, sie davon abzubringen. Der Osten ist für sie halt doof und keiner will dorthin, weder ums mal anzusehen, so quasi als Tourist, oder um dort zu arbeiten und zu leben. Mein Freund hat Angst, in eine kleine Stadt hier im Umland zu ziehen, weil er meint, er müßte sich seine Haare abschneiden, ansonsten würde er von Rechtsradikalen zusammengeschlagen werden. In einer Ost-Berliner Kneipe hörte ich Ossis über Wessis lästern, einer wurde für einen Wessi gehalten und das war ihm furchtbar peinlich. So könnte ich seitenlang schreiben und bekräftigen, daß das wohl noch ne ganze Zeit dauern wird, bis wir Deutschen wieder zusammengewachsen sind.". (4: 27.7.93, w, Westdeutschland)


"Anna", Jg. 1969, wünscht sich: "Keine Mauer mehr im Herzen", und eine andere junge Frau blickt über die Differenzen zwischen den Deutschen hinaus und sieht sie im Zusammenhang mit Fremdenfeindlichkeit und -diskriminierung: "Zur Frage 'Und heute?' kann ich nur sagen, daß ich stark hoffe und annehme, daß sich die sogenannte(n) 'West- und Ostkultur(en)' so verwischen, daß man später die Begriffe 'Ossi' und 'Wessi' nicht mehr braucht. Es ist ein Land, und also sollte sich auch eine gemeinsame Kultur bilden. Es soll aber nicht nur DEUTSCH sein, da ich Rassendiskriminierung, besonders Ausländerdiskriminierung, total bescheuert finde. Am besten wäre eine gemischte Multikultur." (8: 11.6.93, Westdeutschland)


Solche Einträge, die für gegenseitiges Verstehen und Achten plädieren, finden sich immer wieder in den Besucherbüchern - ein Silberstreif am Horizont gegenseitiger Verachtung? Sie zeigen zumindest, daß Ressentiment und Abneigung nicht durchgängig vorhanden sind, daß viele, insbesondere junge Menschen bewußt ihre "Mitmenschlichkeit" dagegen setzen und dies auch in den Besucherbüchern bekunden.


"Wessi Jens" wartet mit einem Konzept zum Abbau der Differenzen auf. Miteinander reden, sich kennenlernen, das scheint ihm der richtige Weg zu sein: "Entgegen einer weitverbreiteten Meinung wissen die BürgerInnen der (Ex-) DDR mehr von der/über die Bundesrepublik bis 89 als umgekehrt. Die Ignoranz und Unwissenheit der 'Westler' (was haben die schon an dem einen Tag Ostberlin beim 'Verkloppen' des Zwangsumtausches mitbekommen?) bleibt ein großes Problem. Der weitaus größere Teil unserer (Staats-)Bürgerinnen, nämlich die ca. 60 Mio. WestlerInnen, hat sich die DDR nicht eingemeindet, hat sie nicht einverleibt, denn er kennt sie nicht." (7: 18.6.93, m, Westdeutschland)


Hier wird der Wunsch formuliert zu erleben, daß, die Ostdeutschen sich öffnen, sich äußern und sich nicht immer nur anpassen. Zwei Phänomene stechen bei dieser wie bei einigen ähnlichen Äußerungen hervor: Die Auflösung des "Ossi-Wessi-Schemas" ist in stärkerem Maße ein Anliegen der "Wessis". Wenn zweitens in der Konfrontation immer das Kollektiv im Vordergrund steht, es immer alle "Ossis" bzw. alle "Wessis" trifft, so erscheint die Versöhnung, der Ausgleich, das Verwischen der Differenzen einzig über den Weg der individuellen Begegnung möglich. Es ist das Einzelgespräch, der individuelle Kontakt, der zur Beendigung der Vorurteile führen soll. So ist auch die Opposition zwischen Verachtung aus dem Kollektiv heraus und Anerkennung aus dem individuellen Kontakt heraus eines der herausragenden Merkmale in der Auseinandersetzung über das "Ossi-Wessi-Schema". Wenngleich solche Äußerungen nur von einer Minderheit der Besucher getroffen werden, sind sie doch insofern ein Fingerzeig, als über ein echtes menschliches Interesse am anderen ein Weg in die vereinte Zukunft gesehen wird.

 

 
           
 
 
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