Hans Bertram
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
Die Familie in den alten und neuen Bundesländern
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Deutschland um 1900

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Die stille Revolution und die Veränderung der Lebensformen

Die Vereinigten Staaten, Westeuropa und damit auch die Bundesrepublik haben in den letzten zwanzig Jahren einen Wandel von Werten und Lebensformen erlebt, der die aus den fünfziger Jahren herrührenden Lebensmuster und -entwürfe von Jugendlichen, Männern und Frauen in Frage gestellt und teilweise tiefgreifend verändert hat. Die Fakten sind bekannt. So ist das durchschnittliche Heiratsalter von 1975 bis 1987 bei Männern von 25,3 auf fast 28 Jahre und bei Frauen von 22,7 auf über 25 Jahre angestiegen. Dabei verdecken diese Durchschnittsangaben, daß in bestimmten Gruppen, etwa bei den Höhergebildeten, das Heiratsalter inzwischen bei dreißig Jahren und höher liegt. Die Geburtenrate liegt in der Bundesrepublik bei circa zehn Geburten auf tausend Einwohner, und der Anteil derjenigen, die auf Dauer ledig bleiben wollen, hat sich in allen Altersgruppen drastisch erhöht. Steigende Scheidungsziffern und zunehmend kleinere Familien runden dieses Bild des Rückzugs der Familie als Lebensform ab. Zwar wird über die Ursachen dieser Veränderungen heftig gestritten, doch gibt es bestimmte Fakten, die sich eindeutig als mitverursachend identifizieren lassen.

Die Bildungsreform der siebziger Jahre hat dazu geführt, daß ein stetig steigender Prozentsatz von jungen Frauen und Männern hochqualifizierte Ausbildungsgänge durchläuft. Dies erfordert eine Entscheidung, entweder diese langen Ausbildungsgänge abzuschließen und anschließend einen Berufseinstieg anzustreben oder aber auf Kosten von Ausbildung und Beruf zu einem früheren Zeitpunkt eine Familie zu gründen. Lange Ausbildungszeiten und frühe Familiengründung schließen einander aus. Die zunehmende außerhäusliche Erwerbstätigkeit von Frauen, gerade in qualifizierten Berufen, stellt heute auch diejenigen, die eine Familie gründen und Kinder aufziehen wollen, vor das Problem, Beruf und Familie miteinander vereinbaren zu müssen.

Während diese Tendenzen in der Bundesrepublik in der Regel als Ausdruck eines steigenden Bedürfnisses junger hochqualifizierter Menschen nach Selbstverwirklichung im Beruf interpretiert werden, haben amerikanische Sozialwissenschaftler, insbesondere Robert N. Bellah und James Coleman, eine Debatte darüber begonnen, ob diese tiefgreifenden Veränderungen, die sich in ähnlicher Weise auch in den Vereinigten Staaten abgespielt haben, nicht Folge von zunehmender Urbanisierung sein könnten. Insbesondere die qualifizierten Dienstleistungsberufe sind fast ausschließlich in den urbanen Zentren zu finden. Familie, so die These von Robert N. Bellah, kann eigentlich nur dann angemessen funktionieren, wenn sie in ein intaktes Verwandtschafts- und Nachbarschaftssystem eingebettet ist, in dem familiale Werte hochgehalten werden und Solidarleistungen zwischen Verwandten, Nachbarn und Familienmitgliedern jene Bedingungen erzeugen, die es ermöglichen, nicht nur Familie zu leben, sondern auch Kinder aufwachsen zu lassen.

Solche Solidarleistungen sind in großen urbanen Zentren mit ihren heterogenen Strukturen, ihrer hohen Mobilität und den Koordinationsschwierigkeiten zwischen Arbeitsstelle, Wohnung, Versorgung und Pflege sozialer Beziehungen kaum vorstellbar, weil sie stets ein hohes Maß an Vertrautheit und wechselseitiger Abhängigkeit zwischen denjenigen, die die Leistungen erbringen, und denjenigen, die sie empfangen, voraussetzen.

Betrachtet man die geographische Verteilung der Single- bzw. Einpersonenhaushalte in der gesamten Bundesrepublik, so wird die These von Robert N. Bellah für die alten Bundesländer bestätigt. In allen urbanen Zentren, seien es München, Hamburg, Berlin, Frankfurt oder Düsseldorf, erreichen die Anteile an Einpersonenhaushalten durchweg knapp 50 Prozent oder sogar noch mehr. Dementsprechend sind Familienhaushalte, also Haushalte mit vier und mehr Personen, zur Ausnahme geworden. So gibt es in München, Hamburg, Düsseldorf oder Berlin nur jeweils knapp zehn Prozent Haushalte mit vier und mehr Personen.

Im krassen Gegensatz dazu stehen viele ländliche Regionen der Bundesrepublik. Insbesondere im katholischen Süden, aber auch im katholischen Westen liegen die Anteile der Einpersonenhaushalte zwischen 16 Prozent und 20 Prozent, während dort die Haushalte mit vier und mehr Personen die 40-Prozent-Marke zum Teil weit überschreiten.

Ähnlich drastische Variationen lassen sich auch zwischen der Geburtenrate, den Scheidungsziffern, dem Bildungsniveau und der Frauenerwerbstätigkeit nachweisen. Auch für die Bundesrepublik kann angenommen werden, daß die urbanen Zentren die wesentlichen Träger jener Veränderungen der Lebensformen sind, die gegenwärtig breit diskutiert werden.

Die fünf neuen Bundesländer weisen demgegenüber keine solch drastischen Variationen in den Lebensformen auf, sondern sind in vielen Punkten noch sehr viel homogener. Zwar gibt es auch hier deutliche Stadt-Land-Differenzen, und natürlich leben auch in Berlin-Ost mehr Singles als etwa in Mecklenburg-Vorpommern oder den ländlichen Regionen Brandenburgs, aber die Variation ist nicht so groß wie in den Altländern. Will man also Lebensformen in den alten und neuen Bundesländern im Bereich von Ehe und Familie miteinander vergleichen, tut man gut daran, jene fortgeschrittenen urbanen Dienstleistungszentren in den alten Bundesländern mit jenen städtischen Regionen in den neuen Bundesländern zu vergleichen, die sich von ihrer Struktur her am ehesten in eine Richtung entwickeln werden, anstatt generelle Ost-West-Vergleiche durchzuführen.

Auf der Basis einer empirischen Erhebung von insgesamt 12.000 Befragen zwischen 18 und 55 Jahren wurden circa tausend Befragte aus den Großstädten Stuttgart, München, Berlin, Frankfurt, Nürnberg und Augsburg ausgewählt, die dann mit tausend Befragten aus Leipzig verglichen werden konnten.

 
           
 
 
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