Deutsches
Historisches
Museum
Warum und wofür im
19. Jahrhundert gestreikt wurde
Lothar Machtan, Seite 1 3 4 5
Ganz grob lassen sich schon in dieser Zeit vier Kategorien von Streikforderungen unterscheiden. Einmal ging es darum, sich einen Ausgleich für die allgemein stark angestiegenen Lebenshaltungskosten zu erstreiken. Nicht selten wollten die Arbeiter mit ihren Lohnforderungen aber auch mehr als nur ihre frühere relative Position auf der gesellschaftlichen Stufenleiter behaupten. Sie erhoben Anspruch auf die Befriedigung neuer, "zeitgemäßer" Bedürfnisse, auf bescheidene Teilhabe an dem auf- und sinnfällig gesteigerten gesellschaftlichen Reichtum in der Glanz- und Pomp-Periode der Gründerjahre. Das bedeutsamste Ziel aber dieses Verlangens nach materieller Besserstellung war, dass die Arbeiter mit den höheren Löhnen endlich in die Lage kommen wollten, ihre betriebsalltäglichen "größten Kraftanstrengungen durch eine kräftige genügende Kost zu ersetzen".4 Diese Verweise auf die "steigende Überbürdung mit Arbeit" und auf die "härtesten Entbehrungen", unter denen die Arbeiter gezwungen seien, "für die Arbeitgeber ihre Kräfte zu opfern", begegnen uns immer wieder als Begründungsmusters.5
In der Beziehung verband sich ein Zweckelement der Lohnbewegung eng mit den Zielen, denen ein zweiter Komplex von Arbeiterforderungen verpflichtet war, jener um Fragen der Arbeitszeitregelung. Zehn- bis elfstündiger Normalarbeitstag, Garantie ausreichender Arbeitspausen, drastische Einschränkung des Überstundenwesens, vor allem der Nacht- und Feiertagsarbeit, durch hohe Extravergütung - so und ähnlich lauteten die Zielsetzungen. Hier tauchte zum ersten Mal die Gefährdung der Arbeitergesundheit als Argument für eine Arbeitszeitverkürzung auf, die nun nicht mehr allein vom einzelnen Unternehmer, sondern darüber hinaus auch vom Gesetzgeber verlangt wurde. In ihr sah man das entscheidende Mittel zur Befreiung von dem Fluch, dass der Arbeiter, zumal als Familienvater, "seinen Lohn oft höher als sein Leben in Anschlag zu bringen hat".6
Ein dritter Komplex von Forderungen zielte auf die Abschwächung bzw. Humanisierung der mehr oder weniger autokratischen Befehls- und Disziplinargewalt der Fabrikherren. Kritisiert wurden vor allem die selbstherrlich erlassenen Fabrikordnungen und die aus ihnen abgeleitete betriebliche Strafjustiz, die Anmaßungen der vorgesetzten Betriebsbeamten, die Willkür bei der Bestimmung von Akkordtaxen, der fehlende Kündigungsschutz sowie die dubiose Verwaltung und die Geschäftspraktiken betrieblicher Wohlfahrtseinrichtungen. Sich derartigen Privatrechtsformen zu unterwerfen, wie es die gesetzliche Fiktion vom freien Arbeitsvertrag vorsah, empfanden viele Arbeiter als schmachvoll, entehrend und unwürdig. Weil sie eine unbedingte Gehorsamspflicht nicht länger akzeptieren wollten, beanspruchten sie verbriefte Mitsprache- und Schutzrechte, jedenfalls eine Reform der nach eigenherrlichen Kriterien gebauten Betriebsverfassung. Der vierte Typus von Forderungen schließlich drehte sich um die Anerkennung demokratisch gewählter Deputationen als legitime Interessenvertretungen der Arbeiter zur Ausarbeitung und Aushandlung von Lösungsvorschlägen im Arbeitskonflikt. Wo berufsverbandliche Organisationen existierten, erhielten zumeist diese ein entsprechendes Mandat. Dem Verlangen nach kollektiven Unterhandlungen und tarifähnlichen Regelungen entsprach schon die fast überall erhobene Forderung: Keine Maßregelung der Vertrauensleute!
Darüber hinaus haben die Wortführer der Streikenden den Unternehmern immer wieder klarzumachen versucht, wie sehr ihren Kollegen an einer Überwindung der Rechtsebene ausschließlich privatvertraglicher und individueller Vereinbarungen, positiv ausgedrückt: an der Einführung kollektiver Arbeitsverträge gelegen war.

Fasst man diese Bestrebungen verallgemeinernd zusammen, so lässt sich zweierlei erkennen: Zum einen entrollten die Forderungen - und mehr noch deren nähere Begründung - ein sehr detailliertes und plastisches Bild von den Arbeits- und Lohnverhältnissen in der gewerblichen Wirtschaft, von den Existenzrisiken, den diese dem Arbeiter auferlegten sowie von den in ihnen angelegten Konfliktpotentialen. Dieses Bild mit seinen vielfach sehr grellen Farben war vielen Zeitgenossen aus bürgerlichem Milieu bis dato weitgehend unbekannt. Es erregte Aufsehen, ließ es doch bei nur einigermaßen nüchterner Betrachtung auf erhebliche Miss-Stände schließen, auf zum Teil inhumane und unwürdige Zustände in den Gewerbebetrieben. Das wichtigste aber war, dass erst durch die Streikbewegung eine breitere Öffentlichkeit die Arbeiter als eine gesellschaftliche und politische Problemgruppe "an und für sich" wahrnahm. Das Wort "Arbeiter" - so bemerkte ein kompetenter Mann 1872 - sei "in der deutschen Sprache erst kürzlich und [...] zugleich nur mit dem Worte 'Strike' aufgenommen worden".7
Das war vielleicht etwas übertrieben. Fest steht aber, dass dem Arbeits- und Lebenszusammenhang proletarischer Schichten keineswegs solche Beachtung zuteil geworden wäre, wenn sie ihre Ansprüche nicht auch demonstrativ auf dem Wege "massenhafter Widersetzlichkeiten" einzuklagen versucht hätten; erst die Initiative gesellschaftsöffentlichen Handelns mit dem Ziel einer wirklichen Lageverbesserung erregte Aufmerksamkeit und erweckte Teilnahme. Zum anderen steckte in den Arbeitererhebungen eine große politische Brisanz, insofern als sie das Ende der Hinnahmebereitschaft gegenüber bestimmten Zumutungen des Arbeitslebens signalisierten. Vernehmbar war vielmehr ein unüberhörbares Veto gegen die Auswirkungen einer vorzugsweise privatwirtschaftlichen Interessen der Unternehmer verpflichteten Gewerbeverfassung; gegen die Vorherrschaft eines Regelungssystems, in dem die Arbeiter hauptsächlich als Objekte von Ausbeutungs-, Erziehungs- und Herrschaftsansprüchen vorkamen und das insofern auf eine Zementierung sozialer Ungleichheit zielte. In den Streiks wurde somit ein offenkundiger Mangel, ja ein Dilemma der real existierenden Wirtschafts- und Sozialverfassung im deutschen Kaiserreich offenbar. Diesem Mangel sollte abgeholfen werden, denn der massive Arbeiter-Protest gegen Bedingungen des materiellen und sozialen Daseins war ja nicht allein negativ, er zeigte vielmehr auch bereits deutlich auf ein Programm positiver Abhilfe. Die in und mit den Streiks artikulierten Arbeiterforderungen, die bis in das 20. Jahrhundert hinein das soziale Alltagsgeschehen in Deutschland beherrschten, wurden so nicht zuletzt auch die programmatische Grundlage gewerkschaftlicher und sonstiger vereinspolitischer Reformarbeit, die in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzte. Sie verlieh den proletarischen Bestrebungen einen breiten Resonanzboden in der öffentlichen Meinung.

Wie reagierten nun die industriellen Unternehmer, ihre Interessenorganisationen und die ihnen verpflichtete Presse auf die Herausforderungen, die durch die Arbeiterbewegungen an sie herangetragen wurden? Lassen wir sie selbst zu Wort kommen. Zunächst und vor allem beklagten sie, dass dem streikwilligen Arbeiter offenbar "die Willenskraft, durch treue Pflichterfüllung und größere Arbeitsleistung seine Lage zu verbessern, verloren gegangen" sei.8 Gleichzeitig verurteilten sie dieses "wachsende moralische Defizit" als einen Verlust an allgemeiner Gesittung, ja als vorsätzliche Pflichtverletzung.9 Sodann war der Streik ihrem manchesterliberalen Weltbild entsprechend "ein ebenso gewalthsamer als unverständiger Eingriff in den natürlichen Zusammenhang, in die organische Entwicklung der gesellschaftlichen Grund- und der wirthschaftlichen Naturgesetze".10 Beide Verdikte verschmolzen schließlich zu dem Deutungsmuster, das "Strikefiber" sei eine Krankheit, die die Arbeiterbevölkerung wie eine Seuche befallen habe und "das gesunde Blut, das bisher dem industriellen Körper gegeben", vergiften müsse.11 Fazit: "der Strike ist an und für sich verwerflich".12
Was die einzelnen Forderungskomplexe betraf, so verhielt sich die Unternehmerseite - man kann hier durchaus von einem festgefügten Lager sprechen - zumeist kategorisch ablehnend. Lohnforderungen wurden in der Regel mit Verweis auf eine fehlende soziale Notlage der Arbeiter oder die Zahlungsunfähigkeit der Betriebe zurückgewiesen, der zunehmende Kräfteverschleiß als Argument der Arbeiter ignoriert. In der Arbeitszeitfrage hielten namentlich die Industriellen alle außerbetrieblichen Normierungsbestrebungen für "von Haus aus verwerflich" und waren nicht bereit, Arbeitszeitverkürzungen anders als in Gestalt gleichzeitiger Arbeitsintensivierungsmaßnahmen zu akzeptieren. Das Definitionsmonopol über das hierbei zu beobachtende "Maaß des Nothwendigen und Heilsamen" wollten sie auf keinen Fall preisgeben. Und schon gar nicht kam es ihnen in den Sinn, Beschränkungen ihrer Dispositionsfreiheit in der Unternehmensführung zuzulassen. Die uneingeschränkte Befehlsgewalt über den technischen Betriebsablauf, die Arbeitsorganisation sowie die Art, den Umfang und die Verwaltung betriebsfürsorgerischer Maßnahmen galt ihnen geradezu "als das unveräußerliche Recht des Capitals".13 Und die ausschließlich privatvertragliche Regelung des Arbeitsverhältnisses schloss nach ihrer Ansicht eine Verhandlung mit 'unbefugten' Arbeiterkomitees von selbst aus.

Dass bei einer solchen Konfrontation von Interessengegensätzen "tief principieller Art"14 wenig Terrain für einen friedlichen Ausgleich übrig blieb, kann kaum verwundern. Was folgte, das waren ungezählte "Ausbrüche des organisirten socialen Krieges der Lohnempfänger gegen die Unternehmer, der Vorrathslosen gegen die Capitalisten"15, der zu einem "tiefen Riß zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern nicht selten bis zur offenen Feindschaft"16 führte. So jedenfalls nahm die Öffentlichkeit damals diese Polarisierung wahr.
 
Arbeitswillige werden gruppenweise durch
                Gendarmerie nach Hause gebracht, März 1912
Arbeitswillige werden gruppenweise durch Gendarmerie nach Hause gebracht, März 1912.
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Arbeits-Vertrag zwischen den Arbeitgebern des Baugewerbes
                und dem Zentral-Verband der Maurer, 1907

Arbeits-Vertrag zwischen den Arbeitgebern des Baugewerbes und dem Zentral-Verband der Maurer, 1907.
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Bekanntmachung 'An die Belegschaft', 1912

Bekanntmachung
"An die Belegschaft",
1912.
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Kündigungsschreiben wegen Streikbeteiligung, Januar 1905

Kündigungsschreiben wegen Streikbeteiligung, Januar 1905.
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Legitimationskarte der königlichen
                Polizeidirection Dresden, Juni 1893

Legitimationskarte der königlichen Polizeidirection Dresden, Juni 1893.
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