Deutsches
Historisches
Museum
Warum und wofür im
19. Jahrhundert gestreikt wurde
Lothar Machtan, Seite 1 2 3 4 5
Schneller als erwartet bekamen die Gewerkschaftsorganisationen die Chance, sich ihr so oft beschworenes politisches Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Gemeinwesen honorieren zu lassen. Die Regierung war bereit, ihnen gewisse Entscheidungsbefugnisse im Rahmen der Kriegswirtschaftspolitik einzuräumen. Aber sie verlangte einen hohen Preis, indem sie die Gewerkschaften verpflichtete, auf das Streikrecht vorläufig zu verzichten und dem Staatsapparat bei der Kontrolle und Verhinderung von sozialer Unruhe zur Hand zu gehen. Die Gewerkschaften willigten mehr oder weniger deshalb ein, weil sie sich erhofften, nun endlich als gleichberechtigter Sozialpartner anerkannt zu werden. Mit dem Hilfsdienstgesetz von 1916, das ihnen lohnpolitische und andere Mitspracherechte sicherte, kam die Reichsregierung diesen Erwartungen ein Stück weit entgegen. Den Gewerkschaften aber fiel es umgekehrt zusehends schwerer, die Hoffnung der Regierung auf eine Kontrolle und Beschwichtigung der Arbeiter zu erfüllen. Die schlechte Lebensmittelversorgung und die kräftezehrende Arbeit in der Kriegswirtschaft bei gleichzeitig sinkenden Reallöhnen erregten so starken Unwillen, dass trotz aller gewerkschaftlichen Ausgleichsbemühungen ab 1917 Arbeitsniederlegungen wieder um sich griffen und die Kriegswirtschaftspläne der Militärs in Mitleidenschaft zogen. Ansprüche auf verbesserte Lebensbedingungen und Friedenssehnsucht vermengten sich schnell zu einem unübersehbaren Protestpotential, das besonders im Januar 1918, als Zehntausende von Arbeitern in den Ausstand traten, zu einem Politikum ersten Ranges wurde.
Die Hoffnung der streikenden Arbeiter(innen) in Berlin, Hamburg und anderen Zentren der deutschen Arbeiterbewegung jener Tage, eine vorzeitige Beendigung des Krieges durch Massenstreiks erzwingen zu können, erfüllten sich nicht. Zwar warf die Novemberrevolution bereits im Januar 1918 deutlich ihren Schatten voraus, aber es bedurfte erst einer dramatischen Verschlechterung der militärischen Lage an der Westfront, um das politische System des Wilhelminischen Kaiserreichs zum Einsturz zu bringen, den Krieg zu beenden und zumindest einige derjenigen Rechte gesetzlich zu verankern, die den Arbeitern in Deutschland jahrzehntelang vorenthalten worden waren. Die zentrale Arbeitsgemeinschaft, zu der sich Gewerkschaften und Unternehmer am 15. November 1918 die Hand reichten, hat diese Phase eingeläutet.


Bilanz

Misst man die ungezählten Anstrengungen, die die Arbeiter auf dem Wege der gemeinsamen Arbeitsniederlegung zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen von einem menschenwürdigen und achtbaren Dasein unternahmen, an den sogenannten materiellen Erfolgen - man könnte fast meinen, die Mühen hätten sich nicht gelohnt. Aber das ist vielleicht nicht einmal die halbe Wahrheit. Streik - das war vor allem die Sprache des Protests; ohne ihn wäre kaum vernehmbar (gewesen), wie die Arbeitergenerationen der Industrialisierungsphase zu arbeiten und zu leben hatten, was viele von ihnen dachten, fühlten und wollten. Man kann die These wagen, dass erst Streiks die Grundlagen für eine (proletarische) Gegenöffentlichkeit schufen, die erstmals gesellschaftliche Tabuzonen auszuleuchten und damit den Herrschaftsspielraum selbsternannter Machteliten einzuengen verstand. Streiks erwirkten gewerkschaftliche Organisationen und nicht umgekehrt, auch wenn sie sich paradoxerweise gegen diese später erneut zu behaupten hatten. Und schließlich dieses: erst durch die lange Kette ihrer Streiks brachten die Arbeiter es zustande, den Umgang mit ihren Problemen zum alles beherrschenden innenpolitischen Thema des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu machen. Das, was die deutschen Arbeiter bis zum Ende des 2. Reiches an Verbesserungen ihrer Lage hatten erreichen können, war wahrlich nicht sehr viel; aber es wäre mit Sicherheit noch weit weniger gewesen, wenn es am sozialen Druck unablässiger Arbeitskämpfe gefehlt hätte. Eine "schöne neue Welt" haben sich die Arbeiter trotz aller Auflehnungs- und Opferbereitschaft nicht zu erstreiken vermocht; ihre Lebensumstände waren zu unsicher, ihre Einigkeit oft zu brüchig, ihre Organisationen zu schwach und schwankend und ihre Gegner zu stark. Aber immer wieder den gemeinsamen Versuch gemacht zu haben, den zahlreichen Widrigkeiten ihres Daseins zu trotzen, darin lag mehr als "nur" (Über-)Lebenswillen: darin äußerte sich auch ein Stück Lebensbejahung, Selbstachtung und Zuversicht.


Anmerkungen

1 Vgl. Deutsche Arbeiter-Zeitung Nr. I, 8.4.1848.  [zurück zum Text]

2 Vgl. hierzu im einzelnen Lothar Machtan, Streiks im frühen deutschen Kaiserreich, Frankfurt am Main-New York 1983 sowie Ders., Streiks und Aussperrungen im deutschen Kaiserreich. Eine sozialgeschichtliche Dokumentation für die Jahre 1871-1875, Berlin 1984.  [zurück zum Text]

3 Streikaufruf Berliner Metallarbeiter, zit. nach Neuer Social-Demokrat Nr. 104, 8.9.1872.   [zurück zum Text]

4 STA Dresden KH Zwickau Nr. 1998 (Immediat-Eingabe eines sächsischen Bergarbeiters vom 22.11.1870).
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5 Vgl. Machtan 1983 (wie Anm. 2), S. 17, S.82.  [zurück zum Text]

6 Wie Anm. 4.   [zurück zum Text]

7 So der Liegnitzer Geheime Regierungsrat Jacobi in einem Aufsatz für die Zeitschrift Concordia, Nr. 39, 26.9.1872.
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8 Jahresbericht der Handelskammer Halle pro 1875, Halle 1876, S. 7.  [zurück zum Text]

9 Arbeitgeber Nr. 758, 11.11.1871.  [zurück zum Text]

10 Zeitschrift für Gewerbe, Handel und Volkswirtschaft IX, 1870, S. 25.  [zurück zum Text]

11 Berggeist Nr. 54, 4.7.1872.  [zurück zum Text]

12 Aus einem Leitartikel im Chemnitzer Tageblatt vom 19.11.1871, in dem seitens der Unternehmer ein Fazit aus den vorhergehenden Streikauseinandersetzungen in der Metallindustrie gezogen wurde. - Dort auch die beiden nachfolgenden Zitate.  [zurück zum Text]

13 Deutsche Industrie-Zeitung Nr. 13, 27.3.1873.
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14 Essener Zeitung vom 29.6.1872 mit Bezug auf den großen Ruhrbergarbeiterstreik vom Sommer 1872, wobei ausdrücklich betont wurde, dass diese Gegensätze "nicht ungestraft wachgerufen werden können".  [zurück zum Text]

15 Schlesische Zeitung vom 9.9.1871.  [zurück zum Text]

16 Aus dem Quartalsbericht des Magdeburger Regierungspräsidenten vom 22.4.1873, in: Staatsarchiv Magdeburg, Rep. C20 Ib, Nr. 833, Bd. 5, Bl. 76.  [zurück zum Text]

17 Mittheilungen des Vereins für die Wahrung der Wirthschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen Nr. I (November 1872), S. 9.  [zurück zum Text]

18 Aus einem Arbeitgeber-Plakat An die Metallarbeiter Berlins!, zit. nach: Machtan 1984 (wie Anm. 2), S. 243.
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19 Aus einer Petition des Vereins deutscher Maschinenbaufabrikanten an den Reichstag vom Mai 1873 (Bundesarchiv, Abt. Potsdam 14.01, Nr. 245.  [zurück zum Text]

20 H. Hickmann, Der soziale Krieg, Dresden 1872, S. 11.
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21 Concordia Nr. 1, 1.10.1871. - Ebd. Nr. 4, 18.11.1871, auch das nachfolgende Zitat.   [zurück zum Text]

22 Zirkular der koalierten Fabrikanten von Chemnitz an ihre Auftraggeber vom 29.10.1871, zit. nach: Machtan 1983 (wie Anm. 2), S. 224.  [zurück zum Text]

23 Concordia Nr. 25, 20.6.1872. - "Sehen wir von dem Schreckbild der Commune ab", schrieb im Winter 1872 der einflußreiche national-liberale Politiker Ludwig Bamberger, "so gründet sich der Allarm [der sozialpolitisch engagierten Öffentlichkeit] wesentlich auf die Erscheinung der Strikes" (Die Arbeiterfrage unter dem Gesichtspunkte des Vereinsrechtes, Stuttgart 1873, S. 48). Und dem Sozialkonservativen Karl Rodbertus schienen gar die Streiks "das einzige Mittel zu sein [...], die endliche Intervention des Staates zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen zu veranlassen" (Leserzuschrift an die regierungsnahe Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 23.11.1871).   [zurück zum Text]

24 Vgl. hierzu im einzelnen Lothar Machtan und R. Ott, "Batzebier!" Überlegungen zur sozialen Protestbewegung in den Jahren nach der Reichsgründung am Beispiel der süddeutschen Bierkrawalle vom Frühjahr 1873, in: H. Volkmann und J. Bergmann (Hgg.), Sozialer Protest. Studien zu traditioneller Resistenz und kollektiver Gewalt in Deutschland vom Vormärz bis zur Reichsgründung, Opladen 1984, S. 128-166.  [zurück zum Text]

25 National-Zeitung Nr. 188, 23.4.1873.  [zurück zum Text]

26 Badische Landes-Zeitung Nr. 94, 23.4.1873. Ebenda auch das nachfolgende Zitat.   [zurück zum Text]

27 Klassisch formuliert von Ludwig Bamberger: "Gift destilliren, Haß schüren, Zwietracht stiften, die chimäristischsten Aussichten eröffnen, das ist das A und O" der Sozialdemokratischen Agitation (Arbeiterfrage [wie Anm. 23], S. 256).  [zurück zum Text]

28 Wie Anm. 25.   [zurück zum Text]


Literatur

Friedhelm Boll, Arbeitskämpfe und Gewerkschaften in Deutschland England und Frankreich. Ihre Entwicklung vom 19.-20. Jahrhundert, Bonn 1992.

Dick Geary, Arbeiterprotest und Arbeiterbewegung in Europa 1848-1939, München 1983.

Leopold Haimson und Charless Tilly (Hgg.), Strikes, Wars and Revolution in an International Perspective, Cambridge 1989.

Michelle Perrot, Jeunesse de la Grève. France 1871-1890, Paris 1984.

Klaus Schönhoven (Bearb.), Die Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution 1914-1919 [Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert, Bd. I), Köln 1985.

Klaus Tenfelde und Heinrich Volkmann (Hgg.), Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung, München 1981.
 
Schmuckblatt zum Jahrestag der
                Gründung der deutschen Sozialdemokratie, 1913
Schmuckblatt zum Jahrestag der Gründung der deutschen Sozialdemokratie, 1913.
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Aufruf 'Halt! 10-Stunden-Arbeiter', November 1871

Aufruf "Halt!
10-Stunden-Arbeiter",
November 1871.
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'An die Proletarier aller Länder', Oktober 1871

"An die Proletarier aller Länder", Oktober 1871.
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Arbeiter in der Hartmannschen Maschinenfabrik, um 1900

Arbeiter in der Hartmannschen Maschinenfabrik,
um 1900.
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