Deutsches
Historisches
Museum
Warum und wofür im
19. Jahrhundert gestreikt wurde
Lothar Machtan, Seite 1 2 3 5
Dass diese Befürchtung gänzlich unbegründet war, wird niemand, der die Streik- und Volksbewegungen jener Jahre studiert, ernstlich behaupten können. Einen nationalliberal oder konservativ denkenden Bürger musste die Aufbruchstimmung der arbeitenden Klassen zu Beginn der siebziger Jahre in der Tat tief beunruhigen. Und es ist sicherlich höchst charakteristisch für das sozialpolitische Klima jener Zeit, wenn bürgerliche und Arbeiter-Blätter sich in ansonsten seltener Übereinstimmung angewöhnten, in ihrer Berichterstattung über soziale Konflikte von "Kriegsschauplätzen" zu reden. Die Welle elementarer Arbeiter- und Volksbewegungen über nahezu ein halbes Jahrzehnt hinweg hat die anfängliche Euphorie der endlich errungenen "definitiven Staatszustände" sehr schnell auf den Boden der Tatsache zurückgebracht, dass die "innere Reichsgründung" noch bevorstand. Aber wie sollte die angesichts so großer sozialer Unruhe bewerkstelligt werden?

Die sozialpolitische Konstellation der Gründerjahre änderte sich in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts insofern, als die Arbeitskampfwelle deutlich abebbte, tumultartige Massenbewegungen fast gänzlich verschwanden und auch die Leistungsbereitschaft und die Disziplin der Arbeiter im Betrieb nach Meinung der Unternehmer deutlich weniger zu wünschen übrig ließen. Diese Erscheinungen waren aber keineswegs Ergebnis einer grundsätzlichen Umorientierung der handarbeitenden Schichten in weltanschaulicher und interessenspolitischer Sicht, vielmehr Resultate von Zwangsmechanismen, zu deren Handhabe die schwere Wirtschaftskrise Gelegenheit bot, die Deutschland 1874/75 mit voller Wucht erfasste. Ihre betriebs- und gesellschaftspolitische Herrschaft haben die deutschen Industrieunternehmer in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zweifellos festigen können, während die Arbeiterbewegung - nicht zuletzt auf Grund der nun verstärkt einsetzenden Verfolgungsmaßnahmen - an Kampfbereitschaft und -stärke einbüßte. Die sozialen Konfliktpotentiale aber wirksam zu entschärfen, das haben die Krisenjahre nicht vermocht, wie die verbittert geführten Abwehrkämpfe der Bergleute im Ruhrgebiet oder in Oberschlesien am Ende der siebziger Jahre beispielhaft zu erkennen geben. Da kaum eines der seit 1869 so nachhaltig thematisierten Probleme im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital allgemein-verbindlich geregelt war, hatten die sozialen Gegensätze nichts an Schärfe eingebüßt. Das Ausmaß sozialer Unruhen ging zurück; aber nicht durch Befriedung, durch materielle Hebung oder durch positive Integration der Arbeiterbevölkerung, die unterprivilegiert blieb. Von sozialer Ruhe konnte deshalb nicht die Rede sein, von sozialem Frieden schon gar nicht. Es ist deshalb auch kein Zufall, wenn am Ende der ersten mächtigen Streikwelle in Deutschland ausgerechnet jenes "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Socialdemokratie" steht, das die deutschen Arbeiter für mehr als ein Jahrzehnt ihrer gewerkschaftlichen und politischen Interessenvertretung weitgehend beraubte.

Aber die Hoffnung der Sozialistengesetzgeber auf eine Bekehrung und Läuterung der durch Partei und Gewerkschaften "verhetzten" Arbeiter erwies sich als falsch. Was sich diese während der Sturm- und Drangperiode der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts an Erfahrung angeeignet hatten, um Probleme ihrer Interessenwahrung anzugehen, vergaßen sie nicht. Und so wird nach einer kurzen Zeit des Zögerns und Sich-neu-Zurechtfindens trotz ausnahme- gesetzlicher Bestimmungen schon Mitte der achtziger Jahre im Deutschen Reich wieder kräftig gestreikt, wobei die Streikenden zugleich gegen das Sozialistengesetz demonstrieren. 1889/90 - den Jahren der vielbeachteten Massenausstände der Bergleute in allen Revieren - nimmt die Arbeitskampfbewegung angesichts der günstigen Wirtschaftskonjunktur schließlich Ausmaße an, die die der Gründerjahre noch einmal weit übertreffen.
Ihre gesellschaftspolitische Tiefenwirkung ist enorm. Der Kampfkurs des Sozialistengesetzes erlebt endgültig Schiffbruch. Gewerkschaftliche Verbände schießen wie Pilze aus dem Boden und verhelfen modernen Massenorganisationen mit zentralem Leitungsstab - die Generalkommission der Gewerkschaften entsteht - zum Durchbruch. Der Zulauf, den die Sozialdemokraten allenthalben verzeichnen können, scheint unaufhaltsam. Die staatliche Sozialpolitik der Nach-Bismarck-Ära durchzuckt ein Wetterleuchten; mit dem zügigen Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung und der staatlichen Fabrikaufsicht sowie der Schaffung schiedsgerichtlicher Formen der Konfliktregulierung bemüht sich die Regierung, den massiven Unmutsäußerungen der Arbeiter Rechnung zu tragen.
Doch die einflussreiche Klasse der Kapital- und Fabrikbesitzer sorgt dafür, dass sich die Sozialreformmaßnahmen und auch die materiellen wie organisatorischen Erfolge der Arbeiterbewegung von 1889/90 in wirtschaftsverträglichen Grenzen halten. Mit allen erlaubten und halberlaubten Mitteln versuchen sie insbesondere zu verhindern, dass sich die neuentstandenen Gewerkschaftsverbände zu einer Art Gegenmacht mausern und als solche Ansprüche auf echte Tarifpartnerschaft erheben konnten. Bereits das Absacken der Konjunktur zu Beginn der neunziger Jahre bietet ihnen einen willkommenen Anlass, Arbeitern und Gewerkschaften die Zähne zu zeigen und über Aussperrungen, schwarze Listen und branchenübergreifende Sperren deren Streikelan zu bremsen. Im Winter 1891/92 wird dem außergewöhnlich finanzkräftigen und mitgliederstarken Buchdruckerverband in einem aufwendigen Arbeitskampf, der mit einer totalen Niederlage der Arbeiter endet, die Grenzen seiner Macht geradezu lehrstückhaft vor Augen geführt.

Ähnliche Erfahrungen gab es in anderen Produktionsbereichen. Die Gewerkschaften versagten sich daraufhin zusehends dem Risiko eines in seinen Erfolgsaussichten nur schwer kalkulierbaren Arbeitskampfes und verschrieben sich nun verstärkt einer Strategie der Streikvermeidung durch Organisationsausbau und Tarifverträge. Verbunden mit dieser strategischen Neuorientierung (die allerdings seitens der Unternehmer nicht honoriert wurde) war eine notorische Skepsis, ja Distanz gegenüber all jenen Arbeiterbewegungen, die einem wohlüberlegenden und abwägenden Kampfkalkül nicht gebührend Rechnung zu tragen schienen. Neue Konfliktlinien zeichneten sich ab. Als beim großen Hafenarbeiterstreik im Winter 1896/97 das Zentrale Streikkomitee und prominente Sozialdemokraten die Arbeiter nach vierwöchigem Ausstand zu einer bedingungslosen Wiederaufnahme der Tätigkeit bewegen wollten, weil sie einen Erfolg für aussichtslos hielten, wurden sie auf Streikversammlungen lautstark des Verrats bezichtigt und der Streik wurde gegen den Willen der Führer noch zwei Wochen fortgesetzt.

Das Streikgeschehen in Deutschland ist fortan von charakteristischen "Ungleichzeitigkeiten" geprägt. Die unverändert hohe Konfliktträchtigkeit der industriellen Arbeitsbeziehungen und die kategorische Weigerung der meisten Industriekapitäne, die Arbeiter als gleichberechtigte Sozialgruppe mit eigenständigen Interessen und entsprechenden Organisationen anzuerkennen, rufen Jahr für Jahr Hunderte von Kampfaktionen hervor, an denen allein zwischen 1896 und 1904 insgesamt fast eine Million Arbeitnehmer beteiligt waren. Und dieser Trend entwickelte sich im kommenden Jahrzehnt bis zum Kriegsausbruch alles andere als rückläufig. Fast zwei Millionen Streikende/Ausgesperrte weist die nicht einmal vollständige amtliche Streikstatistik für die Jahre 1905 bis 1914 auf - ein unbestreitbares Zeichen dafür, dass der Glaube an die Wirksamkeit des Streikkampfes nicht nur weiterhin verbreitet, sondern offensichtlich auch durch Niederlagen nicht zu erschüttern war. Diese Konfliktfreudigkeit hatte sich jedoch nicht allein gegenüber einem (besonders nach der Jahrhundertwende) spürbar wachsenden und aggressiveren Gegendruck seitens der hochorganisierten Unternehmerschaft zu behaupten, sondern auch gegenüber gewerkschaftsbürokratischen Anstrengungen, das Protestverhalten der Arbeiter weitestgehend zu zügeln und in die eigne Strategie des Interessenausgleichs einzupassen.

Der Terraingewinn der Unternehmer bei Arbeitskonflikten nahm in den Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs gegenüber den Organisationserfolgen der Gewerkschaften stetig zu. Man denke nur an die Ruhrbergarbeiterstreiks von 1905 und 1912, die erfolgreichen Aussperrungen der bayrischen und Berliner Metallindustriellen 1905/06, die Bauarbeiteraussperrung von 1910 und anderes mehr. Diese misslichen Erfahrungen bestärkten die Interessenverbände der Arbeiter in ihrer Strategie einer tunlichsten Vermeidung von Konfrontationen, um einer vermeintlichen sozialpolitischen Isolation zu entgehen. Es war nicht leicht, diese Orientierung als einzig sinnvolle Perspektive proletarischer Interessenvertretung den Arbeitern nahezubringen, da die Streikerfahrungen der letzteren auch andere Schlussfolgerungen zuließen, z. B. die einer Jetzt-Erst-Recht-Haltung. Beim Werftarbeiterstreik im Sommer 1912, als die Gewerkschaftsvorstände die Unterstützung von einigen tausend "wild", d. h. statutenwidrig streikenden Arbeitern kategorisch ablehnten, erreichte der Entfremdungsprozess zwischen Mitgliederbasis und Verbandsführung einen vorläufigen Höhepunkt. Viele Arbeiter fühlten sich von ihrer Organisation im Stich gelassen und in ihren Erwartungen tief enttäuscht. So blieb es bei einem Spannungsverhältnis zwischen den auf den Ausbau der Organisation und staatliche Anerkennung fixierten Verbandsleitungen und Teilen einer nicht wenig erbitterten Arbeiterschaft, auch als mit der Mobilmachung 1914 und der nachfolgenden allgemeinen patriotischen Kriegsbegeisterung mit einem Schlag alle sozialen Konfliktherde ausgetreten schienen.
 
Schmuckhülse für eine Streichholzschachtel, um 1910
Schmuckhülse für eine Streichholzschachtel,
um 1910.
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Eine Versammlung streikender Bergleute im Wald, 1889

Eine Versammlung streikender Bergleute im Wald, 1889.
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Jugendliche Arbeiter bedrohen eine Militärpatrouille, 1889

Jugendliche Arbeiter bedrohen eine Militärpatrouille, 1889.
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Plan der Truppenstationierung im Ruhrgebiet, Mai 1889

Plan der Truppenstationierung im Ruhrgebiet, Mai 1889.
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Gendarmen vor der Zeche 'Oberhausen', März 1912

Gendarmen vor der
Zeche "Oberhausen",
März 1912.
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