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Geteilte Wahrheiten, geteiltes Wissen und eine geteilte Geschichte, auf die man sich beziehen kann, sind wichtige Pfeiler einer Gesellschaft. Das Spiel mit der Fiktion und historische Spekulationen sind ihr jedoch nicht minder fremd. Was wäre gewesen, wenn die Geschichte einen anderen Verlauf genommen hätte, wenn an einer bestimmten Stelle andere Entscheidungen getroffen worden wären? Welche Auswirkungen hätte diese Richtungsänderung gehabt? Es ist ein beliebtes Motiv in den Künsten und von Filmen und Fernsehproduktionen im Besonderen, im Reich der Fiktion alternative historische Szenarien zu entwerfen und eine andere, alternative Geschichte zu imaginieren. Besonders viel Fantasie entwickeln diese Gedankenspiele beim Spekulieren über die Geschichte des „Dritten Reichs“. Was wäre gewesen, wenn die deutschen Truppen England besetzt hätten, wenn die deutsche Wehrmacht den Zweiten Weltkrieg gewonnen und Hitler überlebt hätte? Es sind Fragen wie diese, mit denen sich die Filme der Retrospektive Roads not Taken. Alternative historische Erzählungen im Film beschäftigen.

Als fotografisches Medium scheint der Film prädestiniert dafür zu sein, glaubwürdig und eindrücklich hypothetische Setzungen spielerisch zu ergründen. Darüber hinaus kalkulieren Genres mit dem Wissen und den Erwartungen des Publikums, während rekontextualisiertes Archivmaterial, etwa in Mockumentaries und Dokufiktionen, die Bedeutung und den Aussagewert des ursprünglichen, historisch korrekten Zusammenhangs verschiebt. Die Filme legen Kontinuitäten und Brüche, Zwangslagen und Handlungsspielräume offen, sie unterhalten und sind künstlerischer Ausdruck von Gesellschaften, die sich über sich selbst verständigen.

Die Filme der Retrospektive bewegen sich zwischen Ernsthaftigkeit und spielerischer Provokation. Während die älteren Beispiele, die auf zeitgenössische Bedrohungen reagieren, warnen möchten und daran appellieren, sich dem fragilen Status der Gegenwart bewusst zu werden, schleicht sich mit zunehmendem zeitlichen Abstand ein humoristischer Blick auf die Geschichte ein, ein Spiel mit medialen Geschichtsbildern, das sich eines geteilten, gemeinsamen Wissensschatzes der Zuschauer*innen bedient. Das Lachen aus sicherer Distanz bestätigt so letzten Endes das, was man inzwischen besser weiß.

Die Attraktivität alternativer historischer Erzählungen besteht darin, sich mit der Historie und ihren Möglichkeitswelten auseinandersetzen und über ein geteiltes Wissen verständigen zu können: ein Potential, das in Zeiten, in denen von Postfaktizität die Rede ist, umso wichtiger ist. Roads not Taken. Alternative historische Erzählungen im Film erweitert die in Kooperation mit der Alfred Landecker Foundation entstandene Ausstellung Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können um Filme, die alternative Geschichtsszenarien erproben. (Mathias Barkhausen)

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