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              Die preußische 
              und die Kaiserliche Marine 
              in den ostasiatischen Gewässern: 
              Das militärische Interesse an Ostasien 
              von Michael Salewski 
            Die "Berliner Illustrirte 
              Zeitung" machte am 10. April 1898 mit den ersten "Bildern aus Kiautschou" 
              auf. "Von allen überseeischen ›Erwerbungen‹", hieß es gleich einleitend, 
              "die sich das Deutsche Reich, seitdem es seinen Beruf für eine Kolonialmacht 
              entdeckt, zugelegt hat, ist keine in so kurzer Zeit so populär geworden, 
              wie unsere ›Pachtung‹ in China, Kiautschou. In diesem Zeichen gingen 
              zwei Drittel aller Kostümfeste des verflossenen Winters in Scene, 
              die Coupletdichter stürzten sich mit wahrer Wonne auf den ›dankbaren‹ 
              Stoff, und auch die Industrie ging nicht ganz daran vorüber. Und 
              während der Deutsche im allgemeinen unsern Kolonien recht kühl gegenübersteht, 
              für Kiautschou hat auch der Oppositionsmann etwas übrig. Um so mehr 
              als die anfänglichen befürchteten kriegerischen Verwicklungen ausgeblieben 
              sind …"1  
              Im gleichen Jahr erschien der Reisebericht jenes Geheimen Marine-Hafenbaudirektors 
              in Kiel, Georg Franzius, dessen positives Votum für Kiautschou den 
              letzten Ausschlag zur "Erwerbung" der Bucht geliefert hatte unter 
              dem Titel: "Kiautschou. Deutschlands Erwerbung in Ostasien". Innerhalb 
              eines halben Jahres wurde das Buch in vier Auflagen verbreitet - 
              aber daran war nicht Franzius noch dessen farbenfroher Bericht, 
              sondern kein Geringerer als der Kaiser persönlich "schuld", denn 
              dieser hatte nicht nur das Geleitwort beigesteuert, sondern auch 
              den Entwurf zur Einbanddecke und einige geradezu phantastische Bilder. 
              "Wo ein deutscher Mann in treuer Pflichterfüllung für sein Vaterland 
              fallend begraben liegt", so setzte Wilhelm II. ein faksimiliertes 
              Autograph hinzu, "und wo der deutsche Aar seine Fänge ins Land geschlagen 
              hat, das Land ist deutsch und wird deutsch bleiben!"2 
              Es kommt nicht von ungefähr, daß die Worte "Pachtung" und "Erwerb" 
              von der Presse in Anführungszeichen gesetzt wurden: Nachdem der 
              "Reichsanzeiger" am 5. Januar 1898 die Festsetzung in Kiautschou 
              amtlich verkündet hatte, war die Öffentlichkeit davon überzeugt, 
              daß die Bucht ein für allemal deutsch geworden war. Wilhelm II. 
              ließ keinerlei Zweifel daran, daß die Zukunft Tsingtaus militärisch 
              bestimmt sein würde, das zeigte schon die bei Franzius abgedruckte 
              eigenhändig gezeichnete vergleichende Flottenliste des Kaisers. 
              Sie trug das Datum "Februar 1898". In drei sauber untereinander 
              gezeichneten Kolonnen von Schiffssilhouetten erschienen die "Seestreitkräfte 
              Japans, Deutschlands und Rußlands in Ostasien". 14 japanische und 
              14 russische Kriegsschiffe aller Klassen rahmten 8 deutsche ein 
              - wer wollte, konnte aus dieser kaiserlichen "Maling" (Zeichnung) 
              Realität und Programm der deutschen Ostasienpolitik schon ableiten.3 
               
              In Wirklichkeit sollte die deutsche Festsetzung in Kiautschou nicht 
              den Anfang, sondern eher schon das Ende des deutschen überseeischen 
              Ehrgeizes in Ostasien markieren, auch wenn die Verantwortlichen 
              genau dies hofften und glaubten. "Am Sonntag, den 14. November erfolgte 
              die Besitzergreifung. ›Kaiser‹ und ›Prinzeß Wilhelm‹ gingen in der 
              kleinen Bucht von Tsingtau vor Anker, um ihre hier an der Brücke 
              landenden Truppen zu decken, während ›Cormoran‹ in die Bucht von 
              Kiautschou bis zum Horse-shoe Riff lief, um den chinesischen Truppen 
              von Norden her in den Rücken zu fallen und besonders die Munitionshäuser 
              zu besetzen. Das aus 30 Offizieren, 77 Unteroffizieren und 610 Mann 
              bestehende Landungskorps war überrascht, am Lande nicht den geringsten 
              Widerstand zu finden. Noch überraschter aber waren dann die 1600 
              bis 2000 Mann zählenden Chinesen, als sie plötzlich ihre Munitionshäuser 
              und Lager von unsern Truppen besetzt sahen …"4 
               
              Konteradmiral Diederichs ließ um 21/2 Uhr die deutsche Flagge "mit 
              drei Hurrahs auf seine Majestät den Kaiser" hissen und erließ folgende 
              Proklamation: "Ich, der Chef des Kreuzergeschwaders, Kontreadmiral 
              v. Diederichs, mache hiermit bekannt, daß ich auf Allerhöchsten 
              Befehl seiner Majestät des deutschen Kaisers die Kiautschoubucht 
              und die vorliegenden Inseln … besetzt habe. Dies geschieht, um Bürgschaft 
              zu haben, für die Erfüllung der Sühneforderungen, welche an die 
              chinesische Regierung wegen der Ermordung deutscher Missionare in 
              Shantung gestellt werden müssen."5  
              Die Ermordung zweier Steyler Missionare hatte bekanntlich als lang 
              erhoffter Vorwand dienen müssen, um sich in Kiautschou gewaltsam 
              militärisch festzusetzen, aber ohne eine lange diplomatische, seestrategische 
              und technische Vorbereitung wäre dieser Coup kaum möglich gewesen. 
              Wenn den Verantwortlichen in Berlin dennoch alles andere als wohl 
              war, das Oberkommando der Marine in fliegender Hast einen Operationsplan 
              gegen Japan entwarf,6 die recht massiv 
              vorgetragenen russischen Proteste das Auswärtige Amt höchst unangenehm 
              berührten,7 so zeigte dies nur, auf 
              welch schmalem Grat sich schon die Anfänge der deutschen "Weltpolitik" 
              bewegten.8  
              Ob das Deutsche Reich überhaupt jemals in der Lage sein konnte, 
              es den großen anderen europäischen Mächten, vor allem also England, 
              Rußland, Frankreich, aber auch den Niederlanden, im Erwerb überseeischer 
              Stützpunkte und Kohlestationen gleichzutun, war eine Frage, die 
              sich schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in Berlin gestellt 
              hatte.  
              Die von Friedrich dem Großen privilegierte "Königlich Preußische 
              Asiatische Handlungs-Compagnie von Emden auf China" ließ in den 
              kurzen Friedensjahren zwischen dem 2. und dem 3. Schlesischen Krieg 
              ein rundes Dutzend Mal mit eigenen Schiffen Kanton anlaufen; bekannt 
              geworden ist die Fahrt der "König von Preußen", "bemannt mit 120 
              Matrosen und 12 Grenadieren und bestückt mit 36 Kanonen".9 
              Die Geschäfte waren einträglich und ließen sofort den Wunsch nach 
              staatlicher Unterstützung wach werden, aber die europäischen Wirren 
              des nachfolgenden knappen Jahrhunderts machten für Preußen und die 
              übrigen deutschen Staaten den Erwerb irgendwelcher asiatischer Stützpunkte 
              völlig unmöglich; nicht ohne Neid mußte man die erfolgreichen französischen, 
              niederländischen, vor allem aber englischen Bemühungen um ein Fußfassen 
              in China und Südostasien verfolgen. Erst mit den politischen und 
              militärischen Folgen der Revolution von 1848 begann eine eigenständige 
              preußische Marine- und Stützpunktpolitik; der geistige Vater war 
              neben Friedrich List Adalbert von Preußen, dessen berühmte Denkschrift 
              von 1848 zur "Magna Charta" der deutschen Marinegeschichte wurde.10 
              "6 Fregatten von 60 Kanonen", so meinte er, seien völlig ausreichend 
              "um, mit Ausnahme Nordamerika's, mit allen anderen Staaten der neuen 
              Welt Krieg zu führen; denn keiner derselben kann uns mehr Streitkräfte 
              entgegenstellen. Ebenso würden wir unserer jungen Flagge in den 
              chinesischen Gewässern diejenige Achtung nöthigenfalls erzwingen 
              können, deren dort die anderen seefahrenden Nationen bereits genießen."11 
               
              Das war 1848 nur Zukunftsmusik, aber die Frage nach der preußischen 
              Marinepräsenz in Ostasien war seitdem nicht mehr verstummt, und 
              es fehlte im kommenden Jahrzehnt nicht an allerlei Projekten,12 
              in denen Nord- und Südamerika, die Inselwelt des Pazifischen Ozeans, 
              vor allem aber China, Siam und Japan die wichtigste Rolle spielten. 
              Dabei ging es um Flotten- und/oder Kohlestationen; nachdem der Krimkrieg 
              endgültig erwiesen hatte, daß die Zukunft der Marine bei den kohlebefeuerten 
              Dampfschiffen liegen würde,13 wurden 
              entsprechende Kohle-Stützpunkte zur zwingenden Notwendigkeit, wollte 
              man außerhalb der engen Heimatgewässer mit Seestreitkräften operieren. 
              Der Staatssekretär des Reichsmarineamtes, Vizeadmiral Hollmann, 
              definierte: "Unter Flottenstationen sind gesicherte Plätze im Auslande 
              verstanden, welche, unter deutscher Gebietshoheit stehend, unseren 
              Schiffen jederzeit die Möglichkeit gewähren, ihren Bedarf an Proviant, 
              Kohlen, Munition, wie überhaupt an Vorräten jeglicher Art, zu decken. 
              Werkstätten, Docks, Hellinge sollen die Ausführungen von Reparaturen, 
              Lazarette die Aufnahme von Kranken und Verwundeten, Kasernements 
              die Unterbringung von Ersatzmannschaften für die Schiffe ermöglichen. 
              Im Kriege bilden die Stationen die Basis für alle Unternehmungen, 
              sie dienen der Flotte als Sammelpunkt und Rückhalt, den Handelsschiffen 
              als sichere Zufluchtsstätte."14  
              Damit war das Idealziel umschrieben. In Wirklichkeit mußten sich 
              die preußischen Schiffe in Ostasien auf englisches und französisches 
              Wohlwollen und deren maritime Infrastruktur in den "Vertragshäfen" 
              stützen. Diese waren sowohl in Siam und Japan wie auch in China 
              Resultat jener "ungleichen Verträge", die nach dem englischen Einbruch 
              nach China auf scheinlegale Weise den schwächlichen Regimes in diesen 
              Ländern abgenötigt worden waren. Der eigentliche Paukenschlag erfolgte 
              1853 mit der mehr oder weniger gewaltsamen Öffnung Japans durch 
              das amerikanische Geschwader des Kommodore Perry,15 
              in dessen Gefolge ein wahrer Run der europäischen Mächte nach Ostasien 
              einsetzte. Die preußische Ostasienexpedition, die zumeist den Namen 
              des preußischen Gesandten Graf Eulenburg trägt, fügte sich in dieses 
              Muster und verschaffte Preußen-Deutschland16 
              das eigentliche machtpolitische Entrée nach Ostasien; man kann durchaus 
              behaupten, daß diese Unternehmung, die ein gut Teil der preußischen 
              maritimen Ressourcen in Anspruch nahm, der vorweggenommene Auftakt 
              der deutschen "Weltpolitik" war, wie sie mit der "Erwerbung" Kiautschous 
              ins allgemeine politische Bewußtsein der Nation trat.17 
              Dabei waren nicht so sehr die von Eulenburg erreichten Vertragsabschlüsse 
              mit Japan, China und Siam ausschlaggebend, zumal Preußen die Sprachregelung 
              ausgab, man wolle "nur" Handel treiben und hege keinerlei machtpolitische 
              Ambitionen, als vielmehr die langfristigen personellen Konsequenzen 
              dieses Unternehmens: Der Gesandte Eulenburg wurde Bismarcks Innenminister, 
              der Expeditionsarzt Lucius war kein anderer als Bismarcks Minister 
              Lucius von Ballhausen, der Attaché Max von Brandt wurde Gesandter 
              in Japan und China und avancierte in der "heißen" Phase des Kiautschou-Coups 
              zur grauen Eminenz im Auswärtigen Amt; Freiherr von Richthofen, 
              der Geograph, begründete wesentlich die Theorie des deutschen Imperialismus. 
              "Von den 64 Seeoffizieren, Kadetten usw., die den vier Schiffen 
              der Expedition zugeteilt waren, rückten nicht weniger als 23 im 
              Laufe der Jahre zu Admirals- oder Generalsrang auf; zwei von ihnen, 
              Vizeadmiral Heusner und Admiral Hollmann, übten zu verschiedenen 
              Zeiten das Amt des Staatssekretärs des Reichsmarineamtes aus."18 
              Das heißt: Ein beträchtlicher Teil jener führenden politischen und 
              militärischen Elite, die seit Bismarcks Ernennung zum preußischen 
              Ministerpräsidenten 1862 das Deutsche Reich schuf, hatte unmittelbare 
              persönliche Erfahrungen mit dem Fernen Osten. Alle Entscheidungen 
              fielen daher nicht vom grünen Tisch der Theorie, sondern auf Grund 
              sehr exakter politischer, militärischer, wirtschaftlicher, kultureller, 
              aber auch geographischer und strategischer Erfahrungen. Das unterschied 
              die deutsche Kolonialpolitik in Ostasien fundamental von jener in 
              Afrika oder im pazifischen Raum. Wenn die Deutschen später an Tsingtau 
              mit ihrem Herzblut hingen, so kann man das fast wörtlich nehmen, 
              war doch ein Drittel der Expeditionsteilnehmer 1860/61 ums Leben 
              gekommen. Der Untergang des Schoners "Frauenlob" im Taifun wirkte 
              noch jahrzehntelang wie ein Vermächtnis, das Kaiser und Reich zu 
              wahren hatten. Wenn die praktische Tagespolitik betreffs Ostasiens 
              im Auswärtigen Amt ein Vierteljahrhundert später eher dilettantisch 
              betrieben wurde,19 so blieb sie doch 
              hochemotionalisiert.  
              Daß es der preußischen Politik 1859/60 nicht allein um günstige 
              Handelsverträge ging, machte der Auftrag deutlich, nach Möglichkeit 
              auch maritime Stützpunkte zu erwerben - sei es auf Formosa, auf 
              Hawaii oder in Patagonien.20 Dazu kam 
              es nicht, aber fortan blieb das Thema "Stützpunkt in Fernost" auf 
              der politischen Tagesordnung; 1868 wurden die ersten Kriegsschiffe 
              nach Ostasien verlegt; als die beiden Korvetten "Hertha" und "Medusa" 
              1869/70 in Singapur eintrafen, galt die "Ostasiatische Schiffsstation" 
              als offiziell gegründet,21 und in den 
              nachfolgenden Jahren blieb die preußische, dann kaiserliche Marine 
              mit einer Handvoll Auslandskreuzer in den japanischen und chinesischen 
              Gewässern präsent. Schon in den politisch bewegten Zeiten der Reichseinigungskriege 
              wurde das Bedürfnis nach einer eigenen Flottenstation immer größer, 
              aber außer einem kleinen "Marine-Grund" in Yokohoma blieb das Ostasiatische 
              Geschwader auf das Wohlwollen vor allem Englands, Rußlands und zunehmend 
              Japans angewiesen. Dieser Zustand wurde als völlig unbefriedigend 
              empfunden, auch wenn Bismarck aus übergeordneten politischen Motiven 
              1865 die Weisung erteilt hatte, im Fernen Osten keine eigenständige 
              deutsche Kolonial- und Marinepolitik zu treiben, sondern sich ganz 
              nach den Wünschen der übrigen dort präsenten europäischen Großmächte 
              zu richten.22 Nach 1871 lag Bismarck 
              daran, im Fernen Osten kein Spannungsgeflecht entstehen zu lassen, 
              in das Deutschland auf der einen oder anderen Seite hineingezogen 
              werden konnte, auch wenn die ständig anwachsenden ökonomischen Interessen 
              des jungen Reiches in China nach einer Unterstützung und Absicherung 
              durch maritime Machtmittel geradezu schrien. "In Ostasien", so bedeutete 
              der Reichskanzler dem national-liberalen Abgeordneten Bürklin, "müssen 
              wir uns durch geeignete Verträge unsere Vorteile wahren. Erwerbung 
              von Land hat dort keinen Sinn."23  
              Die Marine war, natürlich, völlig entgegengesetzter Meinung, aber 
              die Rolle von Admiralität und Oberkommando war politisch gesehen 
              viel zu schwach, um eine selbständige Marine-Außenpolitik zu treiben. 
              Erst der doppelte "Machtwechsel" von 1888 und 1890 - Regierungsantritt 
              Wilhelms II., Sturz Bismarcks - ließ die politischen Aktien der 
              Marine steigen - jetzt sprunghaft. 
              Wilhelm II., der sich mit der Erwerbung Helgolands 1890 als wahrhafter 
              "Mehrer des Reiches" empfunden hatte, war als Verfechter des Kreuzerkriegsgedankens 
              mit der Problematik von Flotten- und Kohlestationen wohl vertraut 
              und konnte der Unterstützung durch den Chef des Reichsmarineamtes 
              Hollmann - einen Teilnehmer der Eulenburg-Expedition - sicher sein. 
              Die wachsenden Spannungen zwischen dem sich rasant modernisierenden 
              Japan, das nahezu aus dem Nichts binnen weniger Jahre eine moderne, 
              imponierende Flotte schuf, und dem anscheinend immer schwächer werdenden 
              China ließ die Frage nach deutschem Landerwerb in China immer dringlicher 
              werden, zumal man in der Wilhelmstraße davon ausging, daß zumindest 
              England und Rußland bei erster sich bietender Gelegenheit weitere 
              Stützpunkte in China zu erwerben suchen würden. Es bestand in deutschen 
              Augen also die Gefahr, wieder einmal zu spät zu kommen und den "Platz 
              an der Sonne" zu verpassen.24 Es waren 
              dann die Folgen des japanisch-chinesischen Krieges mit dem Frieden 
              von Shimonoseki, die die Dinge in Fluß brachten; die ungeschickt-unglückliche 
              Beteiligung Deutschlands an der Interventionspolitik des "ostasiatischen 
              Dreibundes" gegen Japan versetzte den bis dahin guten deutsch-japanischen 
              Beziehungen einen Stoß, von dem sie sich bis 1914 nicht mehr erholen 
              sollten, gleichzeitig aber war damit das politisch-diplomatische 
              Feld für den deutschen Stützpunkterwerb in China bereitet, glaubte 
              die Wilhelmstraße doch, daß China aus purer "Dankbarkeit" entsprechenden 
              deutschen Wünschen nachkommen werde. Daß das Reich im Fernen Osten 
              seitdem mit der Feindschaft Japans rechnen mußte, machte aber die 
              Stützpunktpolitik von Anfang an fraglich - es sei denn, man wollte 
              in Fernost eine ähnlich machtvolle seestrategische Position aufbauen, 
              wie dies England und - mit Einschränkungen - Rußland versuchten. 
              Aber damit war die Gretchenfrage gestellt: Was eigentlich wollte 
              die Kaiserliche Marine, was wollte die kaiserliche Marinepolitik, 
              in welchen größeren politischen Zusammenhängen mußte die maritime 
              Ostasienpolitik stehen?  
              Diese Fragen sind für die Zeit bis 1897 völlig anders zu beantworten 
              als für die Jahre von 1897 bis 1914. Die schärfste Zäsur bildet 
              die Ernennung von Alfred Tirpitz zum Chef des Reichsmarineamtes 
              im Jahr 1897. Hatte Hollmann bis dahin die Idee des Kreuzerkrieges 
              favorisiert, in dessen Rahmen einer Stützpunktpolitik im Fernen 
              Osten eine geradezu strategische Bedeutung zukam, ließ sich der 
              Kaiser mit der "Dienstschrift IX" vom völlig entgegengesetzten Schlachtflottenkonzept 
              Tirpitz' überzeugen.25 Die Festsetzung 
              in Kiautschou erfolgte exakt zu jenem Zeitpunkt, als das strategische 
              Konzept wechselte: Tsingtau bildet so betrachtet den Höhepunkt der 
              "Kreuzerkriegsschule" - und war zugleich ein "totgeborenes Kind", 
              denn im Schlachtflottenkonzept spielten außerheimische Gewässer 
              und Stützpunkte keine Rolle mehr. Einzig die Nordsee, genauer: das 
              "nasse Dreieck" der Deutschen Bucht, sollte der Schauplatz der großen 
              Seeschlacht und der Entscheidung sein. Die strategische Konzeption, 
              die nach Kiautschou führte, wurde dem Auswärtigen Amt vom Oberkommando 
              der Marine sorgfältig und eindringlich erläutert; Flottenstationen, 
              so bedeutete Hollmann dem Staatssekretär des Äußeren, Freiherrn 
              von Marschall, seien im Fall eines Kreuzerkrieges "geradezu eine 
              Existenzbedingung für die Schiffe",26 
              sie seien erforderlich zur "Geltendmachung des Willens", und das 
              Reich könne nur so "China und Japan gegenüber mächtig dastehen".27 
              Aber nicht nur das: In der ihm typischen, unnachahmlichen Weise 
              brachte es Wilhelm II. auf den Punkt, als er auf die Wegnahme von 
              Port Arthur durch Rußland als Folge der deutschen Festsetzung in 
              Kiautschou mit einem Telegramm an Nikolaus II. reagierte: "Please 
              accept my congratulations at the arrival of your squadron at Port 
              Arthur. Russia and Germany at the entrance of the Yellow Sea may 
              be taken as represented by St. George and St. Michael shielding 
              the Holy Cross in the Far East and guarding the Gates to the Continent 
              of Asia."28  
              Als Fernziel schwebte der Kreuzerkriegsschule der Ausbau von Kiautschou 
              als eines "Gibraltars" am Gelben Meer vor (in den Akten taucht das 
              Wort "Gibraltar" tatsächlich auf!), das heißt einer seestrategischen 
              Position, die nur dann das werden konnte, was sie sein sollte, wenn 
              ihr eine mächtige Kreuzerflotte entsprach. Diese sollte aus 6 Linienschiffen, 
              4 Küstenpanzern, 2 großen und 6 kleinen Kreuzern, 6 Kanonenbooten 
              und einer Torpedobootsdivision bestehen.29 
              "Ohne kräftigen Druck und ohne Macht, die von der Küste aus sichtbar, 
              ist hier gar nichts zu machen", hatte schon 1896 der forsche deutsche 
              Gesandte in Peking, Edmund Freiherr von Heyking, gekabelt; "Geld 
              und Kriegsschiffe" seien allein die Sprache, die China (und natürlich 
              alle anderen Mächte) verstünden.30  
              Von daher war es logisch, daß Kiautschou dem Reichsmarineamt zur 
              Verwaltung übertragen wurde - aber es war das gleiche Reichsmarineamt, 
              das dann nach dem Motto von Tirpitz verfuhr: "Hauptbedingung (für 
              Tsingtau) war mir die wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit; eine 
              rein militärische Basis zu schaffen schien mir nicht geraten."31 
               
              Der Grund für diese Zurückhaltung lag im Schlachtflottenkonzept: 
              Da sämtliche Ressourcen des Reiches für den Schlachtflottenbau und 
              die - letztlich utopische - Entscheidungsschlacht in der Nordsee 
              gegen England benötigt wurden, blieb für den strategischen Auf- 
              und Ausbau Kiautschous nichts übrig, ja Tirpitz wandte sich in den 
              kommenden Jahren vehement gegen alle Pläne, das Ostasiatische Kreuzergeschwader 
              zu verstärken - solange der Flottenbau nicht beendet war. Daß der 
              Großadmiral nach Erreichen dieses Ziels sehr wohl an den zweiten 
              Schritt, die Projektion der deutschen Seemacht nach Ostasien, dachte, 
              steht allerdings fest. Wenn Tsingtau zur "Musterkolonie" wurde, 
              so war dies in seinen Augen nur das Präludium zum Muster-Flottenstützpunkt. 
              "Der Gedanke, uns einen starken Stützpunkt in Ostasien zu schaffen, 
              nach dem die Deutschen gravitieren konnten, war richtig; aber die 
              Vorbedingung war, daß wir uns mit Japan gutstellten."32 
              Mit dem Amtsantritt von Tirpitz als Staatssekretär im Reichsmarineamt 
              wurde Tsingtau zum Wechsel auf eine noch ferne Zukunft; was sich 
              demgegenüber seestrategisch und marinepolitisch zwischen 1897 und 
              1914 tat, gehorchte politischen und maritimen Augenblicksnotwendigkeiten, 
              trug zur Schürzung des weltpolitischen Knotens im Fernen Osten jedoch 
              erheblich bei.  
              Und dies vor allem auch in psychologischer Hinsicht, denn der Kaiser, 
              wie ein großer Teil der kolonialenthusiastischen Öffentlichkeit, 
              weckten nach 1898 den Anschein, als würde das Reich mit unbändiger 
              Kraft und "gepanzerter Faust" seinen Willen in Fernost allen anderen 
              Mächten oktroyieren. Vor allem die Vorgänge um das deutsche Engagement 
              während des "Boxer-Aufstandes" trugen entgegen aller "Weltmarschall"-Euphorie, 
              trotz Seymours "The Germans to the Front!", zur Eintrübung des deutsch-britischen, 
              vor allem aber auch des deutsch-japanischen und deutsch-russischen 
              Verhältnisses bei.33 Deutschland trat 
              in China mit 20000 Mann und 26 Schiffen als drittstärkste Seemacht34 
              auf und ließ etwas von den wahren Zielen der deutschen maritimen 
              Ostasienpolitik ahnen - aber das ganze Unternehmen, von den Sozialdemokraten 
              im Reichstag ob seiner verfassungspolitisch bedenklichen Konsequenzen 
              scharf verurteilt, war der reinste Anachronismus und mit 240 Millionen 
              Reichsmark teurer als der Kaiser-Wilhelm-Kanal.35 
              Der Euphorie folgte denn auch der Katzenjammer, seit 1901 wurde 
              die maritime Präsenz im Fernen Osten systematisch wieder abgebaut. 
              Das englisch-japanische Bündnis vom 30. Januar 1902, vom Auswärtigen 
              Amt völlig falsch interpretiert, entzog dann allen deutschen Flottenplänen 
              schon endgültig den Boden. Resignierend stellte der Admiralstab 
              fest: "Unter diesen Umständen bildet der genannte Hafen … im Falle 
              kriegerischer Verwicklungen keinen Stützpunkt für unsere in Ostasien 
              stationierten Land- und Seestreitkräfte. Das Kreuzergeschwader wird 
              sich bei Ausbruch eines Krieges in anderen Seegebieten zu basieren 
              suchen. Für die Vertheidigung von Kiautschou kommen die Schiffe 
              daher nicht in Betracht. Es muß damit gerechnet werden, daß die 
              Kolonie unmittelbar nach Kriegsausbruch von den überlegenen Flotten 
              unserer möglichen Gegner in Ostasien (Zweibund, Union, England, 
              Japan) genommen wird."36  
              Ein Vergleich der Flottenstärken37 ließ 
              Deutschland (und Österreich) in den ostasiatischen Gewässern auch 
              nicht den Hauch einer Chance; Tsingtau war eben ein Wechsel auf 
              eine ferne Zukunft gewesen, diese aber war dem Reich mit dem Ausbruch 
              des Ersten Weltkrieges radikal abgeschnitten. Hatten Tsingtau und 
              das Ostasiatische Kreuzergeschwader noch während der chinesischen 
              Revolution von 1911/12 eine nützliche Rolle spielen können, so blieb 
              ihm im August 1914 nichts übrig, als ohne jeglichen landstrategischen 
              Rückhalt gegen die britische Übermacht zu operieren. Sieg und Untergang 
              des Speeschen Geschwaders bei Coronel und den Falklands illustrierten 
              in dramatisch-tragischer Weise noch einmal die Möglichkeiten und 
              Grenzen des deutschen maritimen Übersee-Engagements.38 
               
              Der Fall der Festung Tsingtau am 7. November 191439 
              war ebenso unvermeidlich wie logisch, nachdem Politik und Strategie 
              es versäumt hatten, Kiautschou politisch und militärisch zu sichern. 
              Ersteres wäre nur möglich gewesen, wenn das Reich und nicht England 
              mit Japan verbündet gewesen wäre, letzteres, wenn Tirpitz auf das 
              Schlachtflottenkonzept verzichtet hätte. Ob dann die causa prima 
              des deutsch-britischen Gegensatzes entfallen und der Weltfriede 
              gerade deswegen ebenso erhalten geblieben wäre wie Tsingtau, bleibt 
              eine offene Frage.  
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