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Der Aufbau der Kolonialstadt Tsingtau:
Landordnung, Stadtplanung und Entwicklung

von Torsten Warner

Ein dreiteiliges Regelwerk aus Landordnung, Stadtentwicklungskonzept und Bauordnung schuf die Rahmenbedingungen für den Aufbau der deutschen Stadt Qingdao (Tsingtau) zwischen 1898 und 1914. Dabei dienten den Planern des Reichsmarineamts das britische Hongkong und die anderen ausländischen Niederlassungen sowohl als positives Vorbild wie auch als abschreckendes Beispiel. Während sie an den wirtschaftlichen Erfolg dieser ausländisch verwalteten Siedlungen anknüpfen wollten, galt es die dort beobachteten Probleme und Mißstände zu verhindern. Qingdaos städtebauliche Entwicklung spiegelt damit die zwischen Chinesen und den Fremden bestehende Wechselwirkung von Annäherung und Abgrenzung in vielfältiger Weise wider.

Landordnung
Direkt anschließend an die Besetzung der Jiaozhou-Bucht (Kiautschou-Bucht) am 14. November 1897 verfügte Konteradmiral v. Diederichs, daß für jeden Besitzwechsel von Grundstücken die Genehmigung des deutschen Gouvernements erforderlich sei. Dabei verwendete er eine Proklamation in chinesischer Sprache, die bereits Monate zuvor in der deutschen Gesandtschaft in Beijing (Peking) verfaßt worden war.1 Da dem Admiral für einen sofortigen Kauf eines großen Areals weder genügend Geld noch ausreichend geschultes Personal zur Verfügung stand, entschied v. Diederichs, zunächst nur das Vorkaufsrecht für das Land zu erwerben. Für die Übernahme dieser Verpflichtung erhielten die chinesischen Grundeigentümer den zweifachen Betrag der bislang jährlich zu entrichtenden Grundsteuer ausgezahlt, außerdem konnten sie ihre Felder wie gewohnt weiternutzen.2
Dem Reichsmarineamt war bewußt, daß der Landerwerb durch Ausländer ein besonders sensibles Thema in China war. Konflikte, wie sie beispielsweise Missionare oder Eisenbahningenieure erlebten, sollten in Qingdao verhindert werden. Somit benötigte man Fachleute, die neben chinesischen Sprachkenntnissen auch über genügend Landeskunde im Bereich von Besitz-, Kauf-, Miet- und Rechtsverhältnissen verfügten, um mit den chinesischen Grundbesitzern die Verhandlungen führen zu können. Da es im Reichsmarineamt keine derartigen Kenner Chinas gab, suchte man um Unterstützung durch das Auswärtige Amt nach, das für diese Aufgabe den am Generalkonsulat in Shanghai tätigen Dolmetscher Wilhelm Schrameier zum Dienst in Qingdao verpflichtete. Schrameier, der bereits seit 1885 als Dolmetscher des Auswärtigen Amtes in Beijing, Hongkong, Guangzhou (Kanton) und Shanghai tätig war, begann im Dezember 1897 in Qingdao mit der Durchführung des Landerwerbs.
Durch das erworbene Vorkaufsrecht verfügte das Gouvernement über eine Monopolstellung, die ausschloß, daß andere Käufer als Konkurrenten auftreten konnten. Darauf aufbauend, wurden in Absprache mit den Ortsvorständen einheitliche Kaufpreise für die Grundstücke festgelegt, die sich an den Beträgen orientierten, die zwischen 1891 und 1897 durch den chinesischen General Zhang bei Landankäufen für den Aufbau seiner Garnison gezahlt worden waren. Zusätzlich vergütet wurden die auf den Grundstücken stehenden Gebäude. Grundsatz blieb, daß sich die chinesischen Grundbesitzer nicht übervorteilt fühlen sollten.3
Schrameier hatte während seines Aufenthaltes in China beobachten können, wie in den ausländisch verwalteten Gebieten mit Bodenspekulation viel Geld verdient wurde. »Land gambling« war ein zentraler Bestandteil des Wirtschaftslebens geworden. So hatten sich beispielsweise in Shanghai die Bodenpreise zwischen 1842 und 1910 um das Fünfhundert- bis Tausendfache gesteigert, ohne daß die Stadtverwaltung davon finanziell profitiert hätte. Für Qingdao entwarf Schrameier daher eine Landordnung, die das Gouvernement - das schließlich auch die Infrastruktur der Stadtgründung geschaffen hatte - an den Wertsteigerungen der Grundstücke beteiligte. So war festgelegt, daß bei einem späteren Eigentümerwechsel ein Drittel des Gewinns aus dem Grundstücksverkauf - abzüglich der eigenen Investitionen - an das Gouvernement als sogenannte Wertzuwachssteuer abgeführt werden mußte. Ausdrückliche Zustimmung fand die Landordnung beim Staatssekretär des Reichsmarineamts, Tirpitz, der in Ostasien die Nachteile einer »schrankenlosen Bodenspekulation in den dortigen europäischen ›Settlements‹« 1896 selbst erlebt hatte.4
Die Landordnung von Qingdao verfolgte jedoch weniger finanzpolitische als sozialpolitische Ziele. Hatten doch die hohen Grundstückspreise der anderen ausländischen Niederlassungen zu hohen Mieten für Wohnungen und Häuser geführt. Dies wiederum zwang viele der dort lebenden Menschen, in engsten und keinesfalls den hygienischen Mindestanforderungen genügenden Unterkünften zu wohnen. In Qingdao suchte man die Bodenspekulation zu verhindern, indem die Landordnung beispielsweise eine Bebauungspflicht enthielt. Entsprechend der im Bebauungsplan festgelegten Nutzung mußten Grundstücke innerhalb von drei Jahren bebaut werden. Ansonsten drohte alle drei Jahre eine Erhöhung der Grundsteuer, die regulär bei 6 Prozent des Bodenwertes lag, um jeweils 3 Prozent bis auf 24 Prozent.5 Für Spekulanten sollte es sich nicht lohnen, ersteigerte Grundstücke brachliegen zu lassen.
Das Vorkaufsrecht und der monopolisierte Landkauf dienten zugleich der Verwirklichung stadtplanerischer Ziele. Nachdem das Areal, auf dem die zukünftige Stadt erbaut werden sollte, den chinesischen Grundbesitzern abgekauft worden war, ließ das Gouvernement dort Straßen und Grundstücke abstecken. Erst nach Abschluß dieser Vorarbeiten wurden die Baugrundstücke versteigert. Auf diese Weise mußten die Verfasser des Bebauungsplans bei der Parzellierung der Baugrundstücke und Festlegung des Straßenverlaufs keinerlei Rücksicht auf bestehende Eigentumsverhältnisse nehmen und konnten, gewissermaßen unter Idealbedingungen, die Anlage der neuen Stadt planen.
Ohne direkt beeinflußt worden zu sein, setzte die Landordnung wesentliche Forderungen der Bodenreformbewegung durch, wie sie beispielsweise der Bund Deutscher Bodenreformer unter Adolf Damaschke, aber auch der amerikanische Sozialreformer Henry George und die britische »Tenure Reform Association« unter John Stuart Mill aufgestellt hatten. Insbesondere für den Bund Deutscher Bodenreformer sollte sich die Landordnung als »Geschenk des Himmels« erweisen.6 Zeigte sie doch, daß sich die Ziele des Bundes durchaus in die Praxis umsetzen ließen. Tirpitz hatte die Landordnung in der Etatberatung des Reichstags am 31. Januar 1899 vertreten. Damaschke griff die Bodenpolitik des Reichsmarineamts auf und stellte sie in seiner im März 1900 veröffentlichten Streitschrift »Kamerun oder Kiautschou? Eine Entscheidung über die Zukunft der deutschen Kolonialpolitik« der Bodenpolitik der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes in Kamerun gegenüber. Darin prangerte Damaschke an, daß in Kamerun Kolonialgesellschaften riesige Landgebiete zu Bedingungen überlassen wurden, die ausschließlich den Aktionären der Gesellschaften Vorteile boten. Damaschkes Schrift - die an alle Mitglieder des Reichstages verschickt wurde - machte die Grundsätze der Bodenpolitik in Qingdao erstmals einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Den Namen des Verfassers der Landordnung, Schrameier, erfuhr Damaschke jedoch erst im Juni 1902 durch v. Diederichs, inzwischen Chef des Admiralstabes. Auf Einladung Damaschkes hielt Schrameier dann am 27. November 1902 in Berlin unter dem Thema »Wie die Landordnung von Kiautschou entstand« seinen ersten Vortrag vor dem Bund der Bodenreformer.
In China veranlaßte der Reformpolitiker und Gründer der Republik, Sun Yatsen, Vorsitzender der nationalen Partei Guomindang - er hatte Qingdao 1912 für mehrere Tage besucht und sich dabei sehr beeindruckt gezeigt -, im Jahr 1923, daß Schrameiers 1914 erschienenes Buch »Aus Kiautschous Verwaltung« in chinesischer Übersetzung in Shanghai erschien. 1924 folgte Schrameier der Einladung Suns, als Berater nach Guangzhou zu kommen. Obwohl Sun und auch Schrameier bereits nicht mehr lebten, wurde 1930 das in Zusammenarbeit mit Schrameier verfaßte Programm als Bodengesetz verabschiedet. Dieses kam zwar wegen des nun folgenden Bürgerkrieges nicht mehr auf dem Festland Chinas zur Anwendung, beeinflußte jedoch wesentlich die von der Guomindang in Taiwan verabschiedeten und seither dort gültigen Bodengesetze.7

Stadtentwicklungskonzept
Die Jiaozhou-Bucht war aufgrund einer im Frühjahr 1897 durch den Kieler Hafenbaudirektor Georg Franzius geleiteten Marineexpedition als geeigneter Standort für einen deutschen Marinestützpunkt in Ostasien ausgewählt worden. Die Bucht bot die erforderlichen Voraussetzungen - Untergrund, Wassertiefen, Schutz vor Stürmen -, um hier einen größeren Hafen anzulegen, und auch der Bau einer Bahnlinie als Verkehrsverbindung mit dem Hinterland schien technisch möglich. Dies galt nicht nur wegen der dortigen Kohlevorkommen als besonders lohnend, auch sollte die Funktion als Handelshafen der Stadt zusätzliche Einnahmequellen verschaffen. Die wichtigsten Verkehrsbauwerke der neuen Stadt sollten demnach Hafen und Bahnanlagen sein.
Während Franzius in seiner Planung vorschlug, die Wohn- und Geschäftsviertel der neuzugründenden Stadt östlich des Hafens und somit direkt an diesen angrenzend zu errichten, konnten sich die Planer vor Ort mit einem gänzlich anderen Konzept durchsetzen. Dabei berücksichtigten sie in besonderer Weise die vorgefundenen klimatischen und topographischen Verhältnisse. Im Winter herrschten in dieser Gegend Chinas starke Nordwinde vor, die für große Kälte sorgten, im Sommer dagegen milderten Winde aus Südost die Hitze. Daraus folgte für die Planung, daß die neuzuerbauende Wohnsiedlung gegen Norden durch Hügel geschützt, nach Süden jedoch offen für den kühlenden Seewind angelegt sein sollte. Genau diese Merkmale hatte man bei den chinesischen Siedlungen der Umgebung beobachtet: »Ihre Dörfer sind fast immer gegen Norden durch Höhen gedeckt. (…) Die Nordseiten der Häuser haben weder Fenster noch Türen. Diese Erfahrungen der Bewohner mußten natürlich bei Anlage der Neustadt voll ausgenutzt werden.«8
Auch der Bebauungsplan wurde durch Erfahrungen aus anderen ausländischen Ansiedlungen in China mitbestimmt. Nachdem in Hongkong und Shanghai die Zahl der chinesischen Einwohner der ausländisch verwalteten Gebiete innerhalb von nur 60 Jahren auf über 400000 Personen angestiegen war, so daß der Anteil der Ausländer an der Bevölkerung hier nur bei rund 3 Prozent lag, konnte von einer vergleichbaren Entwicklung mittelfristig auch für Qingdao ausgegangen werden. Doch sollte, wie es Schrameier ausdrückte, eine »Beschränkung und Verdrängung der Europäer« in Qingdao vermieden werden. Danach sah die Siedlungskonzeption des Gouvernements vor, das Areal der zukünftigen Stadt zweizuteilen: In einen »europäischen Teil«, in dem Chinesen zwar Land kaufen und bauen, jedoch nicht wohnen durften (ausgenommen waren lediglich die chinesischen Angestellten der dort lebenden Ausländer), und in das übrige Stadtgebiet, das allen »Chinesen und Nichtchinesen gleichmäßig zum Bewohnen freigegeben« war.9
Überwiegend wurden gesundheitliche Argumente genannt, die für eine Trennung zwischen den Wohnquartieren der Europäer und den chinesischen Arbeitervierteln sprachen. So trat in Hongkong und Singapur regelmäßig die Pest in den am dichtesten besiedelten Stadtteilen auf, in Shanghai litt die chinesische Bevölkerung zusätzlich noch unter Typhusepidemien; die Ausländer fühlten sich durch diese Ansteckungsgefahr bedroht. Ihr Urteil über die hygienischen Zustände chinesischer Siedlungen war überwiegend vernichtend: »die Chinesen mit ihrem unvermeidlichen Schmutz und Geruch«, schrieb der Vermessungsingenieur Hauptmann Maercker. Gleichzeitig entlarvte seine deutliche Sprache weitere Gedanken, die hinter der »ganz scharfen Trennung« zwischen Chinesenstadt und Europäerstadt steckten: Qingdao sollte zu einem in Asien »besonders angenehmen Wohnsitz« für Europäer gemacht werden.10
Dreieinhalb Monate nach dem Beginn der Vermessungsarbeiten, am 2. September 1898, wurde der »Bauplan« für die neue Stadt erstmals öffentlich ausgelegt. Dieser Bebauungsplan ist allerdings nicht einem einzelnen Verfasser zuzuordnen. Vielmehr wird er in Zusammenarbeit zwischen den in den ersten Jahren häufig wechselnden Gouverneuren, der Gruppe der Vermessungsingenieure, dem Leiter der Bauverwaltung, George Gromsch, und seinen Mitarbeitern sowie Wilhelm Schrameier entwickelt worden sein. Ergänzend zu dieser Zeichnung veröffentlichte man eine Bekanntmachung, die den »Charakter der einzelnen Stadtteile«, also die zukünftige Nutzung der einzelnen Straßenzüge und Stadtviertel, bestimmte.
Dabei gingen die Planer systematisch vor, gliederten die Stadt nach Funktionen in unterschiedliche Zonen. Danach sollten in der »Europäerstadt« entlang der Uferstraße »europäische Handelshäuser und Hotels« errichtet werden, die erste Parallelstraße zur Uferstraße war »europäischen Geschäftshäusern« vorbehalten, und das Gebiet nördlich der zweiten Parallelstraße war für die Anlage »villenartiger Wohnungen« vorgesehen, in deren Zentrum das Regierungsgebäude geplant war. Entlang des Ufers, westlich der Landungsbrücke, bestimmte man den Standort von Lagern und Schuppen. Die »Chinesenstadt« sollte im nördlichen Bereich der Stadtanlage, im Umfeld des bereits bestehenden chinesischen Dorfes Dabaodao, liegen. Fabriken und andere industrielle Unternehmungen sollten dagegen im Nordwesten der Stadt angesiedelt werden.11
Trotz der Trennung zwischen Europäer- und Chinesenviertel berücksichtigte die Planung, daß der Handel und die geschäftlichen Beziehungen zu chinesischen Kaufleuten keinesfalls behindert werden durften. Daher grenzten die Chinesenstadt Dabaodao und das Europäerviertel direkt aneinander. Das hügelige Gelände in Qingdao machte es dabei möglich, die einzelnen Stadtteile auf verschiedenen Hängen eines Höhenzuges anzuordnen. Während die Europäersiedlung auf dem Südhang errichtet wurde, lag Dabaodao auf dem Nordhang des Höhenzuges. Die Wasserscheide stellte sicher, daß kein Oberflächenwasser - von den Marineärzten wegen seiner Verschmutzung als besonders gefährlich bezeichnet - aus der chinesischen Siedlung in das Europäerviertel fließen konnte.12
Keine Aussage macht dieser erste Bebauungsplan über die Unterbringung der chinesischen Arbeiter. Angezogen von den im Vergleich zur Provinz Shandong bis zu vierfach höheren Löhnen, wurden sie bei den umfangreichen Bauarbeiten benötigt. Während viele von ihnen in den umliegenden chinesischen Dörfern - die jedoch bald überfüllt waren - Unterkunft fanden, errichteten sich andere provisorische Unterkünfte aus Bambusstangen und Strohmatten. Anscheinend gingen die Planer anfänglich davon aus, daß die hygienische Situation kontrollierbar bliebe. Doch als Seuchen ausbrachen, entschied man sich im Herbst 1899 zum Abriß der chinesischen Dörfer in der näheren Umgebung der Stadtgründung und zum Bau der Arbeitersiedlung Taidong Zhen, die rund 3,5 km Luftlinie in nordöstlicher Richtung vom Zentrum der Stadt entfernt lag. Nur vier bis fünf Monate nachdem die Straßen in Taidong Zhen abgesteckt waren, wohnten dort bereits über 6000 Chinesen. 1902 schätzt Maercker ihre Einwohnerzahl bereits auf 10000 Personen, weshalb im Sommer 1901 im Westen des Europäerviertels eine zweite Arbeitersiedlung, Taixi Zhen, angelegt wurde.13
Taidong Zhens Anlage wurde wesentlich durch stadthygienische Kriterien bestimmt. Auf einer Fläche von 400 x 400 m waren geradlinig verlaufende Straßen abgesteckt, die ein rechteckiges Baublockraster bildeten. Städtebaulich markant war die Ausrichtung der Straßen in Südwest-Nordost- und Südost-Nordwest-Richtung. Dies gewährleistete, daß die Sonne jede Straße und Hausfassade täglich bestrahlte. Feuchte Stellen als mögliche Herde von Krankheiten wurden ausgetrocknet, es gab bei den Gebäuden keine Nordfassaden. Durch die Ausrichtung der Straßen wurde zudem erreicht, daß sie sich genau den sommerlichen und winterlichen Winden öffneten. Die stadthygienischen Anforderungen einer guten Durchlüftung von Straßen und der Belichtung der Häuser wurden zudem durch die 8 m beziehungsweise 10 m breiten Straßen bei nur sehr kleinen Baublöcken (25 x 50 m) optimal erfüllt.
Voraussetzung für eine derart weitläufige Anlage war die Landpolitik des Gouvernements. Dies hatte einerseits die Grundstücke günstig erworben und aus hygienischen Gründen ein besonderes Interesse, die Unterbringung der Arbeiter nicht Spekulanten und Mietwucherern zu überlassen. Das Gouvernement ging sogar noch weiter, indem es die in Qingdao tätigen chinesischen und europäischen Unternehmer verpflichtete, Unterkünfte - die in der Bauordnung festgelegten Mindeststandards genügten - für ihre Arbeiter bereitzustellen. Dabei sollten jedoch keine Mietskasernen nach europäischem Vorbild entstehen, sondern eine Bauweise, die den Bewohnern die Beibehaltung ihrer gewohnten Lebensweise, also der Art zu kochen und der traditionellen Wohnform, ermöglichte. Wie in der traditionellen nordchinesischen Architektur sorgten Innenhöfe für ausreichende Belichtung und Belüftung, selbst das Halten von Tieren war in diesen meist eingeschossigen Gebäuden unproblematisch: »Indem den Arbeitsunternehmern die ordentliche Unterbringung der von ihnen beschäftigten Arbeiter zur Pflicht gemacht wurde, wurden ihnen zugleich größere Flächen zur Errichtung billiger Kulihäuser aus Backstein und Lehm hergegeben, bei denen von einer europäischen Bauart abgesehen und das weitläufigere chinesische Bausystem verlangt ist.«14
Dabei kann diese Form des Arbeiterwohnungsbaus nicht als paternalistisch im Sinne eines Kruppschen Arbeiterwohnungsbaus, sondern muß eher als staatlich verordneter Wohnungsbau bezeichnet werden. In Qingdao war es nicht der Unternehmer, der sich besorgt um die Gesundheit - und damit um die Arbeitskraft - seiner Arbeiter zeigte und daher bemüht war, gute Wohnungen für sie zu schaffen. Vielmehr war es das Gouvernement, das den Ausbruch von Krankheiten und die Gefahr von Epidemien unter den chinesischen Arbeitern verhindern wollte, um so den Fortgang der Bauarbeiten, aber auch die Gesundheit der hier lebenden Europäer zu schützen. Gleichzeitig stellte diese Verpflichtung der Arbeitgeber zum Wohnungsbau für ihre Arbeiter eine, im Vergleich mit anderen ausländischen Ansiedlungen in China, außergewöhnliche und einzigartige soziale Fürsorge dar.

Bauordnung
Im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des Stadtentwicklungskonzepts und der ersten Landversteigerung traten am 11. Oktober 1898 die »baupolizeilichen Vorschriften« in Kraft. Den darin formulierten »Anforderungen der Gesundheit, des Verkehrs, der Festigkeit und der Feuersicherheit« hatte jedes Gebäude zu entsprechen. Während in der Europäerstadt die Anforderung an Baumaterialien und Ausführung im großen und ganzen heimischen Bestimmungen folgten, war in der Chinesenstadt und in den Arbeitersiedlungen - mit gewissen Einschränkungen - die chinesische Bauweise gestattet. Ferner war in den baupolizeilichen Vorschriften festgelegt, daß sich die Gebäude in ihrer äußeren Gesamterscheinung - der Fassade und der Baukörpergestaltung also - dem »Charakter des betreffenden Stadtteiles« anzupassen hatten. In der Europäerstadt unterschied die Bauordnung zwischen den Geschäfts- und den Villenvierteln. Für erstere, in denen sich europäische Geschäftshäuser, Hotels und Ban-ken ansiedeln sollten, war eine Bebauung vorgeschrieben, bei der bis zu 60 Prozent der Fläche eines Grundstücks bebaut werden durften. Die Höhe der Straßenfassade in den Geschäftsstraßen war auf 18 m begrenzt und durfte die Breite der Straßen nicht überschreiten. Über maximal drei zum dauernden Aufenthalt von Menschen vorgesehene Geschosse durften die hier zu errichtenden Gebäude verfügen.
In den Villenvierteln sollte dagegen eine »landhausmäßige Bebauung« entstehen, bei der größere Freiflächen die Gebäude umgaben. Hier war vorgeschrieben, daß höchstens 30 Prozent eines Grundstücks - beziehungsweise 40 Prozent bei Eckgrundstücken - bebaut werden durften. Die Freiflächen um die Gebäude wurden ferner dadurch bestimmt, daß ein mindestens 4 m großer Abstand zwischen den Wohnhäusern, der Straßenfluchtlinie und den Grundstücksgrenzen bestehen mußte. Ferner war in den Villenvierteln eine niedrigere Bebauung festgelegt, lediglich zwei zum dauernden Aufenthalt von Menschen bestimmte Geschosse durften übereinanderliegend errichtet werden.
Der letzte Abschnitt der Bauordnung widmete sich der »Chinesenstadt« Dabaodao. Beeinflußt durch die hygienischen Probleme Shanghais und Hongkongs, wo es zumindest in den ersten Jahrzehnten weder eine Beschränkung der Bebauungsdichte noch der Bauhöhe gab - und sich »das Verbot einer Überfüllung von Kulihäusern praktisch als undurchführbar« erwies15, beschränkte man in Qingdao sowohl die Bauhöhe als auch die bebaubare Fläche eines Grundstücks.
So durften Wohnhäuser in der Chinesenstadt nicht mehr als zwei Stockwerke hoch und die Grundstücke nur zu maximal 75 Prozent bebaut sein. Um der »chinesischen Anspruchslosigkeit«16 und den damit verbundenen gesundheitlichen Risiken entgegenzuwirken, war ferner vorgeschrieben, daß Räume, die zum dauernden Aufenthalt von Menschen bestimmt waren, über eine Mindestfläche von 5 qm und eine Raumhöhe von 2,7 m verfügen mußten. Ähnliche Anforderungen galten auch für die Arbeitersiedlungen, nur daß dort die zum dauernden Aufenthalt von Menschen bestimmten Räume mit einer Fläche von 4 qm und 2,5 m Höhe etwas kleiner sein durften. Ferner war dort festgelegt, daß der Fußboden bewohnter Räume mindesten 15 cm über dem Niveau der angrenzenden Straße oder des Hofes zu liegen habe. Damit war ausgeschlossen, daß Keller- und Souterrainräume als Wohnungen vermietet wurden.
Durch die Bauordnung besaß die Bauverwaltung ein wirksames Instrument, um konstruktive, hygienische und gestalterische Anforderungen durchzusetzen. Allerdings, und darin lag ihr großer Nachteil, erhöhten sich die Baukosten derart, daß Qingdaos Mieten - trotz Landordnung und niedriger Grundstückspreise - um 30 bis 50 Prozent über den bereits hohen Mieten Shanghais lagen. Entsprechend gehörten die Lebenshaltungskosten zu den höchsten Chinas.17

Entwicklung
Obwohl fast alle wesentlichen Entscheidungen für die Stadtplanung Qingdaos bereits während der ersten Jahre gefallen waren, zeigt eine Analyse der jährlich in den Denkschriften des Reichsmarineamts veröffentlichten Pläne, daß es sich nicht um eine Planung »aus einem Guß« handelte, daß vielmehr die stadträumliche Konzeption in einzelnen Schritten entwickelt wurde. Deutlich ist ein räumlich additives Vorgehen zu erkennen, indem zuerst einzelne Gebiete unabhängig voneinander geplant und ausgebaut und dann erst in einer zweiten Stufe die Schnittstellen zwischen den Gebieten bearbeitet wurden. So plante man anfänglich nur das Zentrum der Europäerstadt und in einem gewissen Abstand dazu die Chinesenstadt Dabaodao. Räumlich abgetrennt von diesem zentralen Bereich Qingdaos waren sowohl der Große Hafen im Norden, die beiden Arbeitersiedlungen im Nordosten und Südwesten als auch das europäische Villenvier-tel mit dem Sport- und Freizeitareal im Osten, die alle - wie Satelliten - in mehreren Kilometern Abstand zum Zentrum der Stadt lagen. Doch immer dann, wenn die Planer Qingdaos das Gebiet zwischen dem Zentrum und einem dieser Satelliten ausbauen ließen, zeigte sich, daß die Straßenverbindungen in den anfänglichen Planungen noch nicht ausreichend berücksichtigt waren. So beispielsweise, als man das Kaiser-Wilhelm-Ufer nach Westen verlängern wollte, dafür jedoch die anläßlich der ersten Landversteigerungen verkauften und bebauten Grundstücke im Wege lagen. Die Bauverwaltung mußte daher Land aufschütten, um die Straße somit südlich dieser Grundstücke entlang-führen zu können. Ähnliches war auch bei der Planung des Hafenviertels zwischen dem Großen Hafen und Dabaodao zu beobachten. Hier sollten zwei bislang voneinander räumlich unabhängig ausgebaute Bereiche der Stadt miteinander verbunden werden, was sowohl nördlich von Dabaodao als auch beim Übergang vom Hafen über die Bahngleise hinweg zum Hafenviertel nicht wirklich gelang.
Andererseits ist es gerade dieser schrittweisen Vorgehensweise der Planer Qingdaos zu verdanken, daß sowohl bei der Straßenführung als auch bei der Standortwahl markanter Gebäude die Topographie ausdrücklich berücksichtigt wurde. Die Grundstückssuche für die katholische und für die evangelische Kirche, die Ausbildung des Polizeigrundstücks im Handelsviertel, aber auch die Lage des zweiten Gouverneurswohnhauses sind Beispiele hierfür. Somit bildeten gerade die beiden 1898 erfolgten ausländischen Stadtgründungen in China - das russische Dalian (Dalny) mit seinem spinnennetzartigen Stadtplan und das deutsche Qingdao - einen größer kaum denkbaren Gegensatz in der Stadtgestalt. Während es in Dalian die »große Idee« war, die die Stadträume und die Lage der wichtigsten Gebäude bestimmte, war es in Qingdao die kontinuierliche Auseinandersetzung der Planer mit den besonderen Charakteristiken des Ortes.
Gleichzeitig erkannten die Planer von Qingdao die Notwendigkeit, die Bedürfnisse der sich neu ansiedelnden chinesischen Bewohner zu berücksichtigen. Denn nur wenn sich eine ausreichende Zahl von chinesischen Arbeitern, Handwerkern und Händlern dauerhaft ansiedeln würde, konnte die Stadtanlage aufgebaut und als deutscher Handelsstützpunkt in China etabliert werden. Aus dieser Erkenntnis erfolgte auch Anfang 1912 die Verkleinerung des Europäerviertels in Qingdao. Als Folge der Revolution vom Herbst 1911 war eine große Zahl von wohlhabenden und einflußreichen Angehörigen der gestürzten Qing-Dynastie in die Exterritorialität der ausländischen Niederlassungen geflohen. Hongkong und die ausländischen Niederlassungen Shanghais und Tianjins hatten frühere derartige Fluchtbewegungen bereits mehrfach erlebt, und jedesmal profitierte insbesondere der Immobilienmarkt von dem gestiegenen Bedarf an Wohnraum. Auch in Qingdao bekundeten nun erstmals wohlhabende und einflußreiche Chinesen ihr Interesse, sich anzusiedeln.
Nachdem 1909 die Deutsch-Chinesische Hochschule gegründet worden war und Kulturpolitik als wirksames Mittel der Außenpolitik betrachtet und eingesetzt wurde, sah das Gouvernement mit der Ansiedlung der »Beamten a. D.« eine neue Ära für Qingdao anbrechen. Qingdao galt nicht mehr nur als Marinebasis und Handelsstadt, sondern wurde ab 1912 als »Ausstellungsstadt«, »Musterstadt« und »deutsches Kulturzentrum in China« bezeichnet.18 Eine Ansiedlung von derartigen hochrangigen Kreisen der chinesischen Gesellschaft - unter ihnen beispielsweise Prinz Gong Puwei, der Vetter des chinesischen Kaisers Pu Yi - wurde als einzigartige und äußerst wertvolle Gelegenheit betrachtet, den politischen und wirtschaftlichen Einfluß Deutschlands in China auszubauen.
Daß die Untergliederung in Europäer- und Chinesenstadt unter diesen Bedingungen nicht aufrechtzuhalten war, wurde von deutscher Seite erkannt: Die erst 14 Jahre alte Regelung wurde weitgehend aufgehoben. Bereits 1912 waren rund 80 Grundstücke mit einer Gesamtfläche von 18 ha an Chinesen verkauft worden, und ein die Wirtschaft von Qingdao belebender Bauboom hatte eingesetzt.19 Am 23. Januar 1914 wurde dann die Änderung der Ansiedlungsbestimmungen mit ihrer Veröffentlichung im »Amtsblatt für das Deutsche Kiautschou-Gebiet« offiziell. Doch sollte diese Phase der deutsch-chinesischen Annäherung nicht lange dauern - bereits zehn Monate später eroberten japanische Truppen die Stadt.



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Bebauungsplan 1898

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

Plan von 1901

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Panoramabild von 1902

 

 

 

 

Panoramabild von 1907

 

 

 

 

Stadtansicht von 1909

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Plan der Hafenanlagen

 

 

 

 

 

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