Kino im Zeughaus

 

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  KUNST DES DOKUMENTS -
ESSAY

 

KUNST DES DOKUMENTS - ESSAY

Im November und Dezember stellt die filmhistorische Reihe KUNST DES DOKUMENTS eine Gruppe von Filmen vor, die dem Dokumentarfilm nicht ohne weiteres zugeschlagen werden können. Als Spielfilme sind sie jedoch vollkommen unbefriedigend klassifiziert. Die ausgewählten Filme fallen also zwischen die traditionellen Gattungs- und Genregrenzen. Von Essayfilmen spricht die Filmwissenschaft, André Bazins Begriff des "filmischen Essays" aufgreifend. Es handelt sich um Filme, die sich überwiegend abstrakten oder philosophischen Themen widmen, beispielsweise Prozessen des Erinnerns und Vergessens oder Fragen der Wahrnehmung und des Erkennens. Ihre Gestaltungs- und Verfahrensweisen sind dabei nicht minder komplex. Oft haben sie einen selbstreflexiven Charakter. Im Wahrnehmungsprozess des Zuschauers sorgen sie für eine aktivere Auseinandersetzung mit den filmischen Formen. KUNST DES DOKUMENTS - ESSAY stellt neun filmische Essays vor.

 

KUNST DES DOKUMENTS -ESSAY
Les Glaneurs et la glaneuse
Die Sammler und die Sammlerin

F 2000, R: Agnès Varda OmU, 82'

Ein abgeernteter Acker irgendwo in Frankreich: Einzelne Menschen wandern über das Feld und beugen sich über die Furchen. Sie sammeln liegengebliebene Kartoffeln ein, die den Maschinen entgangen sind oder nicht der EU-Norm entsprechen. Die Filmemacherin mit ihrer kleinen Digitalkamera ist unter den Sammlern. Sie findet eine herzförmige Kartoffel und hält sie stolz ins Objektiv der Kamera, freut sich über das schöne Gleichnis. Dann folgt sie den anderen Sammlern in ihre provisorischen Unterkünfte, hört dort Geschichten von Armut und Alkohol, von Untreue und Einsamkeit. Agnès Varda wandert in ihrem 36. Film durch ihr Heimatland und sammelt Geschichten und Menschen ein, weist sanft auf Konstellationen hin, die in kein Schema passen, erst recht nicht in das des Fernsehens. Sie zwingt die Begegnungen in kein Korsett, vertraut ganz dem Fluss des Geschehens. "Das Vergnügen zu filmen, durchdringt gewissermaßen die Schwere des Sujets. Ich muss nicht von der Kanzel herab von den Problemen der Welt erzählen, sondern von der Malerei, von der Schönheit der Kartoffeln oder von meinen grauen Haaren." (Agnès Varda, taz, 6.12.2001)

am 01.11.2007 um 20.00 Uhr

 

 

 

KUNST DES DOKUMENTS -ESSAY
Sans Soleil
Unsichtbare Sonne

F 1982, R: Chris Marker engl. Fassung, 100'

Chris Marker (eigentlich: Christian François Bouche-Villeneuve) gehört als Mensch zu den großen Geheimnissen der Kinematografie. Über seine Biografie existieren kaum Anhaltspunkte, nicht einmal sein Wohnort ist bekannt. Wie der US-amerikanische Schriftsteller Thomas Pynchon hat es Marker von jeher vorgezogen, der Öffentlichkeit aus dem Weg zu gehen; er lebt nach außen hin nur durch sein Werk. Mit Sans Soleil hat der große Unbekannte des Kinos 1982 seinen neben La Jetée (1962) berühmtesten Film gedreht. Die filmische Collage speist sich aus Reisen nach Afrika, Island und Japan, wird gebündelt durch die Stimme einer Frau, die aus einem an sie gerichteten Brief vorliest - der Film erweist sich als Brief des Regisseurs an die Zuschauer. In teils lyrischen, teils auch sarkastischen Kommentaren nimmt Marker eine ernüchternde Vivisektion der abendländischen Kultur und ihrer Auswirkungen auf die Dritte Welt vor. Die teilweise elektronisch verfremdeten Bilder, die Texte sowie Ton- und Musikcollagen verdichten sich zur nachhaltigen Grübelei über die Vergänglichkeit und das oft vergebliche Streben nach Glück.

am 15.11.2007 um 20.00 Uhr

 

 

 

KUNST DES DOKUMENTS -ESSAY
Journal No. 1 - An Artist's Impression
BiH/A/D 2007, R: Hito Steyerl, 21'

Normalität 1-X
A/D 1999-2001, R: Hito Steyerl überarbeitete Fassung, 19'

November
A/D 2004, R: Hito Steyerl, 25'

Angesiedelt auf der für sie unsichtbaren Grenze zwischen Dokumentarfilm und Bildender Kunst setzen sich Hito Steyerls Arbeiten mit Themen wie Migration, Globalisierung oder Erinnerungspolitik auseinander, nicht ohne dabei einen interkulturellen, postkolonialistischen Blickwinkel zu beanspruchen. Wir zeigen eine Zusammenstellung dreier Filme der Künstlerin.
Journal No. 1 - An Artist's Impression stellt den Versuch dar, die in den Wirren des Jugoslawienkrieges verlorengegangene Wochenschau Film-Journal No. 1 aus dem Jahr 1947 anhand der Erinnerungen von zwei Mitarbeiterinnen des Filmmuseums Sarajewo zu ,rekonstruieren'. Die teilweise stark divergierenden Zeichnungen, die auf der Grundlage dieser Erinnerungen angefertigt werden, machen einen fragmentarischen Charakter des Historischen konkret, "das Unerreichbare eines historischen Nullpunkts der nationalen Identität" (Bert Rebhandl).
Normalität 1-X, eine Serie kurzer essayistischer Videos, problematisiert die gewaltvolle Instrumentalisierung einer Setzung von Normalität. In nüchterner Bildsprache berichtet Steyerl von der steigenden Zahl antisemitischer und rassistischer Anschläge in Deutschland und Österreich und hinterfragt die Strukturen und Repräsentierbarkeit solcher Gewalt.
November untersucht die Wechselbeziehungen zwischen territorialer Machtpolitik und individuellen Formen des Widerstands. Andrea Wolf, einst beste Freundin der Regisseurin, spielte in den achtziger Jahren in einem feministischen Martial-Arts-Film Steyerls die Hauptrolle. Jahre später wurde aus symbolischer politische Praxis: Andrea Wolf ging in die kurdischen Gebiete zwischen der Türkei und Nordirak, um auf Seiten der PKK zu kämpfen. Sie stirbt 1998. In kurdischen Kreisen wird sie heute noch als "unsterbliche Revolutionärin" verehrt. (Austrian Independent Film and Video Database)

am 22.11.2007 um 20.00 Uhr

 

 

 

KUNST DES DOKUMENTS -ESSAY
Notre Musique
F/CH 2004, R: Jean-Luc Godard OmU, 80'

Jean-Luc Godard ist der letzte noch lebende Klassiker des modernen Kinos. In seinem jüngsten Film entwirft er ein Triptychon aus Vernichtung, Hoffnung und Erlösung. Die bosnische Hauptstadt Sarajevo dient ihm als Schauplatz einer vagen Handlung, die immer wieder durchsetzt wird von Reflexionen über die Möglichkeiten des Intellekts, sich gegen die Allgegenwart der Gewalt zu wehren. "Sarajevo, das ,Jerusalem des Balkans', wurde von April 1992 bis Februar 1996 von serbischen Truppen belagert, mindestens 15.000 Menschen starben. Mit dem Abzug der Belagerer zogen sich auch die Kriegsreporter zurück, die Stadt rückte aus dem Fokus des Medieninteresses. Ein idealer Ort für die Godardschen Fragestellungen. In Cannes gab er zu Protokoll: ,Nicht ich habe mir Sarajevo ausgesucht, Sarajevo hat mich gefunden.' Sein Interesse gilt zunächst den sichtbaren Kriegswunden: dem mehrfach bombardierten Wochenmarkt, der ,Sniper Valley' mit ihren ausgeglühten Wohnblocks, den an den Ruinen vorüber fahrenden, alten tschechischen Straßenbahnen, die seit der Niederschlagung des ,Prager Frühlings' im August 1968 visuell codiert sind." (Claus Löser, film-dienst 24/2005) "Bei Godard kann man lernen, dass die richtigen Antworten immer die Form von Fragen haben." (Robert Weixlbaumer, TIP 25/2005)

am 29.11.2007 um 20.00 Uhr

 

 

 

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Reichsautobahn
BRD 1984/85, R: Hartmut Bitomsky, 92'

Reichsautobahn widmet sich den legendären Schnellstraßen, die noch heute die Deutschlandklischees im Ausland dominieren. Dabei räumt Hartmut Bitomsky mit einer Reihe von hartnäckigen Missverständnissen auf - so mit der Annahme, die Autobahn sei eine Erfindung der Nazis gewesen oder hätte maßgebliche kriegsstrategische Bedeutung gehabt. Aber "der Film zeigt, was die Nazis wirklich erfunden haben: die Ästhetik der Autobahn. Eine wahre Bilderflut begleitet ihren Bau. Ein Reichsautobahngenre entsteht: Bildbände, Spielfilme, Dokumentationen. Das Bauwerk wird Lebensgefühl einer Epoche." (Barbara Häusler, taz 16.4.1992) Reichsautobahn ist der mittlere Teil der von Bitomsky zwischen 1983 und 1989 realisierten "Deutschen Trilogie", die auf nationalsozialistischen Propagandafilmen basiert. Der Filmemacher arbeitete sich dafür durch Hunderte Stunden von in Vergessenheit geratenem oder bis dahin tabuisiertem Archivmaterial. In Deutschlandbilder beschäftigte er sich mit der filmischen Mythologisierung von Arbeit, in Der VW-Komplex mit fatalen ästhetischen Kontinuitäten in Wolfsburg vor und nach 1945. Mit der Trilogie leistete der jetzige Direktor der dffb dokumentarische Grundlagenarbeit auf hohem inhaltlich-formalem Niveau.

am 06.12.2007 um 20.00 Uhr

 

 

 

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Het Witte Kasteel
Das weiße Schloß

NL 1973, R: Johann van de Keuken OmeU, 78'

Het Witte Kasteel gehört zu den weniger bekannten Filmen des 2001 verstorbenen niederländischen Dokumentaristen Johann van de Keuken. Der zweite Teil seiner "Nord-Süd-Trilogie" beschäftigt sich mit Phänomenen der modernen Völkerwanderung. In Ohio (USA), auf der spanischen Insel Formentera und in der niederländischen Heimat des Regisseurs gedreht, porträtiert er Touristen, Wanderarbeiter oder Insassen eines Gefängnisses - allesamt Menschen, die aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen getreten sind, freiwillig oder erzwungenermaßen. Der Regie gelingt eine seltene Mischung aus am Cinéma Vérité geschultem Realismus, ethnologischer Studie und artifizieller Stilisierung. Seine mitunter spröde wirkenden 16mm-Bilder werden durch kunstvolle Montage und die Musik von Max Bruch oder Erik Satie verfremdet, erscheinen plötzlich auf merkwürdige Weise verzaubert. So wie "The White Castle", ein prosaisches 24-Stunden-Restaurant irgendwo in Ohio, dessen pompöse Fassade im Dauerregen wie eine unerreichbare Fata Morgana illuminiert. "Van der Keuken versucht sich nicht in einer Sozialreportage, noch geht er den einzelnen Strängen chronologisch nach. Er zeigt, durchmischt und rhythmisiert Ausschnitte aus den einzelnen Lebenszusammenhängen. Bilder tauchen wieder auf, in gewandelten Umfeldern, mit anderen Bedeutungen." (Elisabeth Büttner / Christian Dewald, Viennale 2001)

am 13.12.2007 um 20.00 Uhr

 

 

 

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Une histoire de vent
Eine Geschichte über den Wind

F 1986/88, R: Joris Ivens OmU, 80'

Joris Ivens gehört zu den prägenden Dokumentaristen der Kinematographie. Der 1933 mit Henri Storck gedrehte Film Borinage über die Bergarbeiter in der gleichnamigen belgischen Region schrieb Filmgeschichte. 1937 schloss sich Ivens den Internationalen Brigaden an und drehte Spanische Erde. Der Filmemacher war viele Jahre lang bekennender Kommunist, drehte auch Propagandafilme, wie 1951 Freundschaft siegt über die "III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten" in Berlin. Nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag 1968 brach er mit der offiziellen Parteilinie und schloss sich den Maoisten an. Immer wieder hielt er sich in China auf und belichtete Tausende Meter Filmmaterial. Für Une histoire du vent kehrte er 1986 nach längerer Pause als greiser Regisseur noch einmal nach Peking zurück. Sein letzter Film ist eine teils melancholische, teils zornige Revision der eigenen Utopien geworden. Das neue China nach dem Tod Maos erscheint ihm gleichzeitig fremd und vertraut. Ivens stellt sich selbst als Akteur seines Films in den Wind der Geschichte. Ihm gelingen bleibende Bilder und Gleichnisse, in denen sich die großen Tragödien und Hoffnungen des 20. Jahrhunderts brechen.

am 20.12.2007 um 20.00 Uhr

 

 
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