Kino im Zeughaus

 

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  KUNST DES DOKUMENTS - ICH

 

KUNST DES DOKUMENTS - ICH

Der Blick auf das eigene Leben war in der Dokumentarfilmgeschichte viele Jahrzehnte verpönt. Dokumentarisch Arbeiten, das hieß vor allem, sich für Andere – etwa die Unterprivilegierten – einzusetzen; das hieß, die Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem zu wahren und dem Intimen und Autobiografischen nur dort einen Platz einzuräumen, wo gesellschaftliche Phänomene etwa Auswirkungen der Arbeitslosigkeit, Gesundheitspolitik oder Ökologie berührt wurden. Seit geraumer Zeit hat dieser Codex dokumentarischen Arbeitens an Verbindlichkeit eingebüßt, und es entstehen Filme, die explizit und in erster Linie das Leben des Filmschaffenden selbst – das eigene Ich – in den Mittelpunkt stellen. KUNST DES DOKUMENTS stellt in den Monaten April und Mai acht Dokumentarfilme vor, die „Ich“ sagen.

 

KUNST DES DOKUMENTS - ICH
Mein kleines Kind
D 2001, R: Katja Baumgarten, 88'

In der 21. Schwangerschaftswoche wird Katja Baumgarten von ihrem behandelnden Facharzt vor die Alternative gestellt, entweder sofort einer Abtreibung zuzustimmen oder aber ein schwerstbehindertes Kind zur Welt zu bringen, dem nur ein kurzes Leben beschieden sein wird. Die Filmemacherin, die als ausgebildete Hebamme um die medizinischen Details und Konsequenzen weiß, entscheidet sich für die Geburt; und dafür, diesen schweren Entschluss mit der Kamera zu begleiten. Das Ergebnis dieses Wagnisses ist alles andere als eine filmische Kurzschlussreaktion: Mehr als vier Jahre hat sich die Regisseurin für die Realisierung Zeit genommen, hat ihre Familie, ihren Freundeskreis und vor allem sich selbst einem intensiven Prozess des Nachdenkens über Leben und Sterben unterzogen. Ihr Film wird zum „tief bewegenden, aufwühlenden Dokument der Humanität – und zugleich zum Glücksfall für das Dokumentarfilmschaffen, weil hier höchste Intimität und reflektierte Distanz in seltener Weise zusammenfinden.“ (Josef Lederle, film-dienst 8/2003) Dabei geht es Katja Baumgarten nicht etwa um ein vordergründiges Plädoyer auf pränatale Diagnostik als vielmehr um die Vergewisserung elementarer existentieller Konstellationen.

am 3.4.2008 um 20.00 Uhr

 

 

KUNST DES DOKUMENTS - ICH
Dezember 1 – 31
D 1999, R: Jan Peters, 96’

Jan Peters ist einer der wichtigsten deutschen Experimentalfilmer der Gegenwart. Mit seinen zyklischen Geburtstags- und Tagebuchfilmen hat er seit 1990 en passant sein eigenes Genre geschaffen. Nach strengen strukturellen Regeln erstellt, meditieren diese Arbeiten eindrucksvoll über das Vergehen der Zeit und schaffen einen wuchernden Assoziationsapparat, der sich faktisch mit jedem greifbaren philosophischen oder profanen Thema beschäftigt. Stets spielt Jan Peters dabei sich selbst: den Filmemacher Jan Peters, der – fast ununterbrochen in die Kamera sprechend – von seinem Leben erzählt und seine tastenden Schritte durch die vorgefundene Wirklichkeit filmt. Im gleichen Maß, in dem der Zuschauer die Hauptperson der Filme zu kennen glaubt, entpuppt sich diese weiter zu einer Kunstfigur.
In Dezember 1 – 31 hat Peters täglich eine Rolle Super-8-Material von je drei Minuten Länge belichtet und damit akribisch seine Spuren zwischen seiner Heimatstadt Hamburg und der Metropole Paris fixiert, wo seine Freundin Hélèna wohnt. Er nähert sich dabei gleichzeitig an den Tod seines besten Freundes „Grobi“ an, den er zu begreifen versucht. Mit seinem Film schickt Peters ihm einen letzten Brief und gibt einen langen, sehr persönlichen Epitaph zu Protokoll. Zuletzt bricht dieser Brief ebenso abrupt ab wie er begonnen hat. Er bleibt Fragment – wie das Leben selbst.

am 10.4.2008 um 20.00 Uhr

 

 

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Reminiscences of a Voyage to Lithuania
GB/BRD 1972, R: Jonas Mekas, 82' engl. OF

1922 in Litauen geboren, verbrachte der spätere „Pate des amerikanischen Avantgarde-Kinos“ mehrere Jahre in Lagern der Nationalsozialisten und irrte als „displaced person“ durch das Nachkriegschaos, bevor er 1949 nach New York auswanderte. Hier begann Jonas Mekas 1955 für Film Culture und Village Voice Filmkritiken zu schreiben. Ab 1961 drehte er im Umfeld des „New American Cinema“ (NAC) selbst Filme. Später gründete er die erste selbst verwaltete Film-Kooperative der Welt und eröffnete 1970 das „Anthology Film Archive“, wo er noch heute arbeitet.
1971 kehrte Jonas erstmals (gemeinsam mit seinem ebenfalls filmenden Bruder Adolfas Mekas) in die litauische Heimat zurück, besuchte seine Mutter und die Orte der Kindheit. Von seiner Reise brachte er eines der schönsten 16mm-Tagebücher der Filmgeschichte mit. Er beschränkt sich dabei scheinbar auf die Fixierung von privaten Begegnungen und fast impressionistischen Landschafts- und Naturaufnahmen, assoziiert jedoch gerade durch diese Intimität auch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts. „Kleinste stilllebenhafte Bilder werden von Mekas mit der Kamera festgehalten, Anekdoten des Auges, wie das leuchtende Getränk in einem Glase, das Licht, das durch ein Fenster dringt. Es ist ein Film über die Zeit und ein Film, der die Kraft der Erinnerung beschwört, die in den ewig jungen Bildern die Zeit überwindet.“ (Berlinale-Forum 1972)

am 17.4.2008 um 20.00 Uhr

 

 

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Nobody's Business
USA 1996, R: Alan Berliner, 60' OmU

Alan Berliner möchte einen Film über die Wurzeln seiner Familie und seinen eigenen Vater drehen, doch dieser wehrt alle Fragen unwirsch ab: „Das geht keinen etwas an, das ist Nobody’s Business!“ Bereits seine Aversion wird allerdings zum Teil des Filmprojekts, mit dem sich Berliner nun umso ehrgeiziger in die eigene Familien-Genealogie hinein arbeitet. Seine Eltern waren ein Paar unter Millionen ostjüdischer Einwanderer, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf der Flucht vor Pogromen und mit der Hoffnung auf einen Neubeginn in die USA auswanderten. Der Filmemacher kann bei einer Reise ins heutige Polen das Grab seiner Urgroßeltern nicht finden, macht sich aber, zurückgekehrt in die USA, auf die Suche nach ihm bislang unbekannten Verwandtschaftszweigen. Die Familiensaga wird immer komplexer, stößt bald auf das Tabu des Holocausts. „Berliner kommt vom experimentellen Film. Sein dynamisches Montageprinzip, die geschickte Verschachtelung auditiver und visueller Momente schaffen eine offene, essayistische Struktur. Nie gerät diese Methode zum Selbstzweck, bleibt stets dem Anliegen seines Projektes und den historischen Zusammenhängen untergeordnet. Dabei unterläuft der Film seinen privaten Grundton immer wieder durch sanfte Ironie.“ (Claus Löser, film-dienst 23/1997)

am 24.4.2008 um 20.00 Uhr

 

 

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Tarnation
USA 2004, R: Jonathan Caouette, 88' OmU

Jonathan Caouette hat sich selbst sowie seine teilweise gelähmte und fast ständig unter Psychopharmaka stehende Mutter seit seinem elften Lebensjahr auf Super-8 gefilmt. Mehrfach stellte er vor der Amateurkamera ihre Delirien und Spasmen nach, schlüpfte in die Rolle der von ihrer Erziehungsaufgabe völlig überforderten Frau. Die Kamera wurde ihm während der gesamten, zerstörten Kindheit hinweg zum Vehikel, die eigene Situation, wenn schon nicht zu verstehen, so doch wenigstens in eine mediale Form zu transformieren und dadurch zu überleben. Mehr als zwanzig Jahre lang hat sich auf diese Weise auf allen möglichen Ton- und Bildtträgern ein immenses Materiallager an autobiografischen Fragmenten angelagert, das vom Filmemacher in erstaunlich souveräner und auch artifizieller Weise neu strukturiert wurde. Der Film ist weit mehr als eine individuelle Aufbereitung, er schafft es, eine eigenständige künstlerische Form zu entwickeln und universelle Erkenntnisse anzureißen. „In seinen rasenden Bilderfolgen liefert Tarnation reichlich Anschauungsmaterial dafür, dass die Familie nicht zwingend jener Fels in der Brandung ist, als den sie sich Ursula von der Leyen imaginiert. Familie kann verletzend, sie kann sogar gewalttätig sein, und erst wenn man davon ein Bewusstsein gewinnt, kann man verlässliche Verbindungen eingehen.“ (Christina Nord, TAZ, 27.4.2006)

am 6.5.2008 um 20.00 Uhr

 

 

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Une vie foraine - Ein offenes Leben
D 2006, R: Steffen Ramlow, 74' OmU

Mit Une vie foraine - Ein offenes Leben hat Steffen Ramlow einen experimentellen Dokumentarfilm gedreht, bei dem er sich selbst als Ausgangspunkt wählt für einen offenen Diskurs über die Motivation zur Arbeit und über die Gründe für Veränderungen von Lebensperspektiven. Der Filmemacher stammt selbst aus einer Familie von französischen Schaustellern, zog als Kind oft monatelang von Jahrmarkt zu Jahrmarkt. Für seine Spurensicherung begibt er sich in ein kleines Dorf in der Nähe von Montpellier, wo sein Onkel Christian Lagny allein in einem Wohnwagen lebt; die Schaustellerei hat er längst aufgegeben. Im Dialog mit Luc Archer, einem Schwager des Onkels, der weiterhin auf französischen Rummelplätzen arbeitet, schält sich ein plastisches Profil dieses Berufsstandes am Rande der modernen Industriegesellschaft heraus. Einerseits wird zurückliegende Vergangenheit rekonstruiert, andererseits finden die aktuellen Veränderungen Eingang in den Film, dessen Entstehung und Fertigstellung über drei Jahre dauert. Immer wieder kehrt Ramlow im Laufe der Dreharbeiten zum Wohnwagen des Onkels zurück, der auf beeindruckende Weise über sein Leben erzählt, vor allem über die Frage nachsinnt, ob er nun gescheitert sei oder nicht. In diesen offen ausgetragenen, elementaren Fragen wird auf hintergründige Weise auch der Antrieb des Filmemachers zur Disposition gestellt.

am 15.5.2008 um 20.00 Uhr

 

 

KUNST DES DOKUMENTS - ICH
Love Stinks - Bilder des täglichen Wahnsinns
BRD 1982, R: Birgit und Wilhelm Hein, 82’

Ende August 1981 treffen die Kölner Experimentalfilm-Pioniere Birgit und Wilhelm Hein in New York ein. Mit Hilfe eines Werkstipendiums des Kunstfonds können sie einen mehrmonatigen Arbeitsaufenthalt finanzieren. Sie führen Performances auf und zeigen Filme, belichten unzählige Diapositive sowie – nach anfänglichen Berührungsängsten mit der ihnen noch unbekannten Wirklichkeit – auch viele Rollen 16mm-Material. „Durch die wahnwitzigen Gegensätze entstand eine aggressive und brutale Vitalität, die es sonst nirgendwo gibt. Schließlich trauten wir uns auch, mit der 16mm-Kamera durch die South Bronx zu fahren. Es musste alles ganz schnell gehen. Auspacken, aufnehmen, weg. Es gab überhaupt kein System beim Aufnehmen, wir drehten, was uns einfiel. Das Filmen war so eine Art Bewältigungsprozess oder auch Beschwörung: indem man die Bilder von sich ablöst und nach außen stellt, verlieren sie ihre unheimliche Bedrohung.“ (Birgit und Wilhelm Hein, Dokumente 1967 – 1985) Zurückgekehrt nach Deutschland, unterwarfen sie ihre heterogene Materialsammlung einer Neuordnung, flankierten sie durch eine grüblerische Tonspur. Love Stinks ist auf diese Weise zum Dokument einer Positionsbestimmung innerhalb eines fremden Bezugssystems geworden, gleichzeitig zum Seismogramm einer ebenso intensiven wie widersprüchlichen Arbeits- und Lebensgemeinschaft.

am 22.5.2008 um 20.00 Uhr

 

 

KUNST DES DOKUMENTS - ICH
Babel – Lettre à mes amis restés en Belgique I
Babel – Letter to My Friends Who Stayed in Belgium I
B 1992, R: Boris Lehman, 160’ OmeU

Seit Beginn der 1960er Jahre arbeitet der 1944 geborene Künstler Boris Lehman an seinem innerlich stark verzahnten, sich stets selbst reflektierenden Gesamtwerk. Er hat damit ein einzigartiges „work in progress“ modelliert, das im europäischen Experimentalfilm ohne Vergleich ist. „Mein eigenes Leben ist zum Drehbuch eines Films geworden, der selbst wiederum mein Leben wurde.“, wie der Filmemacher sein Arbeitsprinzip auf der Berlinale 1992 formulierte. In seinem Babel-Film treibt er diesen Ansatz zum Exzess: Fast drei Stunden lang porträtiert er einen durch Brüssel schweifenden Flaneur, der davon träumt, auf den Spuren von Antonin Artaud zu den Indios nach Mexiko zu reisen. Tatsächlich reist er irgendwann ab, findet nach seiner Rückkehr eine völlig veränderte Stadt vor, in der er wiederum seine Wanderungen aufnimmt. Zuletzt findet er sich völlig vereinsamt, die von ihm einst so geliebte Stadt scheint sich aufzulösen. Natürlich ist niemand anderes als Lehman selbst dieser urbane Nomade, der seinen psychogeografischen Spaziergang durch die Straßenzüge niemals abbricht. Dutzende seiner Freunde „spielen“ in seinem Film kleine Parts, Brüssel als Schauplatz durchläuft während der Dreharbeiten sichtbare Metamorphosen. Sich an der Schnittstelle zwischen Dokumentation, Essay, Spielfilm und Experiment bewegend, stellt sich Babel als kolossales enzyklopädisches Werk heraus, in dem sich private und globale Perspektiven eindrucksvoll brechen.

am 29.5.2008 um 20.00 Uhr

 

 
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