Kino im Zeughaus

 

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KUNST DES DOKUMENTS – VÉRITÉ


 

KUNST DES DOKUMENTS – VÉRITÉ

Objektivität, Wahrheit, Wahrhaftigkeit – es existieren nicht wenige dokumentarische Bewegungen, die sich diesen Werten verpflichtet fühlen und dennoch ganz unterschiedliche Arbeitsmethoden wählen. Im Gegensatz zu einem Kino der unbemerkten Beobachtung kennt die Dokumentarfilmgeschichte zum Beispiel ein Kino der Interaktion und Provokation: die Kamera nicht als stiller Registrator sondern als wirkungsmächtiger Katalysator, die Wirklichkeit nicht als eine vorgegebene sondern unter den Bedingungen der Aufnahmesituation herzustellende Erfahrung. KUNST DES DOKUMENTS – VÉRITÉ präsentiert vier Beispiele dieses außergewöhnlich spannenden Kinos der Wahrheit.

 

KUNST DES DOKUMENTS – VÉRITÉ
Von wegen „Schicksal“
BRD 1978, R: Helga Reidemeister, 117’

„Von wegen ‚Schicksal’“, hält Irene Rakowitz ihrem geschiedenen Ehemann Richard entgegen, als dieser ihr missglücktes Ehe- und Familienleben als ein vorherbestimmtes Scheitern deutet. Irene Rakowitz, die 22 Jahre mit Richard verheiratet war und vier Kinder zur Welt gebracht hat, möchte die Schwierigkeiten ihres Familienlebens publik machen, ja mehr noch: die privaten Konflikte sollen als gesellschaftlich bedingte verständlich werden.
Dieses Anliegen teilte auch die Filmemacherin Helga Reidemeister, die sich während ihres Studiums an der DFFB politisch und sozial im Märkischen Viertel von Berlin engagierte und dort Irene Rakowitz kennen lernte. Reidemeisters dokumentarische Arbeitsweise, die mitunter den Gesprächspartnern widerspricht und Gefühlszustände der Verzweiflung, Ohnmacht  und Wut provoziert, hatte Ende der 1970er Jahre eine beispiellose Dokumentarfilmdebatte initiiert, in der sich Vertreter eines behutsam beobachtenden und eines engagiert eingreifenden Dokumentarfilms verbittert gegenüberstanden.

am 07.06.2007 um 20.00 Uhr

 

 

 

KUNST DES DOKUMENTS – VÉRITÉ
Der Mann mit der Kamera
Čelovek s kinoapparatom

UdSSR 1929, R: Dziga Vertov, 75’

Mit seinem Film Der Mann mit der Kamera wollte Dziga Vertov eine universelle, internationale Filmsprache entwerfen. Deshalb verzichtete er unter anderem auf Zwischentitel. Vertov und sein Kameramann Michail Kaufman gingen auf die Straßen Moskaus, Kiews und Odessas und fingen Impressionen dieser geschäftigen Großstädte ein. Die wollten das „wahre Leben“ filmen. Dabei wurden nicht nur der Alltag auf den Straßen, in den Kneipen und in den Häusern der Menschen zu dokumentarisch untersuchten Objekten. Auch der Entstehungs- und Aufführungsprozess des Films sind Themen von Der Mann mit der Kamera.
Den Begriff Dokumentarfilm hat Dziga Vertov erst in den dreißiger Jahren für seine Filme benutzt. Stattdessen prägte er den Begriff des „Film-Auges“. Seine Arbeitsweise sah es vor, Formen der Inszenierung und Rekonstruktion zu integrieren. „Vertovs Aufnahmen zeigen, was konventionelle Wochenschaubilder nicht besitzen, die Vision einer sinnerfüllten Geschichte des Menschen, und so sind seine Filme, trotz des militanten Gestus, Äußerungen eines Menschenfreundes“ (Thomas Tode).

Klavierbegleitung: Peter Gotthardt

am 14.06.2007 um 20.00 Uhr

 

 

 

KUNST DES DOKUMENTS – VÉRITÉ
Exile Family Movie
AT 2006, R: Arash T. Riahi, 94’

Der Regisseur Arash T. Riahi wurde in Österreich geboren, wohin seine Eltern vor den fundamentalistischen Machthabern im Iran geflohen waren. Andere Familienangehörige sind nach Amerika oder Schweden ausgewandert, viele auch im Iran geblieben. Man kommuniziert über Videobotschaften, bis die Idee entsteht, ein heimliches Treffen während einer Pilgerreise in Mekka zu arrangieren. Nach über 20 Jahren kommt die Familie in einem Hotel in Saudi Arabien wieder zusammen...
Über seine Anliegen schreibt Riahi: „Dieser Film soll einen Einblick in eine Welt, die sich nur selten – wenn überhaupt – einem Publikum öffnet, gewähren. Er entstand aus dem inneren Drang heraus, eine exemplarische Flüchtlingsgeschichte, als Zeitdokument ohne Selbstmitleid von Innen nach Außen zu tragen. Ich wollte herausfinden, wie Geschichte und Gesellschaft es zuwege brachten, Menschen zu formen, welche Strategien Menschen aus völlig unterschiedlichen kulturellen Umgebungen entwickeln, um mit dem Schmerz fertig zu werden, den die erzwungene Trennung von der Familie mit sich bringt“ (Filmhaus Saarbrücken). Exile Family Movie wurde auf dem Max Ophüls Festival 2007 und im vergangenen Jahr auf dem Leipziger Dokumentarfilmfestival ausgezeichnet.

am 21.06.2007 um 20.00 Uhr

 

 

 

KUNST DES DOKUMENTS – VÉRITÉ
Chronique d’un été
Chronik eines Sommers

F 1960, R: Jean Rouch, Edgar Morin            OmeU, 85’

Jean Rouch hat in Bezug auf Chronique d’un été den Begriff des „Cinéma vérité“ geprägt, den er von Dziga Vertov entlehnte. „Er erklärt bei dieser Gelegenheit, dass seine drei Lehrmeister Dziga Vertov, Robert Flaherty und der Fotograf Cartier-Bresson gewesen seien. (…) Für Rouch ist das ‚Cinéma vérité’ keine Wundertechnik, sondern eine Forschungsmethode, kein Mittel, ‚die’ Wahrheit zu enthüllen (vorausgesetzt, dass sie überhaupt existiert), sondern eine Technik, die auf einer ‚wahrhaftigen’ Haltung gegenüber der Wirklichkeit basiert (das heißt, die die Täuschung durch Fiktion ablehnt“ (Marcel Martin, Film in Frankreich, 1983).
In Chronique d’un été betreiben der Soziologe Edgar Morin und der Filmemacher und Ethnologe Jean Rouch eine Feldforschung im eigenen Lande. Paris, 1960: „Sind Sie glücklich?“. Mit dieser Frage, gerichtet an Pariserinnen und Pariser, denen das Filmteam zufällig auf der Straße begegnet, beginnt eine Untersuchung der Lebensweisen und Einstellungen, die im zeitgenössischen Frankreich existieren. Am Ende des Films schätzen die Interviewten ihre Auftritte vor der Kamera nach einer Filmvorführung gegenseitig ein, und die beiden Filmemacher denken über die Möglichkeiten und Grenzen des Cinéma vérité nach.

am 28.06.2007 um 20.00 Uhr

 

 

 

 

 
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