DIE SPRACHE DER WENDE

Während der deutschen Teilung entfernten sich die Bürger aus Ost- und Westdeutschland nicht nur ideologisch, sondern auch sprachlich voneinander. Manch einer prognostizierte gar eine Trennung der deutschen Sprache. Ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung ist davon nur noch wenig zu spüren. Wissenschaftler sind überzeugt, dass dies vor allem der Anpassungsfähigkeit der Ostdeutschen zu verdanken ist.

46 Jahre ist es her, dass der Staatsratsvorsitzende der DDR, Walter Ulbricht, eine baldige Teilung des Deutschen in eine Ost- und eine Westvariante prophezeite. „Sogar die einstige gemeinsame Sprache ist in Auflösung begriffen“, sagte Ulbricht 1970 vor dem 13. Zentralkomitee der DDR und spielte damit darauf an, dass es bei Wortschatz und Sprechweise durchaus Unterschiede zwischen den beiden deutschen Staaten gab. Heute, 26 Jahre nach der Wiedervereinigung, hat sich die Sprache in den neuen und alten Bundesländern fast vollständig angeglichen. Der Linguist Manfred Hellmann zeigte sich schon 2004 überzeugt, dass der sprachliche Ausgleich geschafft sei – vor allem dank der Anpassungsfähigkeit der Ostdeutschen.

WESTDEUTSCHE BEGRIFFE EROBERN DIE NEUEN BUNDESLÄNDER

Während zahlreiche in der DDR geläufige Begriffe, insbesondere aus der Arbeitswelt oder dem offiziellen Sprachgebrauch, nach der Wende sang- und klanglos verschwanden, liegt die Zahl der übernommenen Vokabeln aus dem Westen bei 2.000 bis 3.000 Wörtern. Statt Feinfrost, Kollektiv und Kaufhalle hieß es fortan Tiefkühlkost, Team und Supermarkt. Im Osten unbekannt waren Begriffe wie Konfirmation, Spielothek und Hamburger sowie eine Vielzahl im Westen gängiger Anglizismen wie Kids oder Outfit. Umorientieren mussten sich die Ostdeutschen auch in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Verwaltung. Hier wich der ideologisch geprägte DDR-Staatsjargon plötzlich einer neuen West-Fachsprache.

Die ehemaligen DDR-Bürger hatten auf dem Gebiet der Sprache eine enorme Anpassungs- und Integrationsleistung zu bewältigen. Anders die Westdeutschen: Nur ungefähr 14 ehemals ostdeutsche Begriffe gingen in den gesamtdeutschen Wortschatz über – darunter abnicken, andenken, Exponat oder Fakt ist. Plaste und Elaste hingegen, die alten DDR-Begriffe für harte und weiche Kunststoffe, wurden im Westen ebenso ignoriert wie Hunderte weitere.

VERSTÄNDIGUNGSPROBLEME NACH DEM MAUERFALL

Verständigungsprobleme zwischen ost- und Westdeutschen hatten ihre Ursache in den ersten Jahren nach dem Mauerfallauch in den vielen unterschiedlichen Bezeichnungen. Eine Herausforderung war dies vor allem für die Ostdeutschen, die laut Sprachforscher Hellmann viele Begriffe aus der Bundesrepublik und vor allem deren Bedeutung wie bei einer Fremdsprache neu erlernen mussten, weil sie Vorgänge oder Einrichtungen bezeichneten, die in der DDR unbekannt gewesen waren, z.B. Lohnsteuerjahresausgleich oder Sozialversicherungsnummer. Noch 1993, drei Jahre nach der Einheit, richtete das Germanistische Institut der Martin-Luther-Universität Halle ein Sprachberatungstelefon ein, das in den neuen Bundesländern regen Zuspruch fand.

Trotz der Unterschiede im alltäglichen Gebrauch gab es keineswegs zwei unterschiedliche deutsche Sprachen. Immerhin waren von circa 10.000 Worten im Allgemeinwortschatz der DDR-Bürger 94 Prozent gesamtdeutsch. Außerdem war in der DDR der Unterschied zwischen offiziellem und privatem Sprachgebrauch sehr ausgeprägt. Im Privaten redeten die Ostdeutschen kaum anders als im Westen. Schon vor der Wende waren die Ostdeutschen – im Unterschied zu den Westdeutschen – in der Lage, ihren Wortschatz in einem gesamtdeutschen Kontext zu verorten. Sie wussten in der Regel weit besser über die Lebensverhältnisse und die Sprache in der Bundesrepublik Bescheid als Westdeutsche über das Leben und den Sprachgebrauch in der DDR.

NEUE SPRACHE DER EINHEIT

Zwar passten sich die Westdeutschen sprachlich nur wenig an ihre neuen Mitbürger an. Doch auch in den alten Bundesländern erweiterte sich nach der Wende das Vokabular. Während der staatlichen Einigung entstanden viele Wörter, die für die Menschen in West und Ost neu waren und unmittelbar mit den Veränderungen der Zeit verbunden waren. Beispiele sind Begriffe wie Abwicklung, Begrüßungsgeld, Montagsdemo, runder Tisch oder Solidarbeitrag, aber auch abwertende Neuschöpfungen wie Besserwessi und Jammerossi. Diese und andere Ausdrücke gehören inzwischen längst zum gesamtdeutschen Wortschatz.

In vielen Bereichen haben sich die neuen und alten Bundesländer in den vergangenen 26 Jahren angenähert. Gleichzeitig gibt es noch immer Unterschiede, die exakt entlang der ehemaligen Grenze zwischen Ost und West verlaufen – etwa in den Bereichen Wirtschaftskraft, Familienstrukturen oder Vermögen. Auch Stereotype über „den Wessi“ oder „den Ossi“ gehören noch nicht der Vergangenheit an: Laut einer Studie des Berliner Instituts für Bevölkerung und Entwicklung werde es noch eine weitere Generation brauchen, bis sich die Einheit auch in den Köpfen durchgesetzt hat. In den Mündern der Deutschen ist sie längst angekommen.