Zwischen Kirchenlied und Eierwurf.
Eine kleine Geschichte des Deutschen Evangelischen Kirchentags

Viele Berliner wundern sich: In der Stadt ist es in diesen Tagen noch voller als sonst. Menschen mit Halstüchern drängen sich in den U-Bahnen und Bussen. Sie blättern in dicken Programmbüchern, schauen sich suchend um, fangen manchmal sogar spontan an, Lieder zu singen. Es ist Kirchentag in Berlin. Die Stadt ist zum fünften Mal Versammlungsort für diese Großveranstaltung, die hunderttausende Menschen anzieht.

Der Deutsche Evangelische Kirchentag entstand nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch anders als man beim Namen zunächst denkt, sind nicht die evangelischen Landeskirchen Organisatoren des Treffens, sondern protestantische Laien.

1951: Kirchentag ist scheinbar Privatsache und steht für Brüderlichkeit in einer geteilten Stadt

In einer Vitrine der Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums liegt, klein und unscheinbar, ein Umhänger. Auf ihm steht „Wir sind doch Brüder!“. Es handelt sich um ein Tagungsabzeichen des Kirchentags von 1951, der in Berlin stattfand. Der Museumsraum ist zweigeteilt, Deutschland ist in Ost- und West getrennt. Die Museumsbesucher müssen sich immer wieder für eine der beiden Geschichten entscheiden: die der DDR oder die der Bundesrepublik Deutschland. Genau in der Mitte – zwischen DDR und Bundesrepublik – liegt das Tagungsabzeichen. Das Motto der Brüderlichkeit (von Schwestern sprach man damals noch nicht) zieht 1951 200.000 Menschen zur Hauptversammlung nach Berlin, in eine geteilte Stadt. Die Veranstaltung soll die Begegnung über die neue Grenze hinweg befördern.

1951 klammert der Kirchentag die politischen Spannungen zwischen den beiden deutschen Staaten ganz bewusst aus, ist scheinbar unpolitisch. Man erkennt sich an Hand des kleinen Abzeichens und singt spontan in Bussen, Bahnen und auf öffentlichen Plätzen Kirchenlieder. Die Spaltung Deutschlands – scheinbar überwunden im gemeinsamen Singen von Ost- und Westbürgern – hat jedoch eine unausgesprochene, politische Dimension: Die Bundesrepublik erkennt die DDR nicht an, sie versteht sich als alleiniger Staat aller Deutschen. Das Christentreffen, das eine „Verbrüderung“ zwischen Ost und West anstrebt, wird damit – gewollt oder ungewollt – zum Symbol der Deutschlandpolitik Bonns. Es klagt die deutsche Teilung gegenüber der DDR an. Dies funktioniert nur, wenn Religion – auch  für ranghohe Politiker – zur Privatsache wird. 1954 findet auf dem Gebiet der DDR, in Leipzig, ein Kirchentag statt. Der Bundestagspräsident Hermann Ehlers reist an, jedoch nur als Privatperson. Er wirkt nicht am Programm mit und trifft sich – rein privat – auf einen Plausch mit Johannes Dieckmann, der auch Präsident der DDR-Volkskammer ist. Das Treffen findet nur statt, da die Gesprächsthemen zuvor festgelegt wurden: Familie und Wetter.

Dem deutschen Protestantismus fehlt zu dieser Zeit eine demokratisch-politische Tradition. Die Weimarer Republik hatte die Mehrheit der Protestanten abgelehnt und den Machtantritt Hitlers begrüßt. Demokratie war für die Evangelischen etwas Neues, somit geht es auf dem Kirchentag zunächst darum, sich Themen wie dem Grundgesetz überhaupt erst einmal anzunähern. Nach der Katastrophe des Dritten Reiches, nach Vorstellungen mancher Mitglieder der Bekennenden Kirche ein Gottesgericht, wird ein politischer Neuanfang mit einem sittlich-religiösen Neubeginn gleichgesetzt. Kirchentag soll missionarischer Dienst am Volk sein, politische Themen werden als Glaubensthemen behandelt.

1981: Kirchentag wird offen politisch – Demonstration für Frieden-, Umwelt- und Frauenrechte

30 Jahre später, 1981. Wie anders sieht es in Hamburg aus! Der Kirchentag ist explizit politisch. Aus ihm heraus entsteht eine protestantische Bürgerrechtsbewegung die sich für Frieden-, Umwelt- und Frauenrechte einsetzt, die erste große Friedensdemonstration beginnt beim Kirchentag. Die Angst vor einem Dritten Weltkrieg, angesichts der atomaren Bedrohung, kommt in der Losung „Fürchte Dich nicht“ zum Ausdruck. Als in der Messehalle 13 der Verteidigungsminister Hans Apel über seine Raketenpolitik diskutiert, kommt es plötzlich zu Geschrei. Ein Protestzug von weiß gekleideten Gestalten mit dramatisch rot verschmierten Gesichtern zieht ein. Sie rufen – in Anlehnung an die Kirchentagslosung – „Fürchte dich, fürchte dich“ und bewerfen den Minister mit Farbeiern.

Zwei Jahre später, in Hannover, ist es kein kleines Abzeichen mehr, das die Kirchentagsbesucher erkennbar macht, sondern ein lila Halstuch. Es liegt heute in der Dauerausstellung des DHM. Auf ihm ist eine Kirche mit ausgestreckter Stopp-Hand zu sehen, darunter „Die Zeit ist da für ein Nein ohne jedes Ja zu Massenvernichtungswaffen.“ Das Tuch war von einer Friedensgruppe verteilt worden und sorgt für Konflikte. Das Publikum ist jung – zwei Drittel der Teilnehmer sind unter 25 Jahre. Beim Beginn des Abschlussgottesdienstes fordert das Kirchentagspräsidium die Besucher auf, das Tuch nicht zu tragen – wiederholt diese Forderung jedoch nicht, als die Tücher auf die VIP-Bühne fliegen.

1997: Erster gesamtdeutscher Kirchentag in Leipzig behandelt Ungleichheit zwischen Ost und West

1997, Leipzig: Die Kirchentagsbesucher erkennen sich an kleinen Buttons, die sie sich an die Jacke stecken. Die ostdeutsche Stadt ist Schauplatz des ersten gesamtdeutschen Kirchentages nach 1954. Wurde damals noch, vor dem Mauerbau, mit der Losung „Seid fröhlich in der Hoffnung“ vor allem die Hoffnung auf eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Ost- und West ausgedrückt, steht nun, nach dem Mauerfall, die Gerechtigkeit im Zentrum. Die Losung lautet „Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben“. Die Mehrheit der Besucher – 80 % – reist aus dem Westen an. Die Dynamik und Euphorie von 1989, als aus den Montagsgebeten in der Leipziger Nicolaikirche eine friedliche Revolution erwuchs, ist längst vergangen. Nun stehen Themen wie Arbeitslosigkeit und die bleibende Ungleichheit zwischen Ost und West im Vordergrund: Vor der Nicolaikirche wird eine Klagemauer errichtet, an der die Besucher ihre Gedanken hinterlassen können.

Kirchentag heute: entchristlichtes Umfeld ohne Aufregerthemen

Mittlerweile findet Kirchentag in einem entchristlichten Umfeld statt. Die Kirche verliert immer mehr an Anziehungskraft, was an den gleichbleibend hohen Austrittszahlen deutlich wird. Dennoch sind Kirchentage weiterhin Massenveranstaltungen mit hohem Besucherandrang – die Zahl der Dauerteilnehmer liegt stabil bei ca. 100.000 Menschen. Große Aufregerthemen, die alle Teilnehmenden bewegen, wie die Friedensforderungen Anfang der 1980er Jahre, sucht man in den letzten Jahren vergeblich. Verschiedene spirituelle Glaubenszugänge finden ihren Platz, auf dem „Markt der Möglichkeiten“ präsentiert sich eine große Anzahl kirchlicher Gruppen, Musik und z. B. Techno-Gottesdienste geben der Versammlung einen Event-Charakter.

2017 ist für die Protestanten das Jahr, in dem sie sich an den Beginn der Reformation erinnern. Darum organisiert – zum allerersten Mal – die Evangelische Kirche das Laientreffen mit. Das Treffen findet in einer Zeit des Umbruchs und neuer Unübersichtlichkeit statt, viele Menschen suchen Orientierung. Die Besucher versammeln sich unter dem Motto „Du siehst mich“, woran sie sich 2017 erkennen werden, wird sich noch zeigen.