Inside DHM: Europa, Venedig und das Meer

Ein Beitrag zur Blogparade #SalonEuropa

Wussten Sie, dass Europa – gemessen an der Küstenlänge und Gesamtgröße – der maritimste aller Kontinente ist? Haben Sie je darüber nachgedacht, wie die Geschichte Europas verlaufen wäre, wenn sich seine Bewohnerinnen und Bewohner nicht auf die Meere hinausgewagt, Ozeane überquert und auf diese Weise einen engen Austausch mit anderen Weltregionen etabliert hätten? Oder welche Rolle das Meer bis heute für uns Europäer spielt? In unserer Ausstellung „Europa und das Meer“ gehen wir diesen Fragen nach und beleuchten, wie grundlegend das Meer die europäische Geschichte und Kultur geprägt hat. Anhand eines der meistbewunderten Objekte der Schau zeigt Ihnen Christiana Brennecke, Kuratorin der Ausstellung, wie sich ein kleiner europäischer Stadtstaat über das Meer zur Großmacht aufschwang – und bis heute als Inbegriff europäischer Kultur wahrgenommen wird.

Venedig, Prototyp der modernen Seemacht

Kaum jemand, der je in Venedig gewesen ist, wird sich der Faszination entziehen können, die die „Stadt im Meer“ bis heute ausübt. Dort wo sonst Straßen und Autos ein Stadtbild prägen, sorgen in Venedig Wasserwege, Vaporettos und Gondeln für einen ganz besonderen Charme. Hinzu kommen Stadtpaläste und Kirchen, die an architektonischer Pracht ihresgleichen suchen. Den Reichtum vergangener Jahrhunderte, der noch immer überwältigt, hatte Venedig dem Meer zu verdanken. Die Lage der Lagunenstadt auf zahlreichen, dem Festland vorgelagerten Inseln und die damit einhergehende maritime Prägung und Orientierung waren die Grundvoraussetzungen für den Aufstieg Venedigs zur führenden Seemacht im Mittelalter. Innerhalb weniger Jahrhunderte etablierten die Venezianer einen äußerst lukrativen Seehandel, der die vermutlich im 6. Jahrhundert gegründete Stadt zur Drehscheibe zwischen dem Heiligen Römischen Reich und dem Orient sowie zur reichsten Stadt Europas machte. Dieser wirtschaftliche Erfolg wiederum wurde durch militärische Mittel und Strategien gesichert, die Venedig zum Prototyp der modernen europäischen Seemacht werden ließen: Um das Meer „zu beherrschen“ und das Seeimperium auszubauen, schuf Venedig eine stets einsatzbereite Kriegsmarine, die in Europa ihresgleichen suchte. Zudem errichtete es ein Stützpunksystem zur Kontrolle der Seewege, das später von allen großen Seemächten kopiert wurde.

Ansicht von Venedig, in: "Civitates orbis terrarum" (dt. Städte der Welt), Band 2, Autor: Georg Braun, Stecher: Franz Hogenberg, Köln, 1599, Berlin © Deutsches Historisches Museum

Ansicht von Venedig, in: „Civitates orbis terrarum“ (dt. Städte der Welt), Band 2, Autor: Georg Braun, Stecher: Franz Hogenberg, Köln, 1599, Berlin © Deutsches Historisches Museum

Die Inszenierung der Macht: Das Modell des letzten Bucintoro von 1728

Wie keine andere europäische Macht verstand es Venedig dabei auch, seinen Erfolg und seinen Machtanspruch zu inszenieren. Herrschaftliche Paläste wurden gebaut, prunkvolle Feste gefeiert, jeder große Seesieg in prachtvollen Gemälden und anderen Kunstwerken festgehalten. Höhepunkt der Selbstinszenierung als Beherrscherin der Meere war die alljährlich an Christi Himmelfahrt gefeierte „Vermählung Venedigs mit dem Meer“, für die das preisgekrönte Modell des letzten Bucintoro steht, das wir in unserer Ausstellung zum ersten Mal in Deutschland zeigen.

Modell des letzten "Bucintoro" in der Ausstellung "Europa und das Meer", Aldo Baradel (1907–1985), 1972–1976, Venedig-Mestre © Sammlung Aldo Baradel

Modell des letzten „Bucintoro“ in der Ausstellung „Europa und das Meer“, Aldo Baradel (1907–1985), 1972–1976, Venedig-Mestre © Sammlung Aldo Baradel

Der Bucintoro, die Prunkgaleere der venezianischen Dogen, wurde seit dem 14. Jahrhundert zu Repräsentationszwecken zu Wasser gelassen und erlangte durch die Feierlichkeiten am Himmelfahrtstag europaweite Berühmtheit: Im Rahmen einer großen Schiffsprozession wurde der Doge hierbei auf das offene Meer hinausgerudert, wo er mit den Worten

„Wir heiraten dich, Meer, zum Zeichen unserer wahren und beständigen Herrschaft“

einen goldenen Ring in die Fluten warf und die venezianische Seeherrschaft über die Adria symbolisch bekräftigte. An der Prozession nahm die gesamte Staatsführung Venedigs teil, aber auch ausländische Diplomaten lud man zum Zweck der Machtdemonstration gerne dazu. Der letzte Bucintoro von 1728 bot mit einer Länge von knapp 35 Metern, einer Breite von 7,5 Metern und einer Höhe von 8,5 Metern Platz für den Dogenthron und etwa 90 Würdenträgerinnen und -träger. Gerudert wurde er von 168 Mann, die in der Regel dem Kreis der Arbeiterinnen und Arbeiter des Arsenals, der venezianischen Staatswerft, entstammten.

Das Modell im Maßstab von 1:25 wurde nach den bis heute erhaltenen Originalzeichnungen des letzten Bucintoro von 1728 angefertigt, der 1798 durch napoleonische Truppen zerstört wurde. In fünfjähriger Feinarbeit schuf Aldo Baradel (1907-1985) auf der Grundlage dieser Zeichnungen ein originalgetreues Abbild der Prunkgaleere, das mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde und heute als beste Rekonstruktion des Bucintoro gilt. Zentral im Ausstellungskapitel zur Seeherrschaft platziert, spiegelt das Modell für uns wie kein anderes den Reichtum und den Machtanspruch der Seerepublik Venedig wieder, die durch das Meer zur europäischen Großmacht wurde und den späteren Seemächten Portugal, Niederlande und Großbritannien in strategischer Hinsicht den Weg wies. Ohne das Meer wäre die Geschichte Europas eine andere gewesen – Grund genug, die vielschichtige und wechselvolle Beziehung der Europäerinnen und Europäer zum Meer einmal intensiver zu betrachten.