Über NS-Raubkunst, Verantwortung und Restitution
Vor 20 Jahren, am 3. Dezember 1998, wurde die Washingtoner Erklärung verabschiedet. Diese internationale Vereinbarung wurde zur Grundlage für den Umgang mit NS-Raubkunst. Erst durch sie konnte das Gemälde Borussia, das derzeit im Fokus der Intervention „RÜCKANSICHT. Die verborgene Geschichte eines Gemäldes von Adolph Menzel“ steht, im Jahr 2000 restituiert werden. Warum erfolgte die Rückgabe aber erst so spät, obwohl ein Zwangsverkauf schon in der Nachkriegszeit nachweisbar war? In einem weiteren Beitrag in unserer Reihe zur Provenienzforschung am Deutschen Historischen Museum gehen die Kuratorinnen der Intervention, Susan Geißler und Darja Jesse, dieser Frage nach.
Erstmalig in der Nachkriegsgeschichte appellierte die Washingtoner Erklärung an die moralische Verpflichtung der Kulturinstitutionen, ihre Bestände auf NS-Raubgut zu überprüfen. Verabschiedet wurde sie während der „Washingtoner Konferenz in Bezug auf Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden“. Die Forderungen schlugen sich in elf Punkten nieder, den sogenannten Washingtoner Prinzipien. Das erste jener Prinzipien – „Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückerstattet wurden, sollten identifiziert werden“ – impliziert die Pflicht der Kulturgut bewahrenden Einrichtungen, ihre Bestände aktiv nach Raubkunst zu durchsuchen.
Nach der Identifikation solcher Kunstwerke gilt es – wie es unter Punkt acht der Washingtoner Prinzipien heißt – „eine gerechte und faire Lösung zu finden, wobei diese je nach den Gegebenheiten und Umständen des spezifischen Falls unterschiedlich ausfallen kann“.
Ein Wendepunkt in der Provenienzforschung
Die Bundesrepublik Deutschland zählte zu den unterzeichnenden Staaten in Washington und reagierte am 9. Dezember 1999 mit der Gemeinsamen Erklärung sowie einer Handreichung zur Umsetzung. Der vollständige Titel – Gemeinsame Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz – macht deutlich, dass nicht nur Kunstwerke, sondern Kulturgüter im Allgemeinen zum Forschungsgegenstand gemacht werden sollen. Dies ist eine immense Erweiterung des Washingtoner Vorbildes. Es handelt sich dennoch weder um eine rechtlich bindende Verpflichtung noch begründet sie individuelle Rückgabeansprüche von Betroffenen.
In unserem Fall ermöglichte die Washingtoner und folglich auch die Gemeinsame Erklärung die Rückgabe von Adolph Menzels Borussia an die Erben der Familie von Mendelssohn. Das Gemälde befand sich von 1868 bis 1937 im Besitz der Familie. Aufgrund der NS-Rassenideologie mussten die von Mendelssohns große Teile ihres Eigentums verkaufen. Im April 1937 erwarb der Galerist Karl Haberstock das Werk für 19.000 Reichsmark und veräußerte es drei Jahre später für 48.000 an den Sonderauftrag Linz. Dahinter verbirgt sich die umfangreiche Kunstsammlung, die Adolf Hitler zusammentragen ließ. Nach dem Krieg wurden die meisten Objekte daraus an die einstigen Eigentümer restituiert.
Central Collecting Points – Wegbereiter für Rückerstattungen
Der Großteil der ausgelagerten Kulturgüter der NS-Kunstraubaktionen befand sich auf amerikanischem Besatzungsgebiet. Die Militärregierung der Vereinigten Staaten erwies sich im Hinblick auf die von ihr verfolgte Rückgabepolitik als Wegbereiterin von Rückerstattungen. Tausende der von den amerikanischen Besatzern aufgefundenen Kulturgüter wurden zunächst in Kunstsammelstellen, den Central Collecting Points (CCP), zusammengetragen und vorsortiert. Im Oktober 1945 traf im Münchner CCP Menzels Borussia ein. Die Borussia erhielt, wie alle dort eintreffenden Kunstgüter, eine fortlaufende Nummer: die 8877.
Eine der zentralen Aufgaben der CCP war die Restitution der Kunstgüter an ihre rechtmäßigen Besitzer, d.h. Vorkriegseigentümer oder ihre Erben. Die sogenannte Restitutionskartei enthielt wichtige Angaben zur Provenienz eines Objektes, so etwa den Ankauf des Gemäldes von den Mendelssohns durch die Galerie Haberstock.
In einem weiteren dort angelegten Verzeichnis der für den Sonderauftrag Linz vorgesehenen Werke befindet sich Borussia mit dem gestrichenen und ausradierten Vermerk „RESTITUIERT“.
Ob hier ein Irrtum vorlag oder ob es ein möglicher Versuch war, das Gemälde an die Familie zu restituieren, bleibt jedoch bis heute unbeantwortet. Die Nüchternheit dieser Archivalien mit all ihren Nummerierungen, Datierungen und unzähligen Auflistungen der geraubten Kunstgüter lässt nur annähernd erahnen, welche Schicksale sich hinter den Kunstwerken verbergen.
Behördenkarusell – Borussia im Bundesbesitz
Die amerikanische Besatzungsmacht übergab 1952 die Verantwortung für nicht restituierte Kunstgüter an deutsche Behörden. Das Bundesschatzministerium verwaltete die Restbestände in den 1960er Jahren und bot Kunstmuseen in Westdeutschland die Möglichkeit, aus dessen Fundus Objekte als Leihgaben für ihre Häuser auszuwählen. Unter diesen Kunstwerken befand sich auch die Borussia, die 1966 in das Berlin Museum in Westberlin, die spätere Stiftung Stadtmuseum, gelangte. Ihre Ansprüche auf Rückgabe von Kulturgütern konnten die Vorkriegseigentümer bis spätestens Ende der 1960er Jahre stellen. Danach war eine Rückgabeforderung ausgeschlossen.
Für die Zurückhaltung der Behörden und Kultureinrichtungen gegenüber Restitutionen von Raubgut finden sich in dieser Zeit gleich mehrere mögliche Ursachen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit lagen die Prioritäten darin, die eigenen Verluste zu dokumentieren und auszugleichen. Es galt festzuhalten, welche Bestände von den Nationalsozialisten als „entartet“ beschlagnahmt und veräußert und welche als Beutekunst aus den Sammlungen entzogen worden waren. Dem Wunsch der Rückführung der Beutekunst, die am Ende des Zweiten Weltkriegs von den Siegern als Entschädigung für eigenes zerstörtes Kulturgut verstanden wurde, lag zudem eine kollektive Dimension zugrunde. Der Verlust dieser Bestände hinterließ nicht nur eine Leerstelle in den Sammlungen, sondern auch im öffentlichen Bewusstsein. Bei den Personen, die verfolgungsbedingt enteignet worden waren oder ihre Wertgegenstände unter Wert veräußern mussten, handelte es sich um Kunstraub in erschreckender Dimension, den die meisten Kultureinrichtungen aber nicht selbst durch Verluste erlitten hatten. Auch führten zahlreiche Kulturfunktionäre, die erst während des Nationalsozialismus zu ihrer Position kamen, ihr Amt noch nach dem Krieg fort. Sie verspürten kein Unrechtsbewusstsein im Umgang mit der NS-Raubkunst, waren sie doch die Profiteure der nationalsozialistischen Kulturpolitik. Und letztlich musste die junge Bundesrepublik Deutschland die von der US-amerikanischen Regierung vorgeschriebene Rückgabepolitik übernehmen. Das Aufspüren und Restituieren von NS-Raubkunst waren also nicht das Resultat der eigenen Vergangenheitsbewältigung, sondern eine von außen definierte Maßnahme.
Die Debatte geht weiter
Nach der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten 1990 wurden internationale Restitutionsgesuche immer häufiger und der Ruf nach moralischer Verantwortung immer lauter. Dies entfachte eine erneute Auseinandersetzung über den Umgang mit NS-Raubkunst und gipfelte schließlich in der Washingtoner Erklärung.
Die Geschichte der Borussia ist komplex und steht beispielhaft für eine erfolgreiche Restitution. Gelingen konnte sie nur aufgrund der zahlreichen Spuren auf der Gemälde-Rückseite sowie der gut überlieferten Aktenlage. Die Zahl der Kulturgüter, die sich bis heute in öffentlichen oder privaten Sammlungen befinden und nicht zurückgegeben wurden, ist unbekannt. Häufig fehlen ihnen Etiketten und Aufschriften, die Hinweise auf ihre einstigen Besitzer geben könnten.
Die Debatten um die NS-Raubkunst und die Umsetzung der Washingtoner Prinzipien gehen weiter. Viele strittige Punkte beschäftigen auch 20 Jahre nach der Washingtoner Erklärung sowohl die Kultureinrichtungen als auch die Erben der Vorkriegseigentümer. Auf institutioneller Ebene geht es vor allem um die Finanzierung der Provenienzforschung, personelle Überlastung und die Forderung nach Öffnung sowie Erschließung notwendiger Archivbestände. Für die Erben sind der Dialog auf Augenhöhe und die Transparenz der Kulturinstitutionen grundlegend für eine „gerechte und faire Lösung“. Immer mehr Stimmen fordern zudem eine juristische Umsetzung der Washingtoner Erklärung: ein Restitutionsgesetz.