Victoria Woodhull und Karl Marx

Dr. Antje Schrupp | 3. März 2022

Die US-amerikanische Journalistin, Spiritistin, Sozialistin und Frauenrechtlerin Victoria Woodhull (1838–1927) schloss sich 1871 mit der New Yorker „Sektion 12“ der Internationale an. Zu ihren zentralen Themen gehörten das Frauenwahlrecht und Sozialreformen, aber auch die sexuelle Befreiung der Frauen. Bei Karl Marx stießen ihre Positionen auf heftigen Widerspruch, erläutert Dr. Antje Schrupp in ihrem Beitrag zur Ausstellung „Karl Marx und der Kapitalismus“.

Die Arbeiterführer in den USA waren besorgt: „Wir wollen nicht, dass man ihre lächerlichen Vorstellungen für die Ansichten dieser Gesellschaft hält“, schrieb der Sekretär des dortigen Zentralkomitees der Internationale, Friedrich Bolte, im Frühjahr 1872 an Karl Marx und den Generalrat in London. „Der Unsinn, von dem sie reden, Frauenwahlrecht und freie Liebe, mag vielleicht in der Zukunft einmal berücksichtigt werden, aber die Frage, die uns als Arbeiter interessiert, ist die von Arbeit und Löhnen!“

Was die Vertreter der organisierten Arbeiterbewegung so in Aufruhr versetzte, war die Sektion 12 der New Yorker Internationale. Sie stand unter der Führung von Victoria Woodhull, einer skandalumwitterten öffentlichen Person, die damals Schlagzeilen machte, weil sie als erste Frau bei Präsidentschaftswahlen kandidieren wollte, die im November 1872 anstanden. Dabei war Woodhull keine der wohlanständigen bürgerlichen Frauenrechtlerinnen. Wenige Monate zuvor hatte sie in der völlig überfüllten Steinway Hall in Mannhatten vor tausenden Zuhörer*innen verkündet: „Ja, ich bin eine Anhängerin der freien Liebe. Ich habe das unveräußerliche, verfassungsmäßige und natürliche Recht zu lieben wen ich will, so lang oder kurz wie ich kann, diese Liebe jeden Tag zu wechseln, wenn es mir gefällt.“ Die Moralapostel drehten frei.

Man kann die Persönlichkeiten von Victoria Woodhull und Karl Marx als gegensätzliche Typen des sozialistischen, proletarischen Kampfes verstehen. Nicht nur wegen des offensichtlichen Unterschiedes, dass sie eine Frau war und er ein Mann in einer Zeit, als von Gleichberechtigung der Geschlechter noch keine Rede war. Marx hatte ein fokussiertes Anliegen – Kapitalismuskritik und Befreiung der Arbeiterklasse aus ihrer ökonomischen Zwangslage. Woodhull hingegen vertrat eine sehr breite Agenda. Sie wollte nicht nur Ökonomie und Politik, sondern auch Kultur, Moral, Werte, Geschlechterverhältnisse ändern. Sie war nicht nur Sozialistin, sondern auch Feministin, Spiritistin, Sozialreformerin.

Und Kapitalistin. Als erste Frau hatte Woodhull zusammen mit ihrer Schwester Tennessee eine Brokerfirma an der Wallstreet eröffnet. Das Kapital stammte von dem Eisenbahnmagnaten Cornelius Vanderbilt, der sie für ihre vermeintlich hellseherischen, in Wahrheit aber von Insiderwissen aus dem Rotlichtmilieu stammenden Börsentipps an seinen Gewinnen beteiligte.

Der größte Unterschied zwischen Woodhull und Marx ist zweifellos ihr sozialer Hintergrund. Der von Marx war bürgerlich, Woodhull hingegen entstammte nicht nur der Unterschicht, sondern deren düstersten Bereichen. Geboren wurde sie am 23. September 1838, also zwanzig Jahre nach Marx, in einer winzigen Ortschaft namens Homer in Ohio als siebtes Kind von Annie und Buck Claflin. Die Mutter war eine religiös erweckte Spiritistin, der Vater Trickbetrüger. Die Familie Claflin war nicht nur arm, sondern das, was man damals „unrespektabel“ nannte. Sie entsprach ziemlich genau dem Bild, das Marx vom Lumpenproletariat gezeichnet hatte: kein Klassenbewusstsein, kein Arbeiterethos, keine bürgerlichen Aufstiegsambitionen.

Mit 15 Jahren heiratete Victoria einen Trunkenbold, tingelte als „Cigar-Girl“ im Goldrausch durch die Saloons von San Francisco, brachte zwei Kinder zur Welt (eines davon schwer geistig behindert) und machte Karriere als Wahrsagerin und Wunderheilerin in St. Louis. Die Wende in ihrem Leben kam, als sie sich 1868 in einen liberalen Bürgerkriegsveteranen verliebte, der sie in die amerikanischen Reformbewegungen einführte. Von nun an setzte sie ihre Energie dafür ein, ihrer gesammelten Lebenserfahrung auf der politischen Bühne ihrer Zeit Gehör zu verschaffen: Sie vertrat die Anliegen von geschlagenen Frauen, kinderreichen Familien in Armut, Sexarbeiterinnen, Kriegstraumatisierten und ihren Angehörigen, ungewollt Schwangeren, gesellschaftlich Ausgestoßenen aller Art. Sie schrieb Zeitungsartikel, hielt Reden, verfasste Petitionen, knüpfte politische Beziehungen, gründete eine Wochenzeitung. Für uns heute ein wahrer Glücksfall, denn in den Quellen des 19. Jahrhunderts gibt es ansonsten kaum Originaltöne aus einem nicht bürgerlichen Milieu, geschweige denn weibliche.

In heutigen Begrifflichkeiten könnte man Victoria Woodhull als Vertreterin eines intersektionalen Feminismus verstehen. Sie wollte die Frauenrechtlerinnen dazu bringen, nicht nur für das Wahlrecht einzutreten – zur damaligen Zeit ein typisch bürgerliches Anliegen – sondern auch für eine Reform des Eherechts, Zugang zu Abtreibung und Verhütungsmitteln, mehr ökonomische Gleichheit. Als weiße Feministinnen das Wahlrecht für Frauen gegen das Wahlrecht für Schwarze Männer ausspielten, brachte Woodhull einen eigenwilligen Vorschlag vor, indem sie erklärte, dass Frauen in den USA formal gesehen das Wahlrecht längst hätten. Tatsächlich konnte sie dieses als „Woodhull Memorial“ bekannt gewordene Papier im Januar 1871 in Washington dem Rechtsausschuss des Kongresses persönlich vortragen.

Niemals ließ sie sich von einer Bewegung vereinnahmen. Kaum hatten die Frauenrechtlerinnen angefangen, sich für sie zu interessieren, organisierte sie in New York einen riesigen Trauerzug für die Opfer der Pariser Kommune. Sie forderte jederzeit alle Seiten heraus. Letzten Endes, so muss man sagen, ohne Erfolg. Denn sowohl die Frauenrechtsbewegung als auch die Arbeiterbewegung distanzierten sich schließlich von Victoria Woodhull. Sektion 12 wurde beim Kongress in Den Haag im September 1872 aus der Internationale ausgeschlossen, und auch die Frauenrechtlerinnen tilgten die Erinnerung an ihre eigenwillige Vordenkerin für lange Zeit. Erst Ende des 20. Jahrhunderts entdeckten Forscherinnen Woodhull wieder, im Jahr 2001 bekam sie endlich einen Platz in der US-amerikanischen „National Women’s Hall of Fame“. Zum Glück. Denn auch heute noch sind die Ideen und Analysen von Victoria Woodhull für alle, die nach freiheitlichen Vorbildern im Kampf gegen Herrschaft in ihren unterschiedlichsten Formen suchen, eine großartige Inspiration.

Bild: Mrs. Woodhull fordert ihr Recht zu wählen ein, In: Harper’s Weekly (778), Zeichnung / Drawing: H. Balling New York, 25. November 1871, Reproduktion, Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen

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Dr. Antje Schrupp

Dr. Antje Schrupp ist Politikwissenschaftlerin und Journalistin und lebt in Frankfurt am Main. Sie hat über feministische Sozialistinnen in der Ersten Internationale promoviert und forscht insbesondere zur politischen Ideengeschichte von Frauen. 2002 erschien ihr Buch „Das Aufsehen erregende Leben der Victoria Woodhull“, die erste deutschsprachige Biografie zu Woodhull.