Staatsbürgerschaften. Frankreich, Polen, Deutschland seit 1789

Dieter Gosewinkel | 5. Juli 2022

Zur Eröffnung der Ausstellung „Staatsbürgerschaften. Frankreich, Polen, Deutschland seit 1789“ am 30. Juni 2022 hielt Kurator Dieter Gosewinkel folgende Rede im Zeughaushof.

Im Herbst 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, erschien – posthum – die Autobiographie eines berühmten Autors, eines Wieners aus jüdischer Familie: Stefan Zweig. Er hielt im Rückblick auf sein englisches Exil fest: „Der Fall Österreichs brachte in meiner privaten Existenz eine Veränderung mit sich, die ich zunächst als eine gänzlich belanglose und bloß formelle ansah: ich verlor damit meinen österreichischen Pass und mußte von den englischen Behörden ein weißes Ersatzpapier, einen Staatenlosenpaß erbitten. Oft hatte ich in meinen kosmopolitischen Träumereien mir heimlich ausgemalt, wie herrlich es sein müsse, wie eigentlich gemäß meinem inneren Empfinden, staatenlos zu sein, keinem Lande verpflichtet und darum allen unterschiedsloser zugehörig. Auf meinen österreichischen Paß hatte ich ein Anrecht gehabt. […] Das englische Fremdenpapier dagegen, das ich erhielt, mußte ich erbitten. Es war eine erbetene Gefälligkeit, […], die mir jeden Augenblick entzogen werden konnte“.[1]

Zweig erfasst als literarischer Augenzeuge, was die Staatsbürgerschaft in ihrem Kern ausmacht: das Recht auf Schutz durch seinen Staat, und zwar vor Ausweisung wie auch im Ausland; die Anerkennung des Rechts auf politische Zugehörigkeit; die Gewährung der damit verbundenen Rechte auf Freiheit und Teilhabe; schließlich elementare Pflichten wie zum Beispiel die Wehrpflicht. Zweig trifft genau den historischen Moment, in dem die Staatsbürgerschaft – zumal in Europa – ihren höchsten Wert für das Individuum erreicht und zugleich am stärksten gefährdet ist: Auf dem Höhepunkt der nationalstaatlichen Expansion wird die rechtsstaatliche Form der Staatsbürgerschaft zerstört. Die Diktaturen Europas entziehen nach Belieben die Staatsangehörigkeit, stoßen sogenannte politisch und „rassisch“ Unerwünschte in die Staatenlosigkeit und liefern sie inmitten von schweren wirtschaftlichen Krisen und Krieg existenzbedrohenden Gefährdungen aus. Zweig, der unfreiwillige Wanderer, aus der „Welt von Gestern“ kommend, stößt an das „stahlharte Gehäuse“ (M. Weber) des Staats der autoritären Hochmoderne, für den die Staatsbürgerschaft ein Instrument der Herrschaftsorganisation ist.

Stefan Zweig erleidet am eigenen Leibe eine existenzbedrohende Lage, die zum Kern der Ausstellung und ihrer zentralen These führt: Die Staatsbürgerschaft wird im Verlauf des 20. Jahrhunderts zur dominanten Form politischer Zugehörigkeit, die über Lebens- und Überlebenschancen des Individuums bestimmt. Anders als Zweig, der aus wohlhabenden Verhältnissen stammte, erging es den Millionen und Abermillionen von Arbeitsmigranten, Flüchtlingen, Vertriebenen und Optanten, die das Europa des 19. und 20. Jahrhunderts durchzogen. Aus oftmals drückender Armut und Bedrängung strebten sie – meist mehr unfreiwillig als freiwillig – in einen anderen Staat, von dem sie sich Aufnahme und Schutz versprachen. Nicht selten wurden sie in ihren Erwartungen enttäuscht, nicht eingebürgert oder ungeachtet ihrer Einbürgerung als ‚andersartig‘ diskriminiert oder verachtet. Die Ausstellung nimmt diese Migrationsströme seit dem 19. Jahrhundert in den Blick. Sie konzentriert sich dabei auf drei Länder im Herzen Europas: Frankreich, Polen, Deutschland. Diese stehen historisch in besonders intensiven Nachbarschaftsverhältnissen zueinander und zwar in positiver wie negativer Hinsicht. Die drei Länder sind füreinander überaus wichtige Ziele der Arbeitsmigration, des Handels und des kulturellen Austausches. Aber ihr Verhältnis ist zugleich in besonderer Weise durch nationalstaatliche Abgrenzung und Gewalt bis hin zu exterminatorischer Feindschaft gekennzeichnet. Diese besondere Verflochtenheit in Abgrenzung und Anziehung tritt in der Geschichte ihrer Staatsbürgerschaften zutage und wird im Recht der Staatsbürgerschaft institutionell verstetigt. Darum widmet sich die Ausstellung diesen drei Ländern.

Wenn Sie die Ausstellung betreten, werden Sie aber nicht der Reihe nach durch die Geschichte jedes dieser Länder geführt. Es geht uns vielmehr um die Verflechtung ihrer Geschichten seit dem Zeitalter der Französischen Revolution. Im zentralen Eingangsraum schreiten Sie am Ariadnefaden der Chronologie die wichtigsten Entwicklungsetappen der Staatsbürgerschaft ab: von der Erfindung des „citoyen“ und „obywatel“ in den Verfassungswerken Frankreichs und Polens während der Revolutionszeit über die Vervielfachung der Passvarianten in den beginnenden Migrationsströmen zwischen den drei Ländern während der Industrialisierung. Dann geht es ab Mitte des 19. Jahrhunderts in die Hochzeit der nationalstaatlichen Abgrenzung, die wir insbesondere anhand zweier umkämpfter Krisenregionen, Elsass-Lothringen und Schlesien, zeigen. Wir sehen das prachtvolle sogenannte „Befreiungskleid“ in den Farben der Trikolore, mit dem Straßburgerinnen 1918 die Rückkehr des Elsass nach Frankreich feiern, und den polnischen Adler, dessen ausgebreitete Flügel Deutsche in Schlesien 1920 zur Abstimmung für Polen einladen. Die Zeit der Weltkriege zeigt den Regelungsfuror der in die Diktatur abgleitenden Wohlfahrtsstaaten, die den Zugang zur Staatsbürgerschaft scharf und diskriminierend kontrollieren. Die Tafel der Nürnberger Rassegesetze von 1935 demonstriert den Tiefpunkt dieser Entwicklung. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und mehr noch nach 1989 ist zunehmend von den Herausforderungen einer diverser werdenden Gesellschaft der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger geprägt. Postkoloniale und innereuropäische Migrationsbewegungen verändern die Zusammensetzung des Staatsvolks und lösen neue Konflikte um die Zugehörigkeit aus. Der plakatierte Streit um die doppelte Staatsangehörigkeit zeigt das. Staatsbürgerschaft, wie wir sie zeigen, ist nicht nur eine rechtliche Institution. Sie ist auch und vor allem das Ergebnis – politischer, sozialer, kultureller – Kämpfe um Zugehörigkeit. Deshalb konzentriert sich der weitere Gang der Ausstellung auf Vertiefungs- oder besser Erweiterungsräume, die diese historischen Kämpfe um Zugehörigkeit nachvollziehbar machen wollen. Hier zeigt sich das Machtgefälle im Einbürgerungsverfahren, wenn AntragstellerInnen demuts-, nicht selten auch angstvoll ihre Gesuche stellen und Behördenvertreter kühl, bisweilen auch voreingenommen, ihre Raster rechtlicher Kriterien auf sie anlegen. Erkennbar wird, wie sehr die Erziehung zum ‚guten Staatsbürger‘ im Vorstellungsbild aller drei Länder durch Bildung und Militärdienst erfolgt. Dabei tritt auch die abgrenzende, nationalistische Seite staatsbürgerlicher Bildung hervor, wenn zum Beispiel ein Gemälde von 1887 einen französischen Geographielehrer zeigt, der die verloren gegangenen Gebiete des Elsass und Lothringens seinen Schülern nachdrücklich als „schwarzen Fleck“ vorführt.

Die Geschichte der Staatsbürgerschaft zeugt von den Kämpfen diskriminierter Gruppen um ihre Anerkennung und Zugehörigkeit als gleichberechtige Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Dem widmen sich zwei Räume über Frauen und Juden beziehungsweise Jüdinnen. Eines meiner Lieblingsobjekte, ich gestehe, ist ein Fächer von 1914 mit der Aufschrift „Je désire voter“, mit dem die französische Frauenbewegung – in Verbindung mit der polnischen und deutschen – für das Frauenwahlrecht kämpft. Welche Kluft zwischen diesem begeisterten Kampf für das Wahlrecht und dem allgemeinen Wahlverhalten heutzutage in allen drei Ländern!

Wie Juden, die staatsbürgerrechtlich am schärfsten diskriminierte Gruppe, ihre Zugehörigkeit zum Staat im buchstäblichen Sinn erkämpfen, zeigt ein Glanzstück der Ausstellung, das Gemälde Moritz Daniel Oppenheims von 1833. Es zeigt, wie es heißt, die „Heimkehr des Freiwilligen aus den Befreiungskriegen zu den nach alter Sitte lebenden Seinen“.

Der scharf diskriminierenden Zweiteilung der Welt in „Staatsbürger“ und indigene „Untertanen“ widmet sich der Raum über Kolonialismus und Rassismus. Das Gemälde „Preußisches Liebesglück“ von 1890 zeigt einen schwarzhäutigen Mann in preußischer Offiziersuniform, an den sich eine blonde weiße Frau schmiegt. Es bildet einen realen Fall ab und ist zugleich ein falsches Idyll! Die gezeigte eheliche Verbindung widerspricht der allgemeinen Realität des deutschen Kolonial- und Rassestaats, der seine Ablehnung sogenannter. „rassischer Mischehen“ bis in die Herrschaft über das besetzte Polen im Zweiten Weltkrieg weiterträgt.

Ihre ganze Härte erweist die Staatsbürgerschaft als Rechtsinstitution, wo sie Verfahren der Identifikation, Selektion und Aussonderung erzeugt. Stefan Zweig meinte eben dies – und er war Zeuge der Stigmatisierung von „enemy aliens“ während des Ersten Weltkriegs und der Ausbürgerungen durch den NS-Staat, die viele Künstler, Politiker und Intellektuelle trafen. Auch nach 1945 gab es in Deutschland – wie auch in Polen – Ausbürgerungen. Der wohl prominenteste Fall betraf Wolf Biermann.

Wie Staatsbürgerschaft im behördlichen Alltag geformt wird, zeigen wir anhand der Akteure im Verfahren der Einbürgerung: Wer eingebürgert werden wollte und will, sitzt Beamten gegenüber, die über das Wohl und Wehe des Antrags und Antragstellers entscheiden. Moderne Videofilme repräsentieren die Kriterien – und kulturellen Unterschiede – im Einbürgerungsverfahren der drei Staaten.

Wie sehr all diese historischen Kämpfe um Zugehörigkeit zugleich Teil unserer Gegenwart sind, zeigen wir am Schluss. Die abrupten Grenzschließungen aufgrund von Covid, mit denen der stolze Status des Unionsbürgers plötzlich an alten Schlagbäumen endete, und die neuen Fluchtbewegungen, die auf Deutschland, Frankreich, nun vor allem auf Polen, eindringen, werfen die alte Frage mit neuer Schärfe auf: Was bedeutet und nutzt eine Staatsbürgerschaft, die man hat – oder nicht hat?

Wir wollten nicht einfach eine Ausstellung machen, die eine abstrakte Rechtsinstitution durch das Papierwerk illustriert, das sie produziert: Einbürgerungsgesuche, Schriftverkehr, Gesetzestexte, Pässe. Das alles zeigen wir in Fülle. Uns geht es vielmehr gerade auch um die Emotionen, die diese Dokumente verkörpern und auslösen – Gefühle ganz unterschiedlicher Art: positive Emotionen jener, die Stolz für ihre politische Zugehörigkeit empfinden, Erleichterung oder Genugtuung, dass sie mit ihrer Staatsbürgerschaft Rechte und Schutz genießen. Demgegenüber die Enttäuschung, die Ablehnung, die Wut, und ja, auch der Hass, den diejenigen empfinden, deren Einbürgerung abgelehnt, denen ihre Staatsangehörigkeit entzogen oder oktroyiert wird, die aufgrund einer Staatsangehörigkeit für einen Staat in den Krieg ziehen müssen, möglicherweise für den falschen. Das alles schwingt mit, steht zwischen den Zeilen, setzt auf eigene Assoziationen der Betrachtenden.

Und natürlich gibt es die Gleichgültigkeit derjenigen, denen ihr Pass egal ist. Dieses Gefühl ist legitim und verbreitet. Gerade in Zeiten von Krieg und Krise, das durchzieht die Ausstellung, ist es hingegen alles andere als gleichgültig, ob man eine Staatsbürgerschaft hat – und welche. So sah es Stefan Zweig, wenn er, nicht ohne Wehmut, auf die kosmopolitischen Träume seiner Welt von gestern zurückblickte.

Die darauf folgende Rede von Autorin und Publizistin Olga Mannheimer können Sie auf unserem Soundcloud-Kanal nachhören.


Verweise:

[1] Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Erstausgabe 1942 Berman-Fischer Verlag A.B. Stockholm, überarbeitete Neuausgabe Fischer, Frankfurt a.M. 2020, S.434, 435, 436.

© Christian Leroy

Dieter Gosewinkel

Prof. Dr. Dieter Gosewinkel ist am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung tätig und ist Professor für Neuere Geschichte an der FU Berlin. Er ist Historiker und Jurist und verfügt über zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich der europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, insbesondere zur Staatsbürgerschaft in Europa.