> Alfred Försterling: Fahrt in die russische Gefangenschaft

Alfred Försterling: Fahrt in die russische Gefangenschaft

Dieser Eintrag stammt von Alfred Försterling (*1925) aus Hamburg, November 2007:

 

Am 11. Mai Aufbruch. Eine größerer Zug von müden Gefangenen, schwer bewacht von den Russen, setzt sich in Bewegung. Wir schlürfen durch Bützow in Mecklenburg. Soweit noch Deutsche dort wohnen, werfen sie uns Tabak und Zigaretten aus den Fenstern. Nach einem schlimmen Marsch erreichen wir erschöpft die Gegend von Güstrow. Hier sperrt man uns in einem Kohlenkeller ein. Aber noch ist die Hoffnung auf Freilassung ungebrochen. [...]

Am 23. Mai erreichen wir das ehemalige Konzentrationslager Neubrandenburg. Nun werden wir hier eingesperrt. Ich schätze, dass hier jetzt etwa 13 000 Kriegsgefangene zusammen gekommen sind. Alle Waffengattungen sind vertreten, auch Angehörige der Organisation Todt. Das sind die in hellen olivefarbigen Uniformen gesteckten Männer jenseits der 50. Sie waren ohne Waffen hauptsächlich für Instandsetzungs- und Transportaufgaben, aber auch zum Errichten von Verteidigungsanlagen, sprich Panzersperren, eingesetzt. Diese armen Kerle litten besonders unter den schwierigen Bedingungen der Gefangenschaft. [...] Bis zum 30. Mai bleiben wir in diesem Lager. Die Tage vergehen mit essen und schlafen. Die dürftige Verpflegung besteht aus dünnen Graupensuppen. Es gelingt aber immer wieder, innerhalb des Lagers etwas aufzutreiben, was sich kochen lässt. [...]

Am 30. Mai heißt es dann, heraustreten zum Abmarsch. Aber wohin? Der Gefangenenzug zählt etwa 3000 Mann. Eine unübersehbare Schlange in Fünferreihen wälzt sich müde und hungrig auf staubiger Strasse gen Osten. Fünf Tage sind wir unterwegs. [...] Am 3. Juni abends erreichen wir Stargard. Etwa 24 000 Gefangene sind in einem Schulkomplex eingepfercht. Nachts endlich wieder mal ein Dach über dem Kopf, der nun weich auf dem gefundenen Kopfkissen gebettet ist. Jetzt gibt es nur noch eins: schlafen, schlafen, schlafen.

Im Laufe des Tages werden wir Neuankömmlinge gründlich gefilzt. Bis jetzt konnte ich durch allerlei Tricks immer noch ein Teil meiner wichtigsten Utensilien behalten. Auch diesmal versuche ich es wieder. Einem aus einer anderen Gruppe, die schon länger hier ist und heute nicht mehr gefilzt wird, übergebe ich meine Brieftasche, in der sich auch mein Funkpatent befindet, Taschenbuch, Taschenmesser und Feuerzeug zur vorsorglichen Aufbewahrung. Mein Vertrauen in diesen "Kameraden" war mein größter Fehler. Ich finde ihn nie wieder, er ist einfach unsichtbar geworden. Meine Sachen bin ich los. Und wie zum Hohn verlieren die Russen ihre Lust am Filzen kurz bevor ich an der Reihe bin. Das ist wirklich zum verzweifeln. [...]

Fast drei Wochen verbringen wir in diesem Lager. Es ist auf dem Gelände einer ehemaligen Genossenschaft. In den Stallungen liegen wir gut auf Stroh gebettet. Als Verpflegung erhalten wir sämige Suppen aus Kartoffelflocken Kategorie 3. Das sind die dort noch lagernden getrockneten Schalten von maschinell geschälten Kartoffeln. An ihnen haften noch gute Reste von Kartoffeln. Die Suppen sind angereichert mit Innereien von Rindern. Während unseres Kommandos konnte ich sehen, wie Rinder herrenlos in Herden auf den Feldern herum laufen. Viele Milchkühe brüllen mit entzündeten Eutern, weil niemand da ist, der sie melkt. Solche Rinder werden wohl für die russische Armee als Verpflegung geschlachtet. Da die Russen überhaupt keine Innereien essen, haben wir also reichlich davon. Die Leber ist sehr schmackhaft, an den Geschmack von Kuheutern muss man sich zwar gewöhnen, aber der Hunger treibt's ein.

So vergehen die Tage. Wir sind zwar eingesperrt, aber niemand kümmert sich um uns. Nur zum Essenfassen stehen wir auf der Matte. Irgendwo habe ich ein Buch aufgestöbert. Darin kann ich nun lesen. Die leeren Seiten dienen mir weiter als Notizzettel für meine Tagebucheintragungen. Dann laufen plötzlich widersprechende Parolen herum. Das Lager soll aufgelöst werden. Wohin wird es gehen? Königsberg? Müssen wir wieder endlos marschieren? Oder werden wir gefahren? Am 10.7.45 erfahren wir es dann.

Eines morgens müssen wir auf dem Lagerplatz antreten und warten, warten, warten. Gegen Abend geht es dann zu einer Bahnlinie. Auf einem Abstellgleis wartet ein Güterzug mit gedeckten Wagen. Als Schulkind hatte ich beim Besuch der Großeltern auf dem Magerviehhof in Friedrichsfelde, wo ich an Rampen der Eisenbahn den Rangierarbeiten zuschauen konnte, an einem Waggon gelesen: 40 Hommes, 12 Chevaux. Daran erinnere ich mich jetzt, als wir zu je 40 eingeteilt einem Waggon zugewiesen werden. Bald darauf geht es los. Wohin fahren wir? Das Bahnhofsschild Ahrenswalde gleitet vorüber. Der Zug hält längere Zeit in der Nähe eines Bahnhofs. Schneidemühl kann ich mühsam erkennen. Jetzt bekommen wir auch etwas zu essen: 4 Mann 1 Brot, etwas Graupensuppe und einen Löffel voll Zucker. Als Nachtessen gibt es für 2 Mann 3 Pellkartoffeln.

Die Fahrt geht weiter. Am nächsten Tag erhalten wir als Tagesverpflegung je 3 Mann ein Brot und etwas Zucker dazu. Das Rätselraten über das Ziel dieser Fahrt wird immer größer. Nachts überquert der Zug einen breiten Fluss. Das kann nur die Weichsel sein. Am 14. Juli hält der Zug in Graudenz. Hier erwartet uns eine ehemalige alte Kaserne noch aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg als neues Lager.

Das Gebäude hat keine Türen und Fensterscheiben mehr, als Schlafstätten dienen harte Holzpritschen ohne jede Unterlage. Ein Glück, dass ich noch das Kopfkissen aus dem Straßengraben habe. Viele Kameraden haben wenigstens noch ihren Militärmantel als Zudecke. Meinen hatten mir schon anfangs die Russen abgenommen. Nur eine zerschlissene Pferdedecke und eine Dreieckszeltbahn bieten etwas Schutz vor der nächtlichen Kühle. Wir haben zwar wunderbares warmes Hochsommerwetter. Eigentlich schon während der ganzen Zeit der Gefangenschaft, sonst hätten wir das alles gar nicht so überstehen können. Ohne Fenster und Türen zieht es aber jämmerlich. Die harte Pritsche sorgt für schmerzhafte Stellen an Hüften und Rücken. Wir haben fürchterlichen Hunger. Hier im Lager gibt es zwar dünne Graupensuppen, aber das ist viel zu wenig. [...]

Seit den Märschen von Neubrandenburg leide ich mehr oder weniger unter Sodbrennen. Diese blauen Graupensuppen vertrage ich überhaupt nicht. Es gibt sie häufig und als einzige Verpflegung. Blauer Heinrich, so wurde früher diese Suppe genannt. Es war ein typisches "Arme-Leute-Essen". Wenn vorhanden, esse ich gegen diese Beschwerden eine rohe Kartoffel. Das bringt sofort Erleichterung. Sodbrennen stellt sich jetzt immer häufiger ein. Eines nachts muss ich mich ständig erbrechen. Ich spüre, dass ich leichtes Fieber habe und fühle mich sehr schwach. Dann geht es wieder mal etwas besser bis ich sogar Durchfall bekomme. So geht es immer auf und ab bis Ende August. Dann wird es wieder schlimmer. Ich melde mich krank und komme ins Revier.

Am 9. September wird das ganze Lager bis auf das Lazarett und die sogenannten Stamm-Einheiten aufgelöst. [...] Am Tag darauf werde ich aus dem Lazarett entlassen und komme vor ein russisches Ärzteteam, das mich gründlich untersucht. [...] Am 12. September nachmittags müssen wir in einen bereitstehenden Güterzug einsteigen. Jeweils 45 Mann in einen Waggon. Am nächsten Tag setzt sich der Zug in Bewegung. Richtung Osten. 45 Mann sind viel zu viel in einem Waggon. Es ist zu eng. Noch habe ich meine Zeltbahn. Die spanne ich unter der Decke des Waggons auf und verbringe die ganze Fahrt darin. So kann ich wenigstens einigermaßen schlafen.

Der Zug rollt durch Deutsch-Eylau, das ist die ehemalige deutsche Grenzstation am "Polnischen Korridor", und weiter durch Allenstein. Am 18. September erreicht der Transport Insterburg. [...] Hier in Insterburg endet zunächst die Eisenbahnfahrt. Von hier ab kann es nur noch auf russischer Breitspur weitergehen. Wir müssen also den Zug verlassen und in 5er Reihen antreten. Für die weitere Fahrt in den nun russischen Viehwaggons werden wir abgezählt und eingeteilt. [...]

Während des Umladens können wir uns zwischen den Gleisen bewegen. Hier liegen überall leere Konservendosen herum. Wir beobachten auch russische Soldaten, wie sie aus solchen Dosen essen. Offensichtlich ihre Verpflegung. Bei näherem Hinschauen ist zu erkennen, woher diese Dosen kommen. Fertignahrung aus Chikago von der Firma Oskar Meyer. Eine solche Dose schnappe ich mir. Sie muss mir als Fressnapf und Trinkbecher dienen, denn andere Gefäße habe ich nicht mehr. Als Verpflegung gab es während des Transports bis jetzt nur trockenes Brot. Das ist zwar besser als Wassersuppe, aber es macht auch durstig.

So liegen wir beide nun nebeneinander im voll gefüllten russischen Güterwagen und harren der kommenden Nacht. Als erstes versuche ich, einen der quer über die Luftklappe genagelten Stacheldrähte zu entfernen. Den vielleicht schon von früheren Transporten leicht angerosteten mittleren Draht kann ich so oft biegen, bis er erst an einem Ende, dann am anderen Ende bricht. Die nun blanken Bruchstellen werden schnell rostig, als ich sie mit Urin betupfe. Irgendwoher habe ich noch ein Stück Bindfaden. Daran baumelt jetzt meine Dose, die ich zwischen den beiden verbliebenen Stacheldrähten nach draußen hinab lasse. Als ein russischer Wachtposten in der Nähe ist rufe ich: "Wadi, wadi, wadi". Er erbarmt sich, knüpft meine Dose ab und entfernt sich. Wird er wohl wiederkommen? Sonst ist meine kostbare Dose weg! Nach einer ganzen Weile kommt er tatsächlich mit Wasser zurück und bindet die nun volle Dose wieder an meinen Bindfaden. Schluckweise teilen wir uns das köstliche Nass. Auch anderen Kameraden gebe ich davon zu trinken. Dabei sind auch solche, die laut protestiert hatten, als ich den Stacheldraht entfernte. Sie hatten Angst, von den Russen dafür bestraft zu werden. Aber den Wachtposten ist überhaupt nicht aufgefallen, dass ein Draht fehlt.

Dann setzt sich der Zug in Bewegung. Kowno, Wilna, Wiliki Luki Toropez kann ich von meinem "Aussichtsfenster" entziffern. Aber es zieht auch fürchterlich. Ein starker Husten stellt sich ein, der aber bald wieder nachlässt. Manchmal hält der Zug auch für einige Zeit auf einem Nebengleis an, vielleicht um auf den immer nur eingleisigen Strecken einen Gegenzug oder einen schnelleren Zug zum Überholen vorbei zu lassen. Meistens dürfen wir dann aus den Waggons herausklettern, natürlich streng bewacht vom russischen Transportkommando. Wir können uns die Füße vertreten, etwas Bewegung verschaffen und vor allen Dingen pinkeln und auch die großen Geschäfte verrichten. Diese Aufenthalte sind eine Wohltat. Im Waggon kann man nur liegen, allenfalls gebückt sitzen. Bald ist der Körper steif und schmerzt an allen Stellen. [...]

Nach der hügeligen und teils gebirgigen Landschaft müssen wir jetzt im Ural sein. Dann hält der Zug aber endgültig. Wir müssen den Zug verlassen. Drei lange beschwerliche Wochen im Güterwagen haben zu unserer Erleichterung ein Ende gefunden.

lo