> Hermann Lohmann: Das Kriegsende in Sachsen 1945

Hermann Lohmann: Das Kriegsende in Sachsen 1945

Dieser Eintrag stammt von Hermann Lohmann (1925-2016) aus Deutsch Evern, Februar 2010.

Nach schweren Kämpfen in Ostpreußen und der Rettung über die Ostsee wurden wir geretteten Soldaten der Fsch. Pz. Gren. Div. 2 H.G. zwecks Neuaufstellung im Raum Dresden etwa am 17.4.1945 zunächst mit der Eisenbahn über Berlin nach Jüterbog gebracht. Ich kann mich daran erinnern, dass wir in Berlin im Stettiner Bahnhof ausgestiegen sind. Wir sind dann dort über die umher liegenden Trümmer, die von Bombenangriffen herrührten, durch irgendwelche Unterführungen gestolpert, um dann den Zug nach Jüterbog zu erreichen.

Von Jüterbog aus zogen wir per Anhalter und teilweise zu Fuß weiter in den Raum Dresden-Großenhain. Auf diesem Weg hielt uns der "Heldenklau" an und wollte uns in so genannte Alarmeinheiten zwecks Fronteinsatzes im Raum Berlin stecken. Heldenklau nannten wir Soldaten die Angehörigen der Feldgendarmerie, die die Aufgabe hatte, versprengte und zurückgehende Soldaten aufzugreifen und an die Front zu schicken. In Ostpreußen habe ich gesehen, dass eigene deutsche Soldaten, angeblich wegen Feigheit vor dem Feinde, öffentlich erhängt worden waren. Um den Hals trugen sie ein Schild mit der Aufschrift "Ich war ein Feigling". Darunter am Baum war oft die Parole "Sieg oder Sibirien" angebracht. Das war sehr makaber. Wenn eine militärische Einheit soweit demoralisiert ist, dass sie ihre eigenen Soldaten öffentlich erhängt, um die Truppe zu disziplinieren, ist das Ende einer solchen Armee absehbar.

Uns ließ man in Mitteldeutschland weiterziehen. Es war wohl bekannt, dass eine Neuaufstellung und Auffrischung der Fallschirmpanzergrenadierdivision 2 H.G. im Bezirk Dresden geplant war. Seit unserem Marsch durch Sachsen weiß ich auch, was eine "Bemme" ist. Unterwegs fragten uns Frauen: "Jungs, wollt Ihr 'ne Bemme ham?" Zunächst sahen wir uns fragend an, bis wir begriffen hatten, dass eine "Bemme" ein belegtes Butterbrot ist. Gerne haben wir hungrigen Soldaten die belegten Brote von der Bevölkerung genommen. Es war rührend, wie für uns gesorgt wurde. Damals war diese Hilfeleistung selbstverständlich. Jeder hatte irgendwelche Angehörigen, die irgendwo im Krieg waren.

Bis Ende April gelangten wir in den Raum von Wehlen an der Elbe in der Nähe des Elbsandsteingebirges. Dort wurden wir 2 Wochen vor Kriegsende völlig neu ausgerüstet. Wir haben uns gewundert, dass noch soviel Material vorhanden war. Für uns Soldaten gab es alles neu: Unterwäsche, neue feste Lederschuhe, fabrikneue feldgraue Uniform mit Luftwaffenadler und "Hermann Göring" Ärmelband sowie einen neuen Luftwaffenrucksack, Kochgeschirr, Gasmaske, Gasplane und Brotbeutel mit Feldflasche usw. An neuen Infanteriewaffen gab es für uns Artilleristen: Schnellfeuergewehre, Maschinenpistolen und Pistolen. Das Artillerieregiment wurde mit neuen leichten Feldhaubitzen (LFH 10,5 cm) und schweren Feldhaubitzen (SFH 15 cm) als Artilleriegeschütze ausgerüstet.

Ich wurde als Vorgeschobener Artilleriebeobachter (VB) eingeteilt. Der VB hat die Aufgabe vorne in der Nähe der HKL die Feuerbefehle für die Geschütze zu geben und das Feuer zu beobachten und zu lenken. Meine Kameraden des Wettertrupps und andere Angehörige der Beobachtungsbatterie habe ich damals aus den Augen verloren. Wir wurden völlig verschiedenen Truppenteilen des Artillerieregimentes zugeteilt. Ein Gegenstoß gegen die russische Front mit der neuen Ausrüstung brachte noch mal etwa 80 km Geländegewinn. Der Russe zog sich schnell zurück. Dieser Erfolg brachte Selbstvertrauen in die Truppe.

In dieser Zeit ging in der Wehrmacht folgende Parole, von den Soldaten auch "Latrinenparole" genannt um: "Die Amerikaner unter General Patton bleiben stehen. Sie waren ohnehin schon bis nach Bayern und Sachsen vorgerückt. Sie beliefern die deutsche Armee mit Waffen und dann geht es gemeinsam gegen den Iwan." Es war eine große Begeisterung unter den Soldaten. Auch der Russe war zu der Zeit materialmäßig fast am Ende und wir glaubten die Russen mit Hilfe der Amerikaner in 4 Wochen aus Deutschland vertreiben zu können.

Der Nationalsozialismus war nach dem Tod Hitlers am 1. Mai 1945 ohnehin in Auflösung begriffen und wir hofften, dass sich der Stalinismus in Russland dann ebenfalls auflösen würde. Leider wurde damals nichts daraus. Es wäre der Menschheit viel Leid erspart geblieben. Am 2. Mai 1945 kapitulierte Berlin. In den nächsten Tagen wurden wir zunächst zum "Weißen Hirsch", einem Ortsteil Dresdens nördlich der Elbe verlegt. Dann fuhren wir durch das im Februar 1945 total zerstörte Stadtgebiet Dresdens nach Pirna südlich der Elbe. Oberhalb der Stadt Pirna auf dem Sonnenstein, nahe des dortigen Kleingartengeländes, richteten wir unsere Artillerie-Beobachtungsgestelle ein. Als ich mich in diesen Tagen durch das Gelände bewegte und die russischen Schlachtflieger fliegen und schießen sah, dachte ich bei mir: "Der Krieg muss doch nun bald vorbei sein. Hoffentlich kriegst du jetzt nicht noch eine verpasst." Außer russischen Flugzeugen war am Himmel kaum ein deutsches Flugzeug zu sehen. Allerdings sahen wir dort die ersten deutschen Düsenjagdflugzeuge Me 262 noch im Einsatz. Dieses Jagdflugzeug raste so schnell durch den Himmel, dass es schon verschwunden war, bevor wir es bemerkten. Diese Flugzeuge kamen aber viel zu spät zum Einsatz. Es gab damals allerdings keine gleichwertigen Gegner für diese Jagdflugzeuge.

Etwa am 6. Mai 1945 wurde ich mit noch einem Kameraden in Pirna in die dem Kleingartengelände gegenüberliegenden Kasernen geschickt, um von dort ein Scherenfernrohr zu holen. Als wir mit dem Scherenfernrohr über die Straße zurück wollten, sahen wir bereits die russischen Infanteriespitzen beiderseitig unter den Bäumen an den Straßenrändern auf uns zukommen. Darauf zu schießen, wäre sinnlos gewesen. Es wurde Zeit, dass wir schnell über die Straße rannten, um im Kleingartengelände zu verschwinden. So gelangten wir noch gerade unbehelligt zu unserer VB-Stelle. Der Russe war dabei, Pirna zu besetzen. In der ganzen Stadt schrieen die drangsalierten Frauen. Dieses furchtbare Schreien und Wehklagen der Bevölkerung, besonders der Frauen, welches von unten aus dem Tal direkt in unheimlicher Lautstärke zu uns auf den Berg hinauf drang, höre ich heute noch. Ich werde dieses furchtbare Erlebnis nicht los, zumal wir nicht helfen konnten.

1991 war ich wieder an diesem Ort oberhalb der Kleingartenkolonie und tatsächlich war jetzt der Verkehrslärm aus der im Tal liegenden Stadt Pirna dort oben außerordentlich laut zu hören.


Am 7.5.1945 bekamen wir den Befehl, uns in Richtung Tschechien zurückzuziehen. Wir sollten uns bei Außig zum Amerikaner durchschlagen. Dieser Befehl kam vom kommandierenden General Schörner, bevor er sich mit einem "Fieseler Storch", einem Kleinflugzeug, absetzte und sich persönlich in Sicherheit brachte.

Am 8.5.1945 kam der Befehl zur Kapitulation, welche am 9.5.1945 um 0.01 Uhr in Kraft trat.

Dieser Befehl hat uns, unterwegs in der Tschechei, direkt überhaupt nicht erreicht. Aber es sprach sich unter den Soldaten herum, dass Deutschland kapituliert habe und damit der Krieg vorbei sei. Wir waren zwar froh, dass das Kämpfen und Sterben nun endlich vorbei war, aber frei und glücklich fühlten wir uns nicht. Wir wussten nicht, welches Schicksal uns erwarten würde. Wir glaubten auch nicht, dass der Russe uns nach der Kapitulation, wie es das internationale Kriegsrecht gemäß Haager Landkriegsordnung (LKO) vorschreibt, nach der Entwaffnung unbehelligt nach Hause gehen lassen würde. Auch die anderen Alliierten beachteten die Haager Landkriegsordnung nicht. Gemäß LKO hätten nach der Kapitulation, also nach Kriegsende, keine Kriegsgefangenen mehr gemacht werden dürfen, sondern die Kriegsgegner hätten die deutschen Soldaten nach Entwaffnung ungehindert nach Hause gehen lassen müssen.

In der Tschechei kamen wir nicht weit. Den Russen bei Außig zu entkommen, war unmöglich. Als Berlin am 2. Mai 1945 kapituliert hatte, wurden russische Truppen frei, von denen wir dann sehr schnell eingeschlossen wurden. Es gab also kein entrinnen. Wir marschierten mit ca. 70 Mann innerhalb des Kessels bei Zinnwald über die Grenze zurück nach Deutschland. Wir waren infanteristisch noch voll bewaffnet und wurden deshalb von der tschechischen Bevölkerung, die an den Straßen stand, nicht angegriffen.

Im Osterzgebirge zogen wir uns in die Bergwälder zurück, um erst mal vor dem Zugriff der russischen Truppen in Sicherheit zu sein und unsere Lage in Ruhe klären zu können. Wir zogen in den Bergwäldern westwärts bis wir an ein Bergdorf kamen. Dort sahen wir, dass Frauen dabei waren, Bettlaken zu zerreißen, um weiße Armbinden für die Soldaten daraus zu machen. Wir sahen auch, dass am Ende des bergab führenden Weges ein russischer Soldat stand. Er ließ alle deutschen Soldaten, die eine weiße Armbinde hatten, nach kurzer Kontrolle unbehelligt weitergehen. Daraufhin fassten die meisten von uns und so auch ich den Mut, zu dem russischen Kommissar hinunterzugehen. Ich baute meine Maschinenpistole auseinander und warf die Einzelteile in verschiedene Richtungen in die Büsche. Von den Frauen erhielt ich auch eine weiße Armbinde und ging mit gemischten Gefühlen hinunter zu dem Russen. Der fragte in bestem Deutsch: "Du noch Waffen, Munition?" Ich sagte "nein". "Dann alle nach Hause nach Mutter".

Das Hinübergehen zu den Russen ging ja reibungsloser, als ich dachte. So zogen wir deutschen Soldaten dann entgegengesetzt zu den russischen Truppen auf derselben Straße. Die Russen zogen nach Süden Richtung Tschechoslowakei und wir gen Westen. Es gab verhältnismäßig wenig Übergriffe durch die Russen. Ich musste nur einmal irgendein Kraftfahrzeug mit anschieben helfen, worüber ich mich irgendwie doch innerlich erregte. Aber was sollte irgendeine Gegenreaktion. Wir mussten uns in unserer Lage eben fügen.

Sobald wir konnten, verließen wir die Hauptstraße und zogen auf Nebenstraßen durch die Berge. Unterwegs hatten wir immer wieder in den Straßengräben viele Tote liegen sehen. Es waren vielfach erschossene Angehörige von Polizeieinheiten, was an der hellgrünen Uniform zu erkennen war. Warum die Russen sie erschossen hatten, habe ich nicht erfahren können. Ich hatte sicherheitshalber mein Ärmelband mit der Aufschrift "Hermann Göring" abgetrennt und weggeworfen, um nicht sofort als Angehöriger dieser Eliteeinheit erkannt zu werden. Auch habe ich dann den Luftwaffenadler aus der feldgrauen Uniform herausgetrennt, denn es gab in der deutschen Wehrmacht nur eine Einheit, die feldgraue Uniform mit Luftwaffenadler trug, nämlich unser Fallschirmpanzerkorps H.G. Bei uns ging immer das Gerücht, dass bei den Russen ein Kopfgeld auf Angehörige des Fallschirmpanzerkorps H.G. ausgesetzt sei. Dies sei der Fall, seitdem die russische Eliteeinheit "Die Stalinschüler", die grundsätzlich keine Gefangenen machten, sondern alle Gegner vernichteten, von unseren Panzergrenadieren auch dementsprechend bekämpft und bei Warschau total aufgerieben wurde.

Aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte Kameraden haben berichtet, dass alle Angehörigen des Fallschirmpanzerkorps sofort ohne Verhandlung zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurden. Auch mein Soldbuch und meine Erkennungsmarke habe ich damals weggeworfen, um in Gefangenschaft nicht als H.G.-Mann erkannt oder sofort erschossen zu werden. Im Falle meines Todes bei Kriegsende wäre auch ich genauso wie mein Bruder vermisst gewesen, weil ich nicht mehr zu identifizieren gewesen wäre.

Unterwegs im Erzgebirge sind mir öfter Soldaten begegnet, denen die Russen die guten Lederschuhe ausgezogen hatten und die sich nun mit den russischen Schuhen herumquälten oder auf Socken herumliefen, weil die Schuhe nicht passten. Meine neuen Schuhe haben die Russen auch wiederholt angeschaut. Aber meine Schuhe (Größe 47) waren ihnen wohl zu groß und so behielt ich meine Schuhe.

An der Ausrüstung der nach Süden ziehenden russischen Truppen konnte man erkennen, dass auch sie am Ende waren. Es waren wenig Motorfahrzeuge zu sehen. Vorwiegend zogen Pferdefuhrwerke, vor allem Panjewagen, mit vielen wohl erbeuteten Pferden und Massen von Soldaten aller russischen und asiatischen Rassen in erdbraunen Uniformen die Straßen entlang.

Am Ende dieses Tages gegen Abend verfolgten uns plötzlich russische Soldaten und riefen uns etwas zu. Wir begriffen nicht, was wir sollten, denn es war uns doch gesagt worden, wir könnten alle "nach Hause nach Mutter" gehen. Es wurde aber ernst. Die Russen schlugen uns mit Gewehrkolben ins Kreuz und riefen dabei: "Dawai, dawai". Sie trieben uns auf eine große Wiese, wo schon sehr viele Menschen lagerten. Im ersten Moment dachte ich noch, es seien alles befreite Gefangene. Nein, dann erkannte ich, dass es wohl an die tausend oder noch mehr deutsche Soldaten waren, die zusammengetrieben worden waren und dort auf der Erde saßen. Wir waren in russischer Kriegsgefangenschaft!

lo