> Jutta Schneider: Bomben auf Bremen

Jutta Schneider: Bomben auf Bremen

Dieser Eintrag von Jutta Schneider (*1927) aus Reisbach (wolf.jutta@gmx.de) von März 2011 stammt aus dem: Biografie-Wettbewerb Was für ein Leben!

/lemo/bestand/objekt/schneider_05 Als Führerin in der Kinderlandverschickung war ich in Bayern. Als ich im Herbst 1944 nach Hause fahren durfte und der Zug nach 12 Stunden Fahrt im Bremer Bahnhof einlief, heulten gerade die Sirenen. Es war Vollalarm. Ich ging so schnell wie ich konnte mit meinem schweren Koffer und der großen Tasche zu "unserem" Bunker, der ungefähr 300 Meter vom Bahnhof entfernt war. Dort hoffte ich, meine Familie zu treffen. Die Straßen waren leer, und am Himmel brummten die Flugzeuge.

Ich hörte die ersten Bombeneinschläge und nahm all meine Kraft zusammen, um das große Gebäude zu erreichen, in welchem die Schutzräume waren. Als ich es geschafft hatte, waren die Türen verschlossen, es war alles überfüllt. Am Tag waren nicht nur die Leute aus den umliegenden Häusern dort, sondern auch die Büroangestellten, die dort arbeiteten. Ich schaffte es, ins Gebäude zu kommen, aber eine Lattentür, mit einem Schloss und zusätzlicher Bewachung durch Luftschutzwarte, trennte mich von den anderen Schutzsuchenden.

/lemo/bestand/objekt/schneider_10 Irgendjemand, der mich kannte, hatte mich durch die Lattenschlitze gesehen und da ging es wie ein Lauffeuer bis zu der Mutter und den Großeltern, dass ich da war. Die Großmutter stand auf einmal drüben hinter der Tür und verhandelte energisch mit dem Mann, der den Schlüssel in der Hand hielt. Sie setzte ihren ganzen Charme ein und duldete keine Widerworte. Ja, das war typisch die Oma. Endlich schloss er auf und ich durfte hindurch schlüpfen. Obwohl ich glücklich war, wieder bei meiner Familie zu sein, weinte ich noch, als der Fliegeralarm längst vorbei und wir zu Hause waren.

Kurz danach passierte etwas, was ich mein Leben lang nicht vergessen konnte. Nicht einmal in meinen Träumen. Es war eine Nacht wie alle anderen. Fliegeralarm - Entwarnung, wieder Fliegeralarm. Jeder wünschte sich, dass das eigene Viertel verschont bleibt. Gerade waren wir wieder daheim und hofften endlich schlafen zu können, als abermals die Sirenen heulten. Die Angriffe beim zweiten Alarm waren oft schlimmer als beim ersten. Wenn die Flugzeuge abgedreht hatten, wurde Entwarnung gegeben, aber oft flogen sie wieder zurück und schmissen dann ihre Bomben ab. Es ging so schnell, dass man sich noch mehr beeilen musste, um in Sicherheit zu kommen.

Meine Mutter schleppte jede Nacht neben den notwendigsten Dingen wie: Familienpapiere, Waschzeug, für jeden ein Essbesteck, Schmuck und einmal Wäsche zum wechseln und einen Anzug für den Vater mit. "Er soll, nach der Soldatenzeit, wenigstens was zum Anziehen haben", meinte sie. Auch in dieser Nacht, als wir alles verloren, hatte die Mutter das übliche Gepäck dabei. Nur wenig Zeit im Bunker verstrich, als es wie ein Lauffeuer durch die Schutzräume ging: "unser Viertel ist dran".

/lemo/bestand/objekt/schneider_11 Die Menschen, die dicht beieinander gedrängt saßen, hatten es schon bemerkt, denn die Einschläge der Bomben waren in unmittelbarer Nähe. Man hörte und spürte es. Immer wieder wurden Einzelheiten durchgegeben. Manche Leute wollten raus, um ihre brennenden Häuser zu löschen, aber das Inferno draußen war viel zu groß. Als es ruhiger wurde, beschlossen ein paar beherzte Leute nachzugucken, ob vielleicht noch etwas zu retten sei. Der Krämer aus unserer Straße, der einige Häuser weiter wohnte, schloss sich ihnen an. Da fasste ich mir ein Herz und ging mit. Die Hitze der brennenden Häuser war so stark, dass wir nicht durch die Straßen gehen konnten. So kehrten wir um und holten Wolldecken, die wir im Stadtgraben, der neben unserem Bunker war, nass machten. Mit der Decke um die Schultern liefen wir durch die Feuerwände. Meine Augenbrauen und die vorderen Haare über der Stirn waren nicht genug geschützt und versengten, aber das bemerkte ich gar nicht.

Das erste Haus in der Straße war unser zu Hause - und das stand in hellen Flammen. Das oberste Stockwerk war bereits auf das darunter liegende eingestürzt. Innen, an der linken Außenmauer, hing nur noch die Badewanne. Glühende Balken lagen kreuz und quer. Wände fielen in sich zusammen. Aus dem Hochparterrre schlugen Flammen, darunter die Souterrainfenster waren zersprungen. Hinter einem davon befand sich der Keller unserer Familie. Ich handelte nun instinktiv. Da war keine Angst, nur das Bedürfnis, noch etwas zu retten.

Ich sprang in den Keller runter und sah dort Schulbücherpakete stehen sowie einen Schlitten und meine Geige. Meine ganze Kraft brauchte ich, um alles aus dem Fenster zu stemmen. Schwieriger war es, selber heraus zu steigen. Als erstes brachte ich den Schlitten und zwei Pakete über die Straße. Dort war kein Haus, das brennen konnte, nur eine hohe Mauer. Die einzige Stelle also, wo nichts einstürzen konnte. Dann lief ich zurück, holte die Geige und das dritte Paket. Sofort beschloss ich, es noch einmal zu probieren und sprang wieder in den Keller. Kaum war ich unten, fiel ein brennender Balken vor das Fenster. Erst da bemerkte ich, dass nur noch altes Kellergerümpel wie Kohleneimer und Schaufeln dort waren. Zweimal fiel ich in den Keller zurück, als ich aus dem Fenster steigen wollte. Die Hitze wurde immer stärker. Die zuvor nasse Decke war längst trocken und wurde vom brennenden Balken verschlungen.

Als ich wieder auf der anderen Straßenseite in Sicherheit war, zog gerade ein Mann mit meinem Schlitten und den Schätzen davon. Ich schrie: "Das gehört mir". Der Mann brüllte: "Nimm Deine Pfoten von meinen Sachen." Da krallte ich mich an ihn fest und schrie immer weiter. Welch ein Glück, dass der Krämer kam. Er hatte nichts mehr retten können und war auf dem Weg zurück zum Bunker, wo seine Familie auf ihn wartete. Er packte den Mann und da sah ich erst, dass es der Tabakladenbesitzer von der Ecke war. Der Krämer sagte: "Schämen Sie sich, wie kann man ein kleines Mädchen bestehlen, das gerade alles verloren hat". Dann haute er ihm noch eine runter und ich zog mit meinem Schlitten zum Bunker.

Ich konnte nicht glauben, was gerade passiert war, und wünschte mir sehnlichst, aus diesem Traum zu erwachen. Die Mutti weinte, als sie mich sah, und nahm mich in den Arm. Und dann saßen wir ganz ratlos mit den geretteten, unwichtigen Sachen da und wussten nicht, wohin wir gehen sollten.

Am nächsten Morgen guckten wir zusammen das abgebrannte Haus an. Das Innere des Klaviers lag auf einem Schuttberg. Die Badewanne hing immer noch an der Mauer ganz oben. Wir schauten in das kleine vergitterte Fenster unseres Vorratskellers, der nicht zusammen gefallen war. Wir sahen, wie der Inhalt der Einmachgläser kochte. Nichts konnte mehr gerettet werden. Die ganze Straße roch verbrannt. Besonders schlimm war es, dass auch die Großeltern obdachlos geworden waren. Mit 69 und 71 Jahren mussten sie noch einmal neu anfangen. Ihr Lebenswerk war vernichtet. Großvaters Bilder, sein Atelier, all die Dinge, die sie erarbeitet hatten, an denen ihr Herz hing, waren nicht mehr da.

Im August 1944 hatte der Feind einen großen Teil der Altstadt zerstört. Meine Familie einschließlich der Großeltern wohnten am Rande davon. Jetzt, am 5. auf den 6. Oktober, erledigten die Bomber den Rest. Erst nach und nach wurde mir bewusst, was uns in dieser Nacht genommen worden war. Ein Stück Heimat, das Zuhause.

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