> Kurt Elfering: Im russischen Kriegsgefangenenlager in Tilsit 1945

Kurt Elfering: Im russischen Kriegsgefangenenlager in Tilsit 1945

Dieser Eintrag stammt von Kurt Elfering (1922-2014) aus Schwerte, Juli 2010:

Am 17. März 1945 geriet ich nach der Schlacht im Heiligenbeiler Kessel mit meiner Einheit in der Nähe von Bladiau in Ostpreußen in russische Kriegsgefangenschaft. Nach der ersten Vernehmung ging es dann über Lank nach Stablak zur ersten Auffangstelle. Hier hatten wir zum erstenmal wieder feste Behausung um uns. Es waren noch Baracken eines Übungsgeländes der Wehrmacht. Zu unserer Überraschung verteilten die Russen Scheren unter uns, mit der Vorgabe, uns gegenseitig Glatzen zu schneiden. Da wir ja mittlerweile Gefangene waren, blieb uns auch wohl nichts anderes übrig. Als wir damit fertig waren, erkannten wir uns gegenseitig fast nicht mehr wieder. - Plötzlich war es Frühling geworden, und wir genossen die Sonne vor den Baracken. Nach einigen Tagen ging es dann weiter nach Domnau.

Eigenartigerweise ließ uns der Russe ziemlich in Ruhe, und wir konnten herumrennen, wie wir wollten. Untergebracht waren wir im Dachgiebel des Nebengebäudes eines Gutes. Vor dem Gebäude stand die russische Feldküche, die uns mit den Suppen versorgte. Zwischen der Feldküche und dem Waldrand war ein kleiner Teich oder auch Weiher mit lehmigem Wasser. Da wir schon Dauerhunger hatten, besorgten wir uns am Waldrand Brennnesseln, um uns davon eine gute Spinatsuppe zu kochen. Für die Suppen war der Teich unser Wasserspender. Die Russen störten uns dabei nicht. Eines Morgens allerdings stellten wir fest, dass unser Teich aus irgendeinem Grunde leergelaufen war. Was wir nun sahen, war eine Katastrophe, denn am Rande des Teiches waren verendete Rinder zu sehen. Nun hatten wir ja schon einige Tage unsere Teichsuppen gegessen und lebten noch. Trotz des Hungers war uns aber für einige Tage der Appetit vergangen. Ich wundere mich noch heute, dass diese Esserei ohne Folgen geblieben war.

Als sich das Lager aufgefüllt hatte, zogen wir in drei Tagesmärschen nach Tilsit-Ragnit (pro Tag etwa 40 km). Hier war ein Riesensammellager, wo wir erst einmal in großen Kornhäusern untergebracht wurden, und zwar in mehreren Etagen und in drei Pritschen übereinander. Hier trafen wir auch mit den Landsern aus Kurland zusammen. Diese Landser aus dem Kurlandkessel hatten sich kampflos in Gefangenschaft begeben und hatten dadurch besondere Privilegien. Sie wurden zwar entwaffnet, aber nicht gefilzt. Wir konnten also wieder einige deutsche Zigaretten genießen, das war aber auch schon alles. Das Lager füllte sich zusehends, und wir lebten nur von Mahlzeit zu Mahlzeit. Plötzlich erschien ein russischer Offizier, ein Leutnant, und fragte nach Facharbeitern wie Klempner oder Blechspezialisten. Da ich Blechschlosser war, fühlte ich mich auch angesprochen und meldete mich. Dieser Leutnant war jüdisch und hieß mit Nachnamen Rudolf.

Er zog mit uns durch die Hauptwache in den Innenhof des Gutes. Wir waren jetzt das Kommando Rudolf und ca. 25 Mann stark. Am Rande des Innenhofes war an einer Seite der handwerkliche Bereich angesiedelt: Stellmacherei, Schreinerei, Schmiede und Schlosserei. Er nahm mit uns Schmiede und Schlosserei in Beschlag. Er sprach gut deutsch und erklärte uns, das dies hier jetzt seine Eimerfabrik sei. Nun ging die Sache folgendermaßen vor sich: Eine Gruppe mit zwei russischen Wachsoldaten zog über Land, deckte von allen Feldscheunen und Ställen die Wellbleche ab und brachte sie in den Gutshof. Diese Tafeln waren recht groß, und die Landser mussten aufpassen, dass sie nicht von einem Windstoß mit ihren Blechen weggeweht wurden.

Auf dem Hof war eine andere Gruppe damit beschäftigt, die Wellbleche zu entwellen. Mit dicken Hämmern war das eine arge Klopferei. Es sah aus wie im alten Ägypten beim Bau der Pyramiden. Unter russischer Leitung ist auch das möglich, was sonst unmöglich ist. Die fertig gerichteten Bleche kamen in unsere Werkstatt, und die Eimerfabrikation begann. Zunächst wurden von den Eimerabwickelungen Schablonen gemacht. Es ging alles nach dem Fließbandverfahren: Gruppe "A" schnitt alle Bleche, die für die Eimer gebraucht wurden. Gruppe "B" falzte und bördelte den Mantel zusammen. Gruppe "C" bördelte die Böden ein. Die letzte Gruppe kümmerte sich um den Draht, der oben eingerollt wurde und nietete die bereitliegenden Henkel an. So sind ca. 25 Eimer am Tage fertig geworden.

Das Schönste an dieser ganzen Geschichte war, dass dieses alles ohne Bewachung vor sich ging. Dadurch waren wir in der Lage, uns "Produkte" zu besorgen. Zwei Mann zogen los, um Brennnesseln zu pflücken. Andere zogen los zur Kartoffelmiete, die hinter den Stallungen war, um diese Produkte zu holen. In einer Scheune fanden wir auch noch Erbsen mit Schoten zwischen dem Getreide. Bis zum Mittag hatten wir alle Produkte beieinander, um uns auf dem Schmiedefeuer ein gutes Mittagessen zu kochen.

Allerdings haben wir auch bittere Stunden erlebt. Ca. 50 Meter von uns entfernt war der Lagerzaun auf einer Anhöhe. Hier sahen wir fast jeden Morgen, wie die Toten des Lagers auf Leiterwagen abgefahren wurden. Das Lager war mittlerweile auf ca. 30 000 Gefangene angewachsen, und von hier gingen auch die Transporte in die Sowjetunion. Jeden Abend um 5 Uhr zogen wir mit Leutnant Rudolf ins Lager zu unseren Unterkünften. Mit unserem Rudolf klappte alles wunderbar, und wir hatten ein recht freies Leben. Die Eimerfabrik hatte sich bestens eingespielt. Er war sehr deutschfreundlich und hat uns nicht ein einziges Mal schikaniert.

Es nahte der 1. Mai. Alles, auch das Lager, hatte sich auf diesen Tag vorbereitet. Am Tage vor dem Feiertag fragte uns Rudolf, ob wir im Lager bleiben wollten und dort feiern, oder ob wir lieber hier in der Werkstatt arbeiten wollten. Er erklärte uns, wir bräuchten nicht zu arbeiten, sondern könnten hier feiern. Wir waren ganz verblüfft. Wir mussten nur eine Verpflichtung eingehen und uns während der Maiveranstaltung, die am Vormittag auf dem Hof des Gutes stattfände, nicht blicken lassen. Mit einem Wort: Wir sollten keineswegs auffallen.

Als wir zugesagt hatten, durften wir noch "Produkte" sammeln, damit es eine gute Maisuppe würde. Er würde uns auch Machorka mitbringen, damit wir rauchen könnten. Am nächsten Morgen holte er uns in aller Frühe ab und brachte uns zur Werkstatt. Unser Machorka lag auch schon bereit, er musste nur noch geschnitten werden. Jetzt mussten wir, bis die Maiveranstaltung der Lagerverwaltung beendet war, ganz artig sein. Der Paradeplatz war etwa 30-40 m von unserer Werkstatt entfernt. Da die Fenster teilweise gekalkt waren, konnten uns die Russen auch nicht sehen. Wir konnten aber alles beobachten. Die Ehrenkompanie sowie die Offiziere erschienen, und es erfolgte ein Ritus, wie er auch am Roten Platz in Moskau stattfindet, nur eben ganz, ganz klein. Nachdem alles vorbei war, und die Russen abgezogen waren, erschien unser Rudolf und blieb den ganzen Tag bis zum Feierabend bei uns. Jetzt durften wir auch das Schmiedefeuer anzünden und unsere Suppe kochen. Der Machorka wurde an der Blechschere geschnitten und geraucht. Die Prawda für das Zigarettenpapier hatte er auch mitgebracht. Um fünf Uhr brachte uns Rudolf wie üblich wieder zum Lager zurück. Es war eine unvergessliche Maifeier.

Einen oder zwei Tage später große Aufregung: Rudolf kam und berichtete uns, dass Hitler "kaputt" sei. Hitler ist tot! Es hieß, er habe sich umgebracht. An den Heldentod glaubte sowieso keiner. Auf alle Fälle wäre das Kriegsende jetzt sehr nahe. Rudolf hatte recht. Acht Tage später wieder große Aufregung: Deutschland habe gestern kapituliert, und es sei jetzt Waffenstillstand. Rudolf gab die Arbeit vorzeitig auf und zog mit uns vor die Kommandantur. Wir sollten dreimal "Hurrah!" schreien und dabei unsere Mützen hochwerfen, was wir auch taten. Dann marschierte er mit uns an der Küche vorbei, und wir erhielten einen Pott voll Suppe.

Am nächsten Tag ging alles wieder seinen normalen Gang. Wir "eimerten" noch einige Zeit weiter und fühlten uns dabei ganz wohl. Eines Tages war Rudolf auf dem Heimweg zum Lager sehr niedergeschlagen. Von seiner Außentruppe waren zwei Gefangene geflohen und nicht auffindbar. Er verabschiedete sich von uns, und das Kommando Rudolf war aufgelöst. Es dauerte auch nur noch einige Tage, und wir traten die Reise nach Rußland an. Möge es den Leutnant Rudolf nicht zu hart getroffen haben. Er war für uns ein Vaterersatz in der ersten Epoche der Gefangenschaft.

lo