> Ursula Sabel: Reichsarbeits- und Kriegshilfdienst

Ursula Sabel: Reichsarbeits- und Kriegshilfdienst

Dieser Eintrag stammt von Ursula Sabel (1924-2018) aus Kenn bei Trier, 25.04.2000:

In den letzten Monaten unserer Schulzeit ging die Rede um, daß wir bald zum Arbeitsdienst mußten. Meine Kameradinnen erhielten denn auch schon ihre 'Einberufung' zur ärztlichen Untersuchung. Da ich jünger war als die anderen, wäre ich noch nicht 'gezogen' worden, aber um keine Zeit zu verlieren, meldete ich mich als 'vorzeitig Dienende'. Das klappte auch, und so erhielt ich ein paar Wochen vor unserem Abitur den 'Stellungsbefehl'. Mir blieben nach dem Ende der Schulzeit nur ein paar Tage, in denen ich zu Hause alles richten konnte, dann fuhr ich mit zweien meiner Klassenkameradinnen per Zug in den Westerwald nach Hergenroth bei Westerburg.

Am Rande des Dorfes fanden wir dann unser 'Lager': ein zweistöckiger Steinbau und dazu zwei Baracken. Eine gepflegte Anlage umgab das Ganze, und in der Mitte befand sich der Fahnenplatz. Bei unserem Eintreffen (am 1. April 1942) wurde uns gemeinsam der Schlafsaal in einer der Baracken zugewiesen, mein Bett war das untere eines Etagenbettes direkt am Fenster. (So etwas am Rande zu sein gefiel mir gut). Zu zwölf oder vierzehn 'Maiden' teilten wir uns mit einer jungen Führerin den Schlafsaal für die nächsten sieben Monate. Ich fand alles den Verhältnissen entsprechend ganz gut. Auf der 'Kleiderkammer', wurden wir dann mit allen reichseigenen Kleidern versorgt, ich hatte großes Glück, meine Sachen waren tadellos in Ordnung, sie paßten mir, und ich brauchte im Laufe der Zeit kaum etwas zu reparieren oder zu stopfen. Manche Maiden hatten ständig Verschlissenes auszubessern.

Unsere Garderobe bestand aus: 2 blauen Baumwollkleidern mit kurzem Arm, 2 weißen Schürzen mit Latz (inzwischen grau geworden), 2 roten Kopftüchern, 2 Paar Stiefeln, 2 Paar dicken Socken, 1 Paar Halbschuhen, 1 braunen Kleiderrock, 2 weißen Blusen, 1 Jackenkleid (Kostüm), 1 Hut und dazu auch noch reichseigene Unterwäsche.

Unsere Belegschaft bestand schließlich aus etwa 45 Maiden, einer netten Lagerleiterin (Führerin) und zwei Wirtschaftsführerinnen. Zu den Räumlichkeiten gehörten etwa 5 Schlafsäle, mehrere Führerinnenzimmer, 1 Tages- und Eßraum, ein Empfangszimmer, dann die notwendigen Nebenräume wie Küche, Wasch- und Bügelraum usw. In den ersten 6 Wochen gab es umfangreiche Unterweisungen über alle möglichen Themen: Sinn- und Bedeutung des RAD [Reichsarbeitsdienst], Verhalten im Lager und im Außendienst, Plichten der Bauersfamilien uns gegenüber, die landwirschaftlichen Besonderheiten im Westerwald, und nicht zuletzt Anweisungen für alle Tage.

Die sechs Wochen Ausgangs- und Urlaubssperre vergingen wie im Fluge, dann fing der Außendienst an; jeweils 6 Wochen in einer bestimmten Familie. Auch hier traf ich es gut, ich bekam eine Stelle im eigenen Dorf: die junge Familie mit drei Kindern und ihrer Oma hatten außer der Landwirtschaft auch noch eine kleine Schankwirtschaft zu versorgen. (In letztere durfte keine Maid beschäftigt werden). Bei diesen Leuten habe ich mich sehr wohl gefühlt und es machte mir Spaß, viel draußen sein zu können. Ich half fast die ganzen sechs Wochen bei der Heuernte, was damals noch sehr mühsam war, ich mußte mich tüchtig plagen, um im Rhythmus beim Wenden des Grases mithalten zu können; eine ganz ungewohnte körperliche Anstrengung. Aber unsere Zeit am Tage war doch sehr begrenzt: morgens erschienen wir meistens erst nach 10.00 Uhr, und abends mußten wir schon um 18.00 Uhr wieder im Lager sein. Weil wir auch bei kleineren Hausarbeiten halfen, verging die Zeit schnell; ich habe sogar gelernt die Kühe zu melken.

Meine zweite Stelle befand sich in Gershasen, das war nur mit dem Fahrrad zu erreichen, natürlich ging die Zeit von unserem Arbeiten ab. Zu vier Maiden fuhren wir morgens dorthin. Mit meinen Bauersleuten mußte ich meistens aufs Feld, sie warteten oft schon auf uns, denn sie waren auf uns angewiesen, die Männer waren im Krieg. So konnten wir sinnvoll helfen.

Mein nächster Auftrag hieß: "6 Wochen Innendienst", das bedeutete wochenweise verschiedene Arbeiten im Lager zu verrichten. Am beliebtesten war der Blumendienst, man streifte 'dienstlich' durch Feld und Wald und suchte Blumen für die Vasen. Hausarbeit oder Dienst in Küche oder gar Waschküche machte keiner gerne. Nachdem ich mich in mein Schicksal gefügt und die Arbeit im Hause begonnen hatte, verunglückte eine Kameradin mit dem Fahrrad so schwer, daß sie nicht mehr für den Außendienst eingesetzt werden konnte, erst recht nicht mit dem Rad. Da 'durfte' ich einspringen und fuhr wieder - allerdings zu einer anderen Familie - nach Gershasen. Inzwischen war es Sommer geworden.

In der nächsten Familie in Westerburg, sie hatte außer Landwirtschaft eine Müllerei und Bäckerei, half ich im Haus, im Laden durfte ich nicht bedienen, so lauteten unsere Bestimmungen, und half auf dem Feld bei der Getreideernte. Auch hier waren die Leute sehr nett zu mir, und die Arbeit war gut zu bewältigen. Diese Stelle befand sich in der Kreisstadt Westerburg, und ich habe später, als ich schon lange verheiratet war, diese und auch andere Familien noch einmal besucht. Das Wohnhaus, die Mühle und der Laden sahen ganz anders aus, als ich es in Erinnerung hatte. Als ich eintrat, sah ich fremde Gesichter. Von dem Hausherrn erfuhr ich dann die schreckliche Geschichte: Als er im Krieg an der Front weilte, ging über der kleinen Stadt ein Bombenangriff nieder. Seine Frau wie auch Tochter und Sohn kamen in den Trümmern seines Hauses ums Leben. Als er Heimaturlaub bekam, fand er diese schreckliche Trümmerwüste und erfuhr von Nachbarn vom Tode seiner Familie. So stand er vor dem Nichts. Zum Glück, wenn man so sagen darf, fand er unter den fleißigen Helfern eine junge Frau, die er dann später heiratete, und mit der er Familie und Betrieb neu aufbauen konnte.

Es war für mich ein trauriges Wiedersehen, aber alle im Haus waren sehr sympathisch und freundlich und haben mir zum Abschied nach dem gemeinsamen Kaffeetrinken noch reichlich Kuchen mit auf den Weg gegeben. Später, als ich für meine Rentenberechnung den Nachweis der Arbeitsdienstzeit brauchte, bekam ich sie von diesem Bäcker.

Nun zurück ins Lager: Unsere Lagerführerin sorgte gut für uns, alles lief regelrecht, obwohl sich manche Maiden beschwerten, fand ich, daß man es gut aushalten konnte. Auch die politische Schulung am Morgen war immer äußerst sachlich, irgendwelche Beleidigung oder unpassende Beschimpfung von Kriegsgegnern unterblieben vollkommen. Jeder Andersdenkende wurde stillschweigend respektiert. Das habe ich ihr immer im Stillen hoch angerechnet.

Im Rundfunk war man ganz andere Töne gewöhnt. Besonders beachtlich fand ich ihre Stellung zu unseren Kameradinnen aus dem besetzten Luxemburg und Lothringen. Sie hatten wohl passiven Widerstand gelobt. Wir Maiden merkten im Umgang mit ihnen nichts Besonderes. Um so erstaunter war ich eines Tages, als eine von ihnen an der aufgehängten Landkarte eine Stadt im Frontgebiet zeigen sollte. Sie stand mit dem Stock vor der Karte und reagierte überhaupt nicht. Sie 'fand' auch nicht die deutsche Grenze oder was auch immer gefragt wurde; nicht einmal Wasser und Land wußte sie zu unterscheiden. Das ganze hat furchtbar lange gedauert, und jeder fürchtete eine schreckliche Reaktion unserer Führerin. Aber es hieß nur zum Schluß: "setz' dich hin!" Das war alles! Nur gut, daß keine höhere Vorgesetzte dabei war, sonst wäre sie ihren Posten los gewesen.

Damals wurden die Verfügungen immer strenger, auch mit unserer Erlaubnis, am Sonntagmorgen Ausgang zu bekommen, für den Kirchgang, wurde es uns nachher schwer gemacht: wir durften nur gehen, wenn wir gemeinsam am Samstag nachmittag im Führerinnenzimmer erschienen, um Erlaubnis zu erbitten. Was an unserer Führerin lag, hat sie uns alles gerne erlaubt. Mir gewährte sie ein extra Entgegenkommen: ich durfte als Einzige in meiner Freizeit im Gäste-Empfangszimmer Geige üben. Ich wußte diese Freundlichkeit sehr zu schätzen. Es hat mir nachher leid getan, daß ich ihr meine Zuneigung nicht zeigen oder sagen konnte, sie hätte ein gutes Wort brauchen können. Auch ihre Sprüche, die sie an der Fahne zu Beginn des Tages ausgesucht hatte, waren oft sehr feinsinnig und allgemeingültig, immer frei von jeglichem Haß oder Propaganda.

Meine Arbeitsdienstzeit habe ich auch noch aus einem anderen Grunde in guter Erinnerung: wir haben sehr oft und wirklich schön gesungen. Fast immer leitete unsere Lagerführerin die mehrmals wöchentlich stattfindende Singestunde. Sie verfügte über einen großen Liederschatz, auch solche Lieder übte sie geschickt mit uns ein, die nicht in dem Arbeitsmaiden-Liederbuch standen. Sogar mehrstimmig gelang es uns unter ihrer Leitung zu singen. Ich freute mich immer auf diese Stunde. Sicher brachte sie von zuhause allerlei Talent mit, denn sie stammte aus einem Lehrerhaus (mit zehn Kindern). Am besten gefiel mir der mehrstimmige Satz: "Mit Lieb' bin ich umfangen", den wollte ich mir dann auch morgens zum Kaffe an meinem Geburtstag wünschen. Aber leider kam dann eine der Wirschaftsführerinnen, die hätte den vierstimmigen Satz nicht leiten können. - Schade! So wünschte ich mir irgend ein einfaches bekanntes Lied.

Am Abend unseres Geburtstages durften wir im Speisesaal feiern. Man bekam zu diesem Zweck von daheim einen Kuchen geschickt, aus der Küche gab es etwas zu trinken (vielleicht Sprudel oder Limonade) und man verkleidete sich mit den reichseigenen Sachen, die sich im Lager fanden, macht Gesellschaftsspiele oder tanzte sogar. Bei mir hatten sich meine Kameradinnen verabredet, sie verkleideten sich als 'kleine Mädchen', da war die Stimmung wider erwarten besser, als wenn sie 'Damen' sein wollten.

In unserem Lager waren wir etwa zu zwölf Abiturientinnen, mit diesen ergab sich öfter ein gutes, persönliches Gespräch, u.a. auch über Literatur und - heute würde man sagen über Fragen der Persönlichkeitsfindung. Wir nahmen auch zum Essen oft ein keines Buch mit, denn unsere Führerinnen ließen uns oft lange hinter unserem Stuhl stehen, um auf sie zu warten, bis man beginnen durfte. Es gab zu dieser Zeit sogenannte 'Feldpostausgaben', die waren für die Soldaten gedacht, sie eigneten sich auch für uns, denn es war mancher Dichter und Philosoph darin enthalten. Wenn die Führerin erschien, ließen wir sie schnell auf unseren Stuhl fallen und setzten uns darauf. So erregten wir keinen Anstoß. Genau so wertvoll waren für uns die Heftchen 'Münchener Lesebogen', ich glaube, so hießen sie (alles in Kleinstformat, etwa DIN A6). Und es gab sogenannte 'Reclam-Hefte'.

Währen der RAD-Zeit wurden wir auch angehalten, nach Hause zu schreiben; es wurde eine extra Schreibstunde eingesetzt. So stand man in regelmäßiger Verbindung mit den Eltern. Mein Vater machte mir zu dieser Zeit den Vorschlag, ich solle doch mal Tagebuch führen. Ich machte dann auch den Versuch, wußte aber doch nicht so recht, wie mein Geschriebenes wirken könne, denn eigentlich gab es ja fast jeden Tag den gleichen Rhythmus, das reine Programm schien mir langweilig. Erst heute aus jetziger Sicht scheint es mir erwähnenswert zu sein.

In der Schule habe ich auch immer Probleme mit dem Aufsatzschreiben gehabt, meist reichten sie so gerade aus, bei meinem Aufsatz über unsere Lektüre 'Mozart auf der Reise nach Prag', es ging mir eigentlich ganz gut in die Feder, bekam ich zu meinem größten Schreck ein 'mangelhaft'. Es war wie ein Schock, und ich habe dieses Urteil nicht verstehen können.
Meine Eltern waren entsetzt, aber nun war ja nichts mehr zu ändern. Ich weiß wohl, daß man mir riet, ich müsse mehr lesen in meiner Freizeit; aber wie sollte ich das verwirklichen, mir fehlte die richtige Literatur und die Motivation. Da nützte mir der volle Bücherschrank meines Vaters sehr wenig.
Der Abitur-Aufsatz hat mir damals erst etwas Mut gegeben, meine Gedanken zu Papier zu bringen; und da ich in den folgenden Jahren oft außer Haus lebte und auch mit mancher Freundin gerne Kontakt pflegte, gewöhnte ich mich ans Briefeschreiben. Statt unangenehmer Kritik erhielt ich freundliche Antwort, das machte mir Spaß. Und ich konnte schreiben, wie es mir in den Sinn kam.

Gesundheitlich ging es mir in dieser Zeit sehr gut. Das Klima im hoch gelegenen Teil des Westerwaldes war mir günstig, ich litt nicht mehr, wie zuhause, an schrecklichem Schnupfen mit tränenden Augen, sondern fühlte mich rundherum fit und einsatzbereit. Nur eine Woche lang plagte mich ein schrecklicher Husten, und ich machte bei dieser Gelegenheit die Erfahrung, im Krankenzimmer liegen zu müssen.

Alles im Laufe der sieben Monate habe ich gerne mitgemacht, ob das Unkraut jäten, Jauchegrube ausleeren, Briketts aufstapeln oder Strohsäcke füllen hieß, mir war alles egal. Ich brauchte nicht wie andere Kameradinnen am Metermaß die abgelaufenen Tage unserer Zeit abzuschneiden. Für mich war es eine glückliche Zeit. Wegen der Dringlichkeit unserer Hilfe bei den Bauern wurde unsere Zeit von ursprünglich sechs auf sieben Monate verlängert.

Als die Zeit zu Ende ging, verlas uns die Lagerführerin unsere neuen Arbeitseinsätze für die fünf Monate unseres "Kriegshilfsdienstes" (KHD). Während meine Kameradinnen fast zur Hälfte nach Ostdeutschland oder in die besetzten Ostgebiete in eine Munitionsfabrik oder als Straßenbahnschaffnerin nach Mainz abkommandiert wurden, kamen wir zu zweit zum Sozialdienst in einen Mainzer Kindergarten. Die Führerin hatte es wirklich besonders gut mit uns gemeint.
Dann ging es ab nach Mainz. Dort kannte ich mich gar nicht aus, und so suchte ich zuerst den berühmten Dom. Dabei erlebte ich eine schreckliche Überraschung: Vom Dom stand nur noch ein trauriger Rest, und das umliegende Viertel war durch einen schlimmen Bombenangriff, der erst einige Wochen zurücklag, total zerstört und dem Erdboden gleich gemacht. Meine Straße führte nicht mehr weiter, und kein Mensch war zu sehen. Es roch schrecklich nach Betonstaub, Gas und nach Verbranntem. Die Grundmauern der Häuser konnte man nicht mehr erkennen, es war eine entsetzliche Wüste. Wieviel Leid mag an diesem Angriffsabend über die Stadt hereingebrochen sein?

Unser Kriegshilfsdienst-Lager befand sich in einem anderen Stadtviertel, in der Nähe der evangelischen Christuskirche. Dieses 'Lager' befand sich auf der ersten Etage eines alten, großen Patrizierhauses, welches vielleicht einer jüdischen Familie enteignet worden war. Viele Juden hatten ja auch Deutschland fluchtartig verlassen, ohne Rücksicht auf ihr Hab und Gut. Aber darüber verlor man damals kein Wort. Unsere Gemeinschaft bestand vielleicht aus 20-30 Maiden. Wir kamen alle aus verschiedenen RAD-Lagern, mußten uns also allmählich aufeinander einstellen. Fast alle wurden als Schaffnerin bei der Straßenbahn eingesetzt, in der damaligen, unruhigen Zeit mit allerlei fremden Menschen in den Großstädten keine leichte Tätigkeit, und nicht ganz ungefährlich. Anni und ich mußten unsere Arbeit im Kindergarten aufnehmen, wir hatten wirklich das große Los gezogen.

Das Leben in einer solchen Gemeinschaft mit anderen Maiden bereitete uns keine Probleme, wir trugen im Gegensatz zum RAD unsere zivile Kleidung (mußten sie auch nach hause schicken zum Waschen), und im 'Lager' fand wenig an Gemeinschaftsverpflichtungen statt. Jeder ging tagsüber seiner Pflicht nach, und abends hatte man frei.

Den städtischen Kindergarten leitete eine etwas ältere, unverheiratete Kindergärtnerin. Obwohl, wie sich allmählich herausstellte, diese Dame streng katholisch war, ließ man ihr trotzdem die Leitung. Wir verstanden uns gleich von Anfang an, es harmonierte alles, das Religiöse durfte keine Rolle spielen, es herrschte eben nur Wohlwollen auf beiden Seiten. Zum Abschied bekam ich von ihr eine schöne Kunstkarte mit ein paar freundlichen Abschiedsworten und einem Spruch: '.... im Grunde sind es die Verbindungen mit den Menschen, die dem Leben seinen Wert geben.' Heute kann ich nur bestätigen, daß es seinen tiefen Sinn hat. Ich denke gerne an so viele liebe Menschen zurück.

Unsere Lagerführerin lenkte die Geschicke unserer Maiden anscheinend sehr aus dem Hintergrund. Wenn alles klappte, sahen wir sie selten, wohl natürlich bei den Mahlzeiten oder sonstigen Schulungsstunden. Als ich einmal in ihrem Zimmer eine tolle Radioanlage entdeckt hatte, dachte ich, es ergäbe sich vielleicht einmal die Gelegenheit, dort gute Musik zu hören. Regelmäßig am Sonntag nachmittag brachte der Rundfunk eine gute Sendung mit klassischer Musik. Fast alle Maiden waren draußen unterwegs, und auch unsere Führerin war meistens fort. Darum faßte ich mir eines Tages ein Herz und fragte um Erlaubnis, in ihrem Zimmer diese Sendung hören zu dürfen. Sie gewährte mir gerne dieses Vertrauen, gab mir ein paar Instruktionen, und mir ging mein Herzenswunsch in Erfüllung. Ganz ohne gute Musik zu hören, wären mir die Wochen sicher unerträglich lang geworden. Ich war ihr sehr dankbar dafür. Meine Geige konnte ich in dieser Zeit nicht benutzen.

An einen freien Nachmittag kann ich mich noch gut erinnern: Ich hatte erfahren, daß bei Wiesbaden auf einer Anhöhe eine berühmte russische Kapelle stehe, diese wollte ich mir gerne ansehen. So machte ich mich alleine auf den Weg und fragte mich durch, bis ich sie gefunden hatte. Es lohnte sich wirklich, obwohl mir das Alleinsein nicht gefiel.

Einmal traf ich in Wiesbaden mit meiner Tante Agnes aus Köln zusammen. Wir besuchten ihren Mann dort, der mit seiner Truppe zu dieser Zeit in Wiesbaden lag. Mein Onkel wurde übrigens später im Rußlandfeldzug eingesetzt und gefangen genommen. Er kehrte erst lange nach Kriegsschluß wieder nach Köln zurück, allerdings halb verhungert und mit schweren Hungerödemen. Er brauchte lange Jahre, ehe er wieder richtig zu Kräften kam. Er mußte Schreckliches durchmachen, ein Bild verfolgte mich noch lange: Irgendwann waren die Gefangenen in einem Raum eingefercht; Tag und Nacht ließ man sie nicht heraus, dabei war der Raum so eng, daß die armen Menschen nicht einmal Platz hatten, sich auf dem Boden auf die andere Seite zu drehen, es ging nur, wenn sich alle gleichzeitig drehten. Im übrigen mußten sie stehen bleiben, und das bei dauerndem Hungerzustand. Wie mag es ihnen sonst noch ergangen sein, mein Onkel hat uns kaum mehr erzählt, es war so schrecklich für ihn.

Inzwischen vergingen für uns die Wochen in dem üblichen Rhythmus. Es wurde Winter, die Adventszeit brach an. Zu drei Maiden aus unserem Zimmer gedachten wir, wie zuhause unseren Adventskranz aufzustellen. Ein Hocker in unserem Schlafraum schien uns dazu gut geeignet, und sobald unser Schmuck beschafft war, fingen wir auch abends mit ein paar Adventsliedern an, den Tag würdig zu beschließen. Keine unserer Kameradinnen hatte etwas gegen Gesang und Kerzenduft, im Gegenteil, es gefiel allen. In der letzten Woche vor Weihnachten stellten wir sogar eine improvisierte Krippe auf, es wurden besinnliche Abende mit manchem ernsten, religiösen Gespräch. Eigentlich hatten wir alle verhältnismäßig wenig genauere Kenntnisse über unseren Glauben, denn schon seit Jahren gab es in der Schule keinen Religionsunterricht mehr.

Mit dem 'Kinderglauben' reichte es für uns inzwischen nicht mehr. Es gab viele offene Fragen. Jeder von uns hatte wohl schon seine Weltananschauung, aber im Gespräch mit anderen gab es immer neue Aspekte, die man bejahen oder ablehnen mußte. Um mein Grundwissen in meiner Religion auf den neuesten Stand zu bringen, konnte ich mir in Mainz zwei dünne Religionsbücher für die Oberstufe der Höheren Schule kaufen, ich glaube sie hießen 'Licht und Leben'. Da konnte ich manches nachschlagen. Außer dem Besuch der Sonntagsmesse pflegte ich in dieser Zeit ein intensives Gebetsleben. Das unterstützte mich in der Suche nach einem wahrhaft christlichen Leben, denn die Kenntnis der Lehre alleine konnte für mich kein Lebensinhalt sein.

Inzwischen neigte sich unsere Zeit des Kriegshilfsdienstes dem Ende zu. Zum 1. April 1943 sollten wir wieder zuhause sein. Da es wegen der Kriegsverhältnisse mit meinem Musikstudium nichts werden konnte, hat mein Vater sich Gedanken gemacht, was bei meinen Interessen wohl als Beruf in Frage kommen könnte. Eines Tages erhielt ich in Mainz einen Brief, in dem mein Vater mir ein Stellenangebot der bekannten Firma Siemens und Halske in Essen beilegte. Diese große Elektrofirma (eine Niederlassung in Essen) suchte Abiturientinnen, die durch eine hauseigene Ausbildung zu Elektro-Assistentinnen ausgebildet werden sollten. Der Lehrgang sollte zwei Jahre dauern, und es gab sogar ein kleines Gehalt (sozusagen als Ausbildungshilfe). Übrigens wurden wir im Angestellten-Verhältnis geführt, man bezahlte Sozialabgaben für uns und dadurch kam ich in den Genuß der Versicherung bei der BfA, was später wichtig für mich wurde wegen der Rente. Die kurze Information gefiel mir, und so meldete mein Vater mich in Essen an. Ich fuhr dann sehr zuversichtlich nach meiner KHD-Zeit heim.

lo