> Werner Mork: Die nationalsozialistische Machtergreifung

Werner Mork: Die nationalsozialistische Machtergreifung

Dieser Eintrag stammt von Werner Mork (*1921 ) aus Kronach , Juli 2004 :

Ich war einer von denen, die nach Januar 1933 als "Rote Falken" nach wie vor zu unseren Zusammenkünften ins Heim der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) gingen, und das auch noch in unserer "Uniform". Wir ballten noch immer unsere Faust, riefen laut "Freiheit" und hatten auch noch Zoff mit den verdammten Pimpfen, diesen Knülchen des Fähnleinführers Lendroth. Es gab Randale und auch wieder Stinkbomben von den Nazis, die uns damit aus unserem Heim vertreiben wollten, aber wir ließen uns nicht einschüchtern, noch nicht. Wir waren unserer Organisation unverändert treu, wir glaubten auch nicht an das Ende der Roten Falken und der SAJ, auch wenn wir täglich mehr erleben mußten an brutaler Willkür der SA, vorwiegend im Umfeld des Gewerkschaftshauses, wo dann sogar eines Tages bewaffnete Posten der SA auftauchten, die aber noch jedermann rein- und rausgehen ließen.

Das alles änderte sich dann schlagartig nach dem 28. Februar 1933, nach dem Brand des Reichstages in Berlin. Überall zogen jetzt Bewaffnete auf, die so genannte "Hilfs-Polizei", bestehend nicht nur aus Männern der SA und SS, sondern auch aus Angehörigen der Deutschnationalen Wehr-Organisation, dem Stahlhelm. Es begann die Verfolgung der Kommunisten, die bis dato noch als Partei samt RFB agiert hatten, es begannen die ersten Verfolgungen von Sozialdemokraten, es wurden Partei-Büros besetzt, dann das Gewerkschaftshaus, und auch unser SAJ-Heim.

Für uns, die Roten Falken, kam jetzt eine Zeit der großen Verunsicherung. Wir waren plötzlich illegal. Wir konnten uns nicht mehr wie gewohnt treffen, die Öffentlichkeit war für uniformierte Sozi-Kinder eine absolute Tabu-Zone. Wir hatten auf der Straße und in der Öffentlichkeit nichts mehr zu suchen, und dann wurden auch wir alsbald verboten. Von unserem SAJ-Heim ergriff die HJ mitsamt dem Jungvolk Besitz. Alles was mit uns noch hätte in Verbindung gebracht werden können, wurde entfernt und über dem Eingang prangte nun das Hakenkreuz. Wenn wir uns dennoch mal dahin trauten, hilflos vor dem standen, was doch mal unser Heim gewesen war, dann wurden wir unter Androhung von Prügel sehr schnell wieder vertrieben. Wir durften uns da nicht mehr sehen lassen. Wir "Kleinen" schauten nun auf die "Großen", sowie auf die uns bekannten Männer vom Reichsbanner in der Hoffnung, daß von ihnen doch noch eine Hilfe kommen würde. Aber die konnten weder uns noch sich selber helfen. Sie konnten nur versuchen, einigermaßen heil aus allem heraus zu kommen, jedenfalls vorläufig.

Die Hoffnung vieler von ihnen war die, daß der braune Spuk doch wieder verschwinden müsse, daß diese Regierung, wie schon viele andere, wieder aufgelöst würde. Denn ein solches brutales System könne doch von einem Reichspräsidenten auch nicht länger geduldet werden, den auch die Sozis gewählt hatten. Mit deren Stimmen war seine Wiederwahl überhaupt nur möglich gewesen. Doch nichts dergleichen geschah, der Reichskanzler regierte auf seine Art, die Nazis tobten sich nur noch stärker aus, der Reichspräsident hielt sich sehr bedeckt und das Volk in seiner Mehrheit sah dem heillosen Treiben zu, ohne sich dagegen zur Wehr zu setzen. Die Polizei tat nichts gegen die immer schlimmer werdenden Übergriffe der Nazis - im Gegenteil, es war so, als ob sie mit den Nazis nun gemeinsame Sache machten. Und die Reichswehr? Nun, die war in ihren Kasernen und erfreute sich anscheinend an dem neuen Reichswehrminister, diesem anerkannten Parteigänger der Nazis, der der nationalen Sache durchaus positiv gegenüberstand. Mit dem nationalen Kabinett stand nur das Nationale noch im Vordergrund, alles andere hatte dahinter zurück zu stehen. Die nationale Erneuerung war vorrangig. Wenn dabei Fetzen flogen, dann war das eben so. Ohne ein hartes Durchgreifen konnte die nicht umfassend durchgeführt werden, so sahen das nun viele gute Deutsche, und damit kam die ersehnte "Ordnung" zurück.

Es mehrten sich die Gerüchte, die sich dann leider bewahrheiteten, daß viele Kommunisten und Sozialdemokraten einfach abgeholt und eingesperrt wurden. Dabei hatten sie nichts getan, sie waren aber Gegner des neuen Regimes und deswegen wurden sie verhaftet. Auch der von mir verehrte Reichsbannermann Gnutzmann war plötzlich nicht mehr da, auch er war verhaftet worden. Wo diese Männer hinkamen, das wußte keiner so genau. Es hieß nur, diese Roten kämen in ein Lager, in dem sie "umerzogen" würden, um nun gute Deutsche zu werden. Es hieß aber auch, sie kämen vorübergehend in eine Schutzhaft, wobei sich die Frage stellte: Wer sollte vor wem geschützt werden? Hatten denn die Nazis eine solch große Angst vor einem doch noch möglichen Aufstand? Die Angst war doch längst unbegründet, es gab nichts mehr, was einen solchen Aufstand hätte auslösen können - es gab auch wohl keinen mehr, der noch die Absicht dazu gehabt hätte.

Wir Kinder von den Roten Falken trafen uns nur noch heimlich bei der Familie Paulenz, was dann auch schnell zu Ende ging, denn überall kam es nun zu Verhaftungen von Sozialdemokraten, auch in deren Familien. Unser blaues Hemd durfte nicht mehr getragen werden, das rote Halstuch verschwand und das Abzeichen mit den " Drei Eisernen Pfeilen" war schon längst verboten. Es hieß dann, wir müßten uns jetzt sehr vorsichtig verhalten, und weitere Treffen seien nur noch möglich nach vorheriger mündlicher Information untereinander.

Trotz aller Verfolgungen und Verhaftungen, gab es im März 1933 doch noch eine Wahl, an der auch die Linken teilnehmen durften, die Kommunisten aber nur noch mit einer Listenaufstellung, die dabei ohne jede Bedeutung war. Es durften auch noch Kundgebungen stattfinden, wenn die nach vorheriger Anmeldung gestattet würden, und das geschah kaum noch. Die Nazis mit der gesamten "Nationalen Front" beherrschten die Straßen und Plätze. Sie traten so auf, als gäbe es nur noch sie und nichts anderes mehr. Die "Eiserne Front" der Linken war nicht mehr existent, es gab nur noch die "Nationale Front" des Lagers aller Rechten, ob sie nun schon Nazis waren oder noch nicht.

Allerdings war die Wahl für die NSDAP eine ungute Überraschung, ihr Ergebnis war nicht sehr überzeugend, von einer absoluten Mehrheit für die Partei konnte keine Rede sein. Aber dann wurden die Ergebnisse einfach mit den Zahlen der "Nationalen Front" addiert, und das war dann der Wahlsieg der nationalen Kräfte, der nationalen Erhebung. Die Linke hätte noch bei dieser Wahl eine Chance haben können, wenn sie nicht so hoffnungslos zerstritten gewesen wäre und sie sich noch hätte einigen können. Es geschah das eigentlich doch sehr Abstruse, daß die Rechten aller Schichten und Kreise mit demokratischen Mitteln und Wahlen gesiegt hatten in der Demokratie, die von ihnen verachtet und gehaßt wurde. Dafür war ihnen die Demokratie gut genug und ihre Gegner ließen es sogar zu, daß diese Rechten für ihre Zwecke die Demokratie mißbrauchen konnten. Ich meine, alle Linken hätten zu einem Wahlboykott aufrufen müssen, um damit den Rechten ihre Schau zu stehlen. Weil das nicht geschah, konnten die Rechten sich als vom Volk in einer demokratischen Wahl bestätigt fühlen als die anerkannten Retter des Vaterlandes. Mit denen, die ihr Kreuz an einer anderen Stelle gemacht hatten, würden sie nach der Wahl schon noch fertig werden - darin waren sich die Bürgerlichen mit den Nazis völlig einig.

Das Verhalten meiner Eltern entsprach nach Januar 1933 nicht mehr dem, das ihnen davor noch zu eigen gewesen war. Es fand die große Zeit der Anpassung statt, es gab nur noch wenige, die sich widersetzten, und diese Wenigen wurden sehr schnell noch weniger. Die Erwachsenen wurden immer schwankender in ihren bisherigen Überzeugungen, nicht zuletzt durch für sie positiv wirkende Eindrücke, die alles andere nun völlig überdeckten, die keine negative Einstellung oder eine Anti-Meinung mehr auslösten. Das eigene Wohlbefinden stand im Vordergrund. Das hatte sich für die Mehrheit 1933 gebessert, das war entscheidend, nicht der für die Masse doch reichlich nebulöse Begriff der politischen Freiheit im Denken und Handeln. Im übrigen hatte man doch in der vergangenen Republik erlebt, dass diese so genannte demokratische Freiheit der breiten Masse keine erkennbaren und begreifbaren Vorteile gebracht hatte. Es war so, dass für die breite Schicht des Volkes diese Vergangenheit nur einen unguten Nachgeschmack hinterließ. Und im jetzigen politischen Geschehen hatte man nicht das Gefühl, einem bedrückenden Freiheitsverlust ausgesetzt zu sein. Freiheit konnte man nicht essen und die Familie nicht damit ernähren, was zählte, war die Tatsache, dass man das jetzt wieder konnte, das war wichtig!

Die zunehmende Besserung der eigenen Verhältnisse ließ ein anderes Empfinden nicht (mehr) aufkommen. Wenn überhaupt, dann war das nur bei denen der Fall, die politisch klare Gegner des NS-Systems waren und blieben, sowie bei etlichen Intellektuellen, aber diese Gegner wurden mehr und mehr zu einer Minderheit, die keinen entscheidenden Einfluss auf das Volk nehmen konnte, das verschloss sich diesen Gegnern, die waren nur noch ungute Störenfriede. "Man" arrangierte sich mehr und mehr mit den neuen Machthabern, man fand das Leben als gut und erträglich und die Nazis als doch gar nicht so schlimm!

Das war keine Folge von Terror und Gewalt, sondern das war der Ausdruck des sehr persönlichen Gefühls einer deutlich spürbaren Besserung der Lebensverhältnisse. Es war eben für viele, vieles schon in der kurzen Zeit nicht nur anders, sondern vor allem besser geworden. Dass es aber noch besser werden soll, daran hätte nun ein jeder der guten Volksgenossen mitzuarbeiten und beizutragen zu dem Wiederaufbau eines nationalen und sozialen Deutschlands, auch unter dem Hakenkreuz, das nun nicht mehr von der Mehrheit als Lächerlichkeit abgetan wurde. Das stand nun als das Symbol für den Wiederaufstieg unter der Führung von Adolf Hitler, der von vielen noch vor wenige Monaten verpönt und gehasst worden war. Der Wandel vollzog sich sehr schnell und sehr gründlich.

Wir von den "Roten Falken" versuchten derweil, in anderen Jugendorganisationen wie den Pfadfindern unterzukommen.

lo