> Werner Mork: Schlacht bei Steinau an der Oder 1945

Werner Mork: Schlacht bei Steinau an der Oder 1945

Dieser Eintrag stammt von Werner Mork (*1921) aus Kronach, Februar 2010:

Als Soldat der Wehrmacht kam ich mit einem zusammengewürfelter Haufen von Landsern, in dem keiner den anderen kannte, am 23. Januar 1945 nach Steinau an der Oder, wo uns das große Grauen packte. Die Russen hatten die Oder im ersten Schwung überschritten, sich dann aber, weil es nur eine Panzerspitze war, wieder zurückgezogen auf das andere Ufer, um hier auf die nachrückenden Einheiten zu warten.

Die völlig überraschten deutschen Dienststellen hatten beim Auftauchen der unerwarteten Russen sofort Garnison und Kommandantur von Glogau alarmiert. Nur gab es da keine einsatzfähigen Truppenverbände, weil doch keiner mit den Russen gerechnet hatte und dieser Raum noch als sehr ruhig galt, ein Zustand, der nur wenige Tage später sich sehr veränderte. In der entstandenen Kopflosigkeit wurde die in Glogau befindliche Unteroffiziervorschule, d.h. die darin untergebrachten Unteroffizierschüler - und das waren wirklich alle Schüler - in Alarmzustand versetzt. Diese Kinder wurden in Marsch gesetzt, um im Raum Steinau die eingedrungenen Russen wieder zu "verjagen" und das Gebiet zu bereinigen! Wohl nach dem Motto: sind doch auch schon Soldaten. Diese "Soldaten" waren blutjunge Jungens im blühenden Kindesalter und wurden "ausgerüstet" mit norwegischen Beute-Karabinern und einigen Schuss scharfer Munition für diese Dinger. So schickte man diese Kinder an die Stelle, wo der Russe über die Oder gekommen war bzw. sich am anderen Ufer befand.

Was hier in Steinau geschah war Mord, glatter und bewusster Mord an Kindern, für den die deutschen Dienststellen verantwortlich waren: Sie hatten diese Kinder an die neue Front an der Oder geschickt, sie hatten diese Kinder vor die Waffen der Russen getrieben, sie hatten diese Kinder bewusst in den Tod gejagt. Diese deutschen Dienststellen der Partei und der Wehrmacht waren Schuld an dem Kindermord, der in Steinau an der Oder stattfand.

Diese völlig unausgebildeten Nicht-Soldaten waren von ihren Schulbänken in ihren Schuluniformen, der sogenannten "Hindenburg-Gedächtnis-Uniform", mit den lächerlichen Waffen der Beute-Karabiner an die Oder gehetzt worden, wo sie in nur kurzer Zeit von den russischen Panzern zusammengeschossen und völlig vernichtet wurden. Jetzt lagen sie da als Leichen, sinnlos krepiert im Kindesalter in ihrem Glauben an Führer, Volk und Vaterland. In den Tod gejagt von gewissenlosen "Befehlsgebern" der Partei und der Wehrmacht (in trauter Gemeinsamkeit), die für diesen Kindesmord verantwortlich waren, aber nie dafür zur Rechenschaft gezogen worden sind. Die in der Schule zuständigen Vorgesetzten dieser Kinder haben sich nicht gegen den Wahnsinnsbefehl gewehrt, sie haben, als Angehörige der Wehrmacht, diesen Todes-Befehl ausgeführt. Erzieher, denen die Eltern dieser Kinder einmal vertrauensvoll ihre Jungens an die Hand gegeben haben, zwar für eine militärische Laufbahn, aber doch nicht für einen Kriegseinsatz im Kindesalter. Was waren das alles nur für Menschen, die den grausamen Tod dieser Kinder zu verantworten hatten? Ich konnte das nicht verstehen, nicht begreifen.

Es war entsetzlich und grauenhaft, was wir als Soldaten zu sehen bekamen. Wir waren erschüttert über das, was sich unseren Augen darbot, das war ein einziges wirkliches Schlachtfeld, hier waren Menschen geschlachtet worden. Für mich war dieses Erlebnis etwas, was mich nicht nur völlig verzweifeln ließ, sondern nunmehr auch endgültig am Sinn eines jeden Krieges. Aber noch mehr an der Führung dieses Staates, der Partei und der Wehrmacht, und ich fragte mich, ob denn dieser Krieg überhaupt ein sogenannter notwendiger Krieg hatte sein müssen, ob es nicht vielmehr Möglichkeiten hätte geben können, um kritische Probleme zwischen den Nationen auf friedliche Art und Weise zu lösen, ohne Krieg, ohne die eigenen Volksangehörigen in einem Krieg umkommen zu lassen. Aus meiner jetzigen Sicht war Krieg doch nur ein Morden, das nie zu einer befriedigenden Regelung des Nebeneinanders von Staaten führte. Eigentlich war doch die Geschichte voll von solchen Beispielen, aus denen aber bisher keiner etwas anderes gelernt hatte und immer wieder der Wahnsinn des Krieges als angebliche Ultima ratio angewandt wurde. Die Menschheit hatte noch nie ohne Soldaten leben können. Und wir, die Deutschen, hatten gejubelt, als die deutsche Wehrhoheit wieder hergestellt worden war. Weil dem so war, mussten wir nun auch das ertragen, was auf uns gekommen war. Waren wir nicht alle dafür gewesen, die deutschen Probleme notfalls mit der Waffe in der Hand zu lösen? Hätte der angeblich so große Führer die Probleme, die vom Versailler Vertrag her offenkundig Unrecht waren, nicht anders lösen können? Oder hätte es dazu keine Möglichkeit gegeben, weil unsere alten Gegner das nicht wollten? Wer war wirklich schuldig an dem wahnsinnigen Morden von Millionen von Menschen? Waren wir Menschen nicht mitschuldig daran, dass die Staatenlenker einfach Kriege anzetteln konnten, als angebliche nationale Notwendigkeit? Wollten wir Menschen nicht immer so gerne tapfere Krieger sein und große Helden? Wir Menschen wollten doch keine lumpigen Pazifisten sein, keine feigen Memmen. Damals, heute und morgen noch immer! Aber könnte nach diesem Entsetzen nicht doch die Vernunft einkehren und die Menschen zu Pazifisten werden lassen? Ich konnte da noch nicht wissen, wie sehr ich mich irren würde in Bezug auf eine mögliche Vernunft der Überlebenden, und der Menschheit auf der ganzen Erde.

Wie war es nur möglich, dass jetzt bedenkenlos völlig unschuldige Kinder auf die Schlachtbank gejagt und in den Tod getrieben wurden? Wie weit waren wir denn in diesem Staat inzwischen gekommen? War Krieg schon unmenschlich, so war in Steinau der möglicherweise noch vorhanden gewesene letzte Rest an Menschlichkeit zerstört worden. Und in mir war in Steinau der letzte Rest an noch vorhanden gewesenem Glauben und von Patriotismus zerstört worden. Mein Bruch war jetzt ein restloser, der war irreparabel für alle Zeiten. Meine gesamte Glaubenswelt war in diesem Kriege zugrunde gegangen, im nationalen wie im christlichen Sinne. Ich war mir nun sehr klar darüber, welch ein Schindluder besonders mit uns jungen Menschen getrieben worden war - und noch immer weiter getrieben wurde. Und ich war mir meiner und unser aller Schuld und Hilflosigkeit sehr bewusst geworden. Ich wurde ein Pazifist, der sich schwor, immer ein überzeugter Pazifist zu sein und zu bleiben - und diesen Schwur habe ich gehalten.

Eines war jetzt sehr stark in mir gewachsen: mein Hass auf die gesamte Führung unseres Staates. Nicht nur auf den einst so großen Führer, sondern auf alle, die ihm auf allen Führungsebenen sklavisch treu ergeben waren, selbst jetzt noch, wo für jeden das Ende klar zu erkennen war, ein Ende, das nur noch ein verlorener Krieg sein würde. Ein Ende, das den totalen Untergang des Reiches zur Folge hat und in dem das "Dritte Reich" auch das letzte Reich sein würde. Aus und vorbei, der Traum von 1000 Jahren "Drittes Reich".

Die Kinder in Steinau an der Oder hatten mit ihren Flinten nichts bewirken können, sie waren alle als Leichen auf diesem Schlachtfeld liegen geblieben, sie waren kein Hindernis gewesen für die anrückenden russischen Panzer, nicht als sie noch lebten, und auch jetzt nicht als Leichen. Über sie und ihre Körper rollte die Furie des Krieges ohne Erbarmen, ohne Rücksicht und ohne jede Menschlichkeit. Wieder einmal waren junge Menschen in das Sinnlose eines angeblichen Opferganges marschiert, als Verblendete der Nazi-Ideologie, so wie einmal schon die Blüte der Jugend im 1. Weltkrieg vor Langemarck sinnlos in den Tod marschierte, als Opfer des Nationalismus der "glorreichen Kaiser-Ära".

Seltsam ist es, dass in den Unterlagen, die ich über diese Januartage des Jahres 1945 habe, zwar von dem russischen Angriff bei Steinau berichtet wird, aber nirgendwo etwas geschrieben steht über den begangenen Mord an diesen Kindern, den der zuständige Gauleiter der Partei, der zuständige General der Wehrmacht und auch die Leitung der Schule auf ihrem Gewissen haben. An dem Tag war mein Bruch mit der deutschen Führung ein endgültiger!

lo