> Werner Mork: Wie ich erstmals vom Völkermord an den Juden hörte

Werner Mork: Wie ich erstmals vom Völkermord an den Juden hörte

Dieser Eintrag stammt von Werner Mork (*1921) aus Kronach, Februar 2010:

Im Kriegsgefangenenlager Horazdovice, in dem ich seit Mai 1945 saß, wurden von den Amerikanern immer wieder Appelle abgehalten und Untersuchungen angestellt, um festzustellen, ob sich im Lager Männer der Waffen-SS oder Angehörige der berüchtigten Wehrmachts-Division "Brandenburg" befänden. An dieser Spionage- und Sabotagedivision waren besonders die Russen interessiert. Fast täglich kamen auch Russen ins Lager, die gemeinsam mit den Amis nach möglichen Kriegsverbrechern suchten. Dabei waren sie sogar erfolgreich, und so mancher wurde mitgenommen auf die andere Seite.

Bei der Suche nach SS-Angehörigen musste jedes Mal das ganz Lager antreten, die Oberkörper mussten freigemacht und die Arme hochgestreckt werden. Auf diese Weise sollte festgestellt werden, ob es Blutgruppentätowierungen in den Achselhöhlen gab. Das waren die Merkmale, an denen Angehörige der Waffen-SS erkannt werden konnten. In der Waffen-SS war es üblich gewesen, die jeweilige Blutgruppe zu tätowieren, was sich jetzt als Erkennungszeichen für die SS darstellte und nicht auszulöschen war. So konnte jeder SS-Mann in der Gefangenschaft "erkannt" werden. Dieses Zeichen wurde jetzt zum Schandmal.

Ein Kamerad in dem unschönen Wiesengelände des Gefangenenlagers war ein schon etwas älterer Mann, von Beruf Landwirt. Er stammte aus Sandstedt an der Weser, somit ein Landsmann von mir. Wir verstanden uns ganz gut, und nach einer Weile erzählte mir dieser Obergefreite eine Geschichte, die ich kaum glauben konnte. Zum ersten Mal hörte ich von der Vernichtung anderer Menschen, von Juden!

Im Jahre 1940 war dieser Wehrmachtssoldat als Kraftfahrer bei einer Wehrmachtseinheit in Polen. Eines Tages wurde er Fahrer auf einem Bus. Die Fenster dieses Wagens waren alle zugemacht, verkleidet und abgedichtet. Er hatte den Befehl, mit diesem Bus Juden zu transportieren, die zusammen getrieben worden waren von Einheiten der dort eingesetzten Polizei-Regimenter. Er hatte den Bus zu fahren und ihm war ein Beifahrer zugeordnet, ein Angehöriger dieser Polizei, der dafür zu sorgen hatte, dass während der Fahrt die Auspuff-Gase des Fahrzeugs in das Innere geleitet wurden. Zu dem Zweck gab es einen Schlauch, der vor Antritt der Fahrt von dem Beifahrer auf das Auspuffrohr gesteckt wurde. Nach einer gewissen Fahrtdauer war das angegebene "Ziel" erreicht. Die auf diese Weise umgebrachten Juden wurden in eine vorbereitete Grube geworfen und mit Kalk "zugedeckt". Der Fahrer hatte seinem Fahrbefehl Folge geleistet, und der brave Angehörige des Polizei-Regiments seine mörderische "Pflicht" erfüllt. Das wiederholte sich so lange, bis der betreffende Ort "judenfrei" war. Der Einsatz des Soldaten, der mir dieses Grauenhafte erzählte, dauerte eine ganze Weile - und seine Wehrmachteinheit macht dabei fleißig mit.

Das war wirklich das erste Mal, dass ich von einer solchen Menschenvernichtung hörte, wie es auch das erste Mal war, dass ich in dem Kriegsfenagenenlager von Konzentrationslagern hörte und den darin verübten Verbrechen. Was mir bis jetzt von "KZ's" bekannt war, das waren die im Reich seit 1933 bestehenden Lager, in denen die sogenannten Staatsfeinde, die politischen Gegner des Regimes, in "Schutzhaft" saßen, aber auch kriminelle Elemente, die in diesen Lagern für eine sehr lange Zeit isoliert wurden und nicht mehr gefährlich werden konnten. So hieß es seinerzeit, so hatte auch ich davon gehört. Aber von Vernichtungslagern hatte ich niemals etwas gehört. Es hatte zwar immer wieder mal Gerüchte darüber gegeben, dass es Lager geben soll, in denen Juden umgebracht werden. Aber das wurde damit abgetan, dass es sich wohl um zum Tode verurteilte Verbrecher handeln musste, Juden aus dem Osten, die Verbrechen gegen die Deutschen begangen hatten. Das erschien uns zwar nicht als unbedingt glaubhaft, weil diese Gerüchte wohl zu einem Teil auch Propaganda des Westens sein könnten. Was wir aber jetzt hörten, wurde auch noch nicht von allen geglaubt, das erschien vielen (noch) als Propaganda der Siegermächte. Nur gab es etliche, die davon mehr wussten, weil sie im Osten einiges davon "mitbekommen" hatten.

So erzählte mir nun auch dieser Kamerad die Ungeheuerlichkeit eines solchen Massenmordens an Menschen, die keine Verbrechen begangen hatten, die "nur" Juden waren, und deshalb vernichtet werden sollten. Er erwähnte ausdrücklich, dass das in seinem Fall keine SS-Einheit war, die ihm die Befehle erteilt hätte, sondern seine Wehrmachtseinheit, die auf Anforderung des Polizei-Regiments und des Befehls der zuständigen Kommandantur die erforderlichen Fahrzeuge und Fahrer für diese Mordkommandos stellte. Mein Kamerad sagte mir, dass er darüber sprechen wollte und musste, um das einmal loszuwerden. Wir verstanden uns sehr gut, tauschten unsere Heimatadressen aus und wollten auch in der Heimat miteinander in Verbindung bleiben. Ich könne ihn jederzeit in Sandstedt besuchen. Aber als ich das dann im Spätsommer 1945 versuchte, mit dem Fahrrad nach Sandstedt fuhr, um mich nach ihm zu erkundigen und ihn zu besuchen, klopfte ich vergebens an bei meinem Kameraden. Der Kamerad war entweder kein Kamerad mehr und ließ sich von seiner Frau verleugnen, oder er war noch nicht aus der Gefangenschaft entlassen. Ich bekam nur kurz und sehr abweisend zu hören, ich solle den Hof umgehend verlassen, es gäbe hier nichts zu hamstern und auch nichts zu reden! Was der wirkliche Grund für dieses seltsame Verhalten war, weiß ich nicht. Ich habe später nicht noch einmal versucht, dort einen Besuch zu machen. Die Anschrift habe ich dann vernichtet und der Name ist mir nicht mehr geläufig. Somit ist mir nicht bekannt, ob dieser Soldat nicht vielleicht noch für seine Tat verantwortlich gemacht wurde, im Rahmen der Nachforschungen, bei denen dann die Einheiten bekannt wurden, die an diesen Untaten beteiligt waren. Möglich ist es, und das könnte dann auch eine Erklärung sein für das Verhalten seiner Frau, das mir so unverständlich war. Oder er war auch schon wieder zu Hause, hat mich gesehen, aber wollte nicht mehr mit mir reden, vielleicht wegen dem, was er mir im Lager anvertraut hatte.


lo