Rosmarie Beier
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
Bericht zur (mentalen) Lage der Nation
Was die Besucher einer Berliner Ausstellung über die deutsch-deutsche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft denken
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Katalog

Vorwort
Einführung

Deutschland um 1900

DDR
BRD


Aufsätze



Ausstellungsarchitektur



Besucherreaktionen

Aus Politk und Zeitgeschichte


Virtueller Spaziergang



Ausstellungsgrundriss



Weitere Informationen


 

III. Nostalgie statt politischer Aufarbeitung der Vergangenheit

In den Besucherbüchern überwiegen Bedauern angesichts der verlorenen Lebenswelten und Rückwärtsgewandtheit. Der gerade von Analytikern des Zeitgeschehens oft geforderte nüchterne, kritische Blick auf die Zustände im realexistierenden Sozialismus ist kaum vorhanden, und Einflüsse einer in diesem Sinne wirkenden (schulischen) politischen Bildung sind nicht zu erkennen, denn nur sehr selten wird in einem Ost-West-Systemvergleich von den DDR-Bürgern ihr Staat genau betrachtet und (im analytischen Sinne) mit dem westlichen Gesellschaftssystem verglichen.

Es erschreckt, daß nur wenige der Ausstellungsbesucher aus der ehemaligen DDR das Ende ihres Staates auch als Chance für die eigene Entwicklung darstellen, die mit dem Fall der Mauer neue Perspektiven und Horizonte erhielt. Die Diskrepanz zwischen der allenthalben in den Kulturzeitschriften und auf dem Büchermarkt eingeklagten Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und den Aufgaben, die in den Besucherbüchern als notwendig zu bewältigen deklariert werden, ist frappant. Forderte erst jüngst wieder der Theologe und CDU-Bundestagsabgeordnete Rainer Eppelmann die "Aufarbeitung der Geschichte", die den ehemaligen DDR-Bürgern "niemand abnehmen" könne, so herrschen in den Besucherbüchern Stimmungen und Wahrnehmungen vor, die sich in Empörung über (vermeintlich oder tatsächlich erlittene) Ungerechtigkeiten ergehen.

Von der Geschichte betrogen worden zu sein, zufällig auf der falschen Seite gelebt zu haben, dies taucht als Muster der Vergangenheitsinterpretation häufig auf: So schreibt ein kurz nach Kriegsende im östlichen Deutschland geborener Mann, daß viele Menschen "heute noch nicht begriffen haben, daß uns der Kommunismus als Folge des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges aufgezwungen wurde. Ich bin 1946 geboren (in Deutschland), war niemals für ein kommunistisches System eingestellt, wurde also 40 Jahre unschuldig zum Kommunismus gezwungen. Gleichaltrige im Westen dagegen hatten die Wahl!" (9: 24.06. 93, m, Ostdeutschland) Von ihnen fühlt sich der Schreiber schlecht behandelt: "Trotzdem fühlt man sich als Mensch II. Klasse durch das arrogante Verhalten vieler ,Wessis`. Heute würde ich auf eine Wiedervereinigung verzichten und wenn es mir schlechter gehen würde!" (Ebd.)

Ein nachfolgender Besucher merkt dazu an: "Der gute Mann hat im Prinzip recht, nur sollte er Haß und Bitterkeit denjenigen gegenüber empfinden, die die katastrophalen Folgen des Sozialismus-Experiments verursacht haben. Sie leben heute noch 'und das wohl nicht einmal schlecht." (9: nach 24.06.93, m, Westdeutschland?) Hier wird dem restaurativen Wunsch nach Rückkehr zu den alten Verhältnissen entgegengehalten, man solle sich die Personen anschauen, denen man die ganze Misere zu verdanken habe.

Nicht das Regime wird kritisiert, nicht die strukturellen Hintergründe, sondern als Kränkung wird beklagt, daß man altbekannten Personen aus der DDR in neuen entscheidungsrelevanten Positionen begegnet: "Mai 1993 im Stolpe-Land - Ich fragte beim Schulamt nach Arbeit an (ich hatte nie gekündigt!). Ich war Regimekritiker der DDR. Eine verschmitzt lächelnde Kreisschulrätin holte den Personalchef mit der Bemerkung: ,Ja, es ist der alte!` Tatsächlich, es war der alte Genosse Kaderleiter! Welche Chance ich dann hatte - dazu keine Äußerung als Regimekritiker der DDR." (9: 07.07. 93, m, Ostdeutschland) Das Land wird mit seinem Regenten synonym gesetzt ("StolpeLand").

Vergangenheitsbewältigung, wie sie jüngst von Günter Wichert, Wolfgang Thierse und Michael Wolffsohn vorgeschlagen wurde, kann da womöglich gar nicht greifen. Wer "den Kern der Systemstrukturen" aufdecken will, kann sich nicht sicher sein, damit auch etwas zum besseren Umgang mit den erlittenen Kränkungen, Demütigungen und Diskriminierungen in die Hand zu bekommen. "Die Analyse des Systems und seiner Mechanismen wird vieles aufklären", meint Thierse , aber er gibt gleichzeitig zu bedenken, daß mit der Rekonstruktion der Strukturen nicht alles geleistet sei. Sein Plädoyer für den "Dialog des Austausches von Biographien, in dem hoffentlich andere Maßstäbe gelten als bei der Bewertung von ökonomischen und politischen Verhältnissen", findet jedenfalls in den Aufzeichnungen aus den Gästebüchern einigen Halt. Denn diese rekurrieren in der Vergangenheitsbewältigung kaum auf das "System", sondern auf die Biographie, auf Personen und Begegnungen.

 
           
 
 
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