Deutsches
Historisches
Museum
Streiks im 18. Jahrhundert?
Reinhold Reith, Seite 2 3
Streiks im 18. Jahrhundert?

Der Terminus "Strike" setzte sich seit den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland durch, nachdem er in England rund 100 Jahre zuvor zuerst aufgetaucht war - wenngleich kollektive Arbeitsniederlegungen auch hier schon mindestens ein Jahrhundert früher stattfanden. Auf dem Kontinent gab es bereits seit dem späten Mittelalter kollektive Arbeitsniederlegungen, etwa 1351 in Speyer, als Tuchweberknechte "von des lones wegen" in den Ausstand traten. Solche Konflikte waren keineswegs nur auf das Gewerbe beschränkt, denn auch im Bergbau kam es in der frühen Neuzeit zu Arbeitseinstellungen.
Können wir nun diese Konflikte, die häufig auch "Aufstand", "Aufruhr" oder "Unruhe" genannt wurden, als Streik bezeichnen? Wenn heute unter Streik die befristete Arbeitsniederlegung abhängiger Produzenten als Ausdruck einer Beschwerde oder zur Verstärkung einer Forderung verstanden wird, so scheint die Verwendung des Begriffes von der Form her durchaus naheliegend. Doch welche Mittel wurden gewählt, welche Ursachen lagen den Streiks zugrunde, und welche Forderungen wurden gestellt? Unterscheiden sich die Gesellenstreiks des 18. Jahrhunderts nicht deutlich von den Arbeitsniederlegungen der Industriegesellschaft?

Im 18. Jahrhundert war der Streik als Mittel des Arbeitskampfes im Handwerk - und dann auch in der Manufaktur - besonders in Gewerbestädten wie Nürnberg oder Augsburg durchaus keine Seltenheit. Für die deutschen Städte dieser Zeit sind allein mehr als 500, in England von 1717 bis 1800 fast 400 solcher Fälle bekannt.
Diese Arbeitsniederlegungen verliefen keineswegs gewalthaft, wie vielfach angenommen wurde, und es handelte sich dabei auch nicht um spontan-emotionalen Protest: Die Aktionen der Gesellen waren in der Regel gut vorbereitet und organisiert. Zu Gewalt kam es meist erst nach dem Eingreifen der Obrigkeit, wenn z. B. die Herberge vom Militär oder von der Stadtwache umstellt wurde oder man Gesellen verhaftete, wie beim "Breslauer Gesellenaufstand" von 1793. Die Gesellen suchten ihre Forderungen nach Möglichkeit in Phasen erhöhter Nachfrage durchzusetzen, sei es vor den Feiertagen, vor der Messe oder ansonsten bei hohem Bedarf an Arbeitskräften. Für die Organisation dieser Aktionen kam ihnen ihre Herbergskultur zugute. Auf der Herberge trafen sich die Gesellen regelmäßig zur "Auflage" oder zum "Gebot", und hierher zogen sie sich zur Beratung zurück. Die Arbeitsniederlegung wurde meist während einer Versammlung auf der Herberge bei offener Gesellenlade beschlossen, und oft entsandte die Obrigkeit - informiert durch die Meister - dann den Gerichtsdiener, der die Gesellen aufforderte, wieder an die Arbeit zu gehen und die Forderungen bzw. Klagen vor Gericht vorzubringen. In den größeren Gewerbestädten wurde danach vielfach vor den jeweiligen Handwerks- oder Gewerbegerichten oder einer Ratsdeputation verhandelt, in Nürnberg zum Beispiel vor dem "Rugsamt" oder in Bremen vor den "Morgensprachsherren".

Nicht zuletzt die Haltung der Obrigkeit bestimmte den weiteren Verlauf. Eskalierende Konflikte waren häufig von Umzügen der Gesellen durch die Stadt begleitet. Dort wo die Gesellen militärisches Eingreifen befürchteten, zogen sie in umliegende Dörfer oder Städte ab, zum Beispiel von Augsburg ins kurbayerische Friedberg, von Nürnberg nach Fürth und von Frankfurt am Main nach Offenbach. Durch die Mitnahme der Ladenschlüssel oder gar der Lade selbst wurde die Stadt "geschimpft". "Laufbriefe", die von wandernden Gesellen von Herberge zu Herberge transportiert wurden, erreichten in kürzester Zeit die Gesellenschaften des ganzen Reiches und bewirkten einen Boykott oder erbrachten finanzielle Unterstützung. Beim "Aufstand" der Augsburger Schuhknechte 1726 korrespondierten die Gesellen - wie an den abgefangenen Laufbriefen zu erkennen ist - nicht nur mit den Gesellenschaften in Frankfurt am Main, Darmstadt, Mannheim, Mainz und Heidelberg, sondern unter anderem auch mit Leipzig, Dresden, Berlin, Halle, Magdeburg, Braunschweig und Hannover, so daß die Meister befürchten mußten, der Boykott werde "unseren totalruin gar gewiß generieren".

Streiks konnten also von einigen Stunden bis hin zu mehreren Wochen dauern. Die Bremer Schuhmachergesellen legten 1736 drei Monate lang die Arbeit nieder, und die Augsburger "Schuhknechte" brachten es 1726 immerhin auf 14 Wochen. Dominant waren jedoch die kurzen Streiks, die ein bis zwei Tage dauerten und an denen sich die Gesellen eines Handwerks beteiligten. Zur Solidarisierung verschiedener Gesellenschaften kam es insbesondere, wenn ihre kooperative Autonomie bedroht war. Solche Konflikte konnten dann auch zu einem "Generalstreik" eskalieren. Von besonderer Intensität waren zum Beispiel der Streik der Hamburger Schlossergesellen 1791, der sich zu einem solchen Generalstreik ausweitete, oder auch der Streik der Breslauer Schneidergesellen 1793, dem sich die Tischler-, Schlosser- und Zimmergesellen anschlossen, und schließlich der von den Münchner Schlossergesellen 1796 ausgelöste Generalstreik. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kam es mehrfach zu gewerbeübergreifenden Aktionen, wobei hier weniger jakobinische Einflüsse zu vermuten sind als zunehmend obrigkeitliche Eingriffe in die Autonomie der Gesellenschaften bis hin zur Auflösung der Gesellenladen.
 
Unterschriftentondo streikender Bergleute in Clausthal, 1738
Unterschriftentondo streikender Bergleute in Clausthal, 1738.
[größeres Bild]




Brief an die Bruderschaft der Schuhknechte in Berlin, 1726

Brief an die Bruderschaft der Schuhknechte in Berlin, 1726.
[größeres Bild]




Fahndungsliste des Augsburger Magistrats, 1726

Fahndungsliste des Augsburger Magistrats, 1726.
[größeres Bild]




Kaiserliches Dekret, 1726

Kaiserliches Dekret, 1726.
[größeres Bild]
Link: zurück Link: weiter
zurück zur nächsten Seite dieses Beitrags