Deutsches
Historisches
Museum
Streikpostkarten in Frankreich und Deutschland
1884-1914
Friedhelm Boll, Seite 2 3 4 5
Streikpostkarten in Frankreich und Deutschland
1884-1914

Auch die Postkarte hat ihre Sozialgeschichte. Im Zeitalter der technisch vereinfachten Reproduzierbarkeit stellte die Bildpostkarte das Medium, mit dessen Hilfe das ehemals exklusive Kunstwerk seinen Weg aus den Salons reicher Leute in die Wohnstube auch des einfachen Volkes finden konnte. Aber nicht nur Kunstwerke, auch die Porträts der Herrschenden oder die der proletarischen Gegenelite wie August Bebel und Jean Jaurès gelangten via Postkarte in die Wohnzimmer und Sammelalben der Arbeiterschaft.1 Vom Siegeszug der Fotografie und vom Naturalismus eines Emile Zola oder Gerhard Hauptmann angesteckt, wandten sich vor allem französische Fotografen auch sozialen Themen zu. Selbst unwürdige Lebens- und schmutzigste Arbeitsverhältnisse wurden auf die Fotoplatte gebannt und als Postkarte vertrieben. "Die Schreie von Paris" hießen bezeichnenderweise einige der ersten Bilddokumentationen, die seit der großen Wirtschaftskrise der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts und verstärkt ab 1900 aufgelegt wurden.2 1906 war bereits ein besonderer, wenn nicht sogar der wichtigste Höhepunkt der Verbreitung illustrierter Post- oder Ansichtskarten erreicht. Keine Stadt, keine Brücke, keine Straße, die nicht abgelichtet und feilgeboten worden wäre. Auf etwa 600 Millionen Exemplare, das sind 15 pro Einwohner, schätzte man die Gesamtauflage allein der französischen Ansichtskarten im Jahr 1906.3 Darunter bildeten die Ansichtskarten sozialen Inhalts naturgemäß eine Minderheit; noch geringer war die Zahl der Streikpostkarten. Trotzdem sind diese Darstellungen außerordentlich wertvolle Dokumente der sozialen Konfliktgeschichte, Dokumente, die bis heute noch nicht wissenschaftlich ausgewertet wurden und anlässlich dieser Berliner Ausstellung zum ersten Mal in Deutschland gezeigt werden.

Die international größte Sammlung von Streikpostkarten, die Collection Georges Bossi, Paris, enthält etwa 450 Einzelstücke, davon betreffen allein 365 Karten französische Arbeitskämpfe des Zeitraums 1901- 1914.4 Die Zahl der für diese Ausstellung zusammengetragenen Streikpostkarten, die sich auf deutsche Arbeitskämpfe beziehen, dürften höchstens ein Zehntel der französischen ausmachen. Vergleicht man die Gruppe der künstlerisch gestalteten Mai-Festpostkarten beider Länder, so kehrt sich das Verhältnis um: Der größte Teil der deutschen Arbeiterbewegungspostkarten entfällt zweifelsohne auf die bekannten Erste-Mai-Darstellungen.5
Diese quantitativen Unterschiede finden sich auch in der illustrierten Presse. Während die führende französische Illustrierte der Zeit, L'Illustration, zwischen 1900 und 1910 rund 111 Holzstiche und Bilder zum Thema Streik veröffentlichte6, brachte die vergleichbare Leipziger Illustrirte Zeitung nur eine Handvoll derartiger Darstellungen, von denen sich die Mehrzahl zudem auf ausländische Arbeitskämpfe bezog. Die genannten Unterschiede lassen sich ergänzen durch Erfahrungen der Postkartenhistoriker. Der Münchener Sammler Karl Stehle, der vermutlich die größte Zahl deutscher Streikpostkarten zusammengetragen hat, bezieht sich auf eine unter seinen Kollegen weitverbreitete Meinung und berichtet, dass rund 90 % der Postkarten zur französischen Arbeiterbewegung dokumentarischen Charakter hätten (überwiegend Fotografien) und aus einer Vielzahl von Verlagen zum Teil auch von lokalen Fotografen stammten. Deutsche Arbeiterbewegungspostkarten hingegen hätten fast durchweg einen allegorischen Inhalt oder eine künstlerisch gestaltete Form. Sie wurden überwiegend von Künstlern aus dem Umkreis der Sozialdemokratie geschaffen und von Arbeiterbewegungsverlagen publiziert.7 Erst mit dem Ersten Weltkrieg haben sich diese Unterschiede angeglichen.
Darstellungen zur politischen Satire sind hier nur in Einzelfällen berücksichtigt. Sie bilden eine eigene, in beiden Ländern gern benutzte Stil- und politische Kampfform, die an die Fülle der dokumentarischen Bildberichterstattung über Arbeitskämpfe in Frankreich jedoch nicht heranreicht.

Was sagen die erwähnten Unterschiede über die beiden Arbeiterbewegungen aus? Wir wollen der Frage nachgehen in der Absicht, durch die Beschäftigung mit der Geschichte des anderen Landes die eigene Geschichte besser kennen zu lernen. Danach wird sich zeigen, dass zwar vieles im Bereich der politischen Institutionen und Organisationen sehr verschieden war. Nimmt man jedoch das Selbstverständnis der Arbeiterschaft, ihren Stolz, die Erfahrung des gemeinsamen Kampfes und die darin gewonnene Erkenntnis der gemeinsamen Lage in den Blick, so gleichen sich die Verhältnisse diesseits und jenseits des Rheins wieder stark. Insofern können auch die französischen Streikposten Auskunft geben über die Innensicht des Streiks, über Streikpsychologie und generell über die Arbeitersicht dieses so spektakulären Kampfmittels.


Die Streikdarstellungen der illustrierten Presse

Als es um 1900 üblich wurde, von größeren Arbeitskämpfen Postkarten anzufertigen, hatte der Streik bereits ein festumrissenes Image. Deutsche, vor allem aber französische und gelegentlich auch englische Illustrierte hatten zuerst mit Gravuren und Karikaturen, später mittels fotografischer Aufnahmen über dieses immer beliebtere, immer öfter angewandte Kampfinstrument der Arbeiterschaft berichtet. Wie bei anderen, besonders häufigen Bildberichten, z. B. über Naturkatastrophen, Eisenbahnunfälle, Staatsbesuche, Einweihungen neuer Gebäude oder Schiffstaufen, dominierte auch beim Arbeitskampf das Spektakuläre des Ereignisses. Die großen Arbeitskämpfe der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts waren bereits Medienereignisse für die schreibende wie für die bildnerische Zunft. Allerdings eilte in dieser Hinsicht die Medienöffentlichkeit in Frankreich und ab 1886 auch in den USA der Entwicklung in Deutschland und England voraus.


Die europäische Klassenkampfwelle von 1889-93

Für die schreibende Zunft änderte sich dies schlagartig mit dem 1888 einsetzenden Konjunkturaufschwung, der den entscheidenden Anstoß zum großen Bergarbeiterausstand von 1889 gab und der in der allgemeinen Aufbruchstimmung der erstmaligen Feier des 1. Mai 1890 noch spürbar war. Es verging vor allem während der Frühjahrsmonate kaum ein Tag, an dem nicht auch in Deutschland über neue "Strikes" zu berichten gewesen wäre. Die bürgerliche wie die Arbeiterpresse musste während der Monate April bis Juni ihren Blattumfang allein wegen der Streikberichte regelmäßig um eine oder zwei Seiten erweitern.8
Während es in den voran gegangenen Jahren seit etwa 1875 weitgehend ruhig geblieben war, traten Streiks ab Mitte der achtziger Jahre auch in deutschen Industriestädten wieder verstärkt auf. Ab 1888 jedoch sprach man von einer regelrechten Streikepidemie, von "Streikfieber" oder von "complottmäßigen Arbeitseinstellungen". Auf Grund des weltweiten, rapiden Konjunkturanstiegs, der die jahrelange sogenannte Große Depression zu beenden schien, entwickelte sich ab 1888 also eine in ihren Ausmaßen bisher unbekannte Streikwelle. Auch die bürgerliche, vor allem die Wirtschaftspresse nahm regen Anteil an dieser Entwicklung, weil sie die Streiks als "Barometer für die Prosperität" betrachtete. Außerdem schlugen größere Arbeitskämpfe unmittelbar auf die Börsenkurse durch. Schließlich spekulierte man, ob nicht irgendwo "ein internationales Komitee bestände, das die Fäden in der Hand hält" (Baugewerks-Zeitung, 27. Februar 1889). In der von der Frühjahrskonjunktur besonders abhängigen Bauwirtschaft hieß es, "in fast allen großen Städten Norddeutschlands [...], in Italien, wo Rom, Neapel und Mailand in die Aktion getreten sind mit dem Feldgeschrei 'Anarchismus, Atheismus und Kommunismus', in Frankreich, wo es hauptsächlich Paris ist, in Belgien bereiten sich große Arbeitseinstellungen vor. Ihren Mittelpunkt scheint die Bewegung in der Schweiz zu haben, denn von dort aus gelangen sozialdemokratische Flugblätter und Zeitungen in die ganze Welt."

Gegenüber vorangegangenen Phasen intensiver Streiktätigkeit wie 1848 oder während der Gründerjahre vor und nach dem deutsch-französischen Krieg hatten sich um 1890 zwei Dinge grundlegend geändert: die internationale Ausbreitung des Streiks als dem bevorzugten Kampfinstrument der Arbeiterschaft und damit die weitgehende Ablösung des Aufstands durch den Streik. Die kollektive Arbeitsniederlegung war zu einer fast alltäglichen Begleiterscheinung der Industriewirtschaft geworden, ohne dass dies zu ständigen Revolten oder gar Revolutionen geführt hätte. Auch wenn gerade in Frankreich eine vielfältige Revolutionsmetaphorik in den Liedern und Slogans der Streikenden Verwendung fand, die Praxis des Arbeitskampfes verband sich mit Begriffen wie "Lohnbewegung", "Tarifstreit", "Minimallohn" oder mit der Forderung nach einem "gleichmäßigen Lohnsatz", der "schriftlich auf ein Jahr zu bewilligen sei". Diese Veränderungen spiegelten sich in der illustrierten Presse nur zu einem geringen Teil.
Das Symbol der Zeit war nun nicht mehr die Barrikade der revoltierenden Bürger, sondern der Massenauflauf der streikenden Proletarier. Auch die Orte der Ereignisse hatten sich geändert: Waren früher die politischen Hauptstädte Zentren der Bewegung, so kamen nun die industriellen Ballungsgebiete und zum Teil selbst fast unbekannte Industriedörfer in die Schlagzeilen. Dafür ist das Bild Der Streik von Robert Koehler ein guter Beleg: Die isolierte Industrieanlage auf freiem Feld, umgeben allenfalls von Arbeitersiedlungen, wird zum Kristallisationskern der neuen sozialen Protestbewegung. Auf diese Weise haben in Frankreich auch umfangreiche Bildberichte über Berg- und Textilarbeiterstreiks das Bild des Arbeiters dieser Zeit nachhaltig geprägt. Von den größeren Streikberichten in der Illustration zwischen 1881 und 1891 entfielen allein sieben auf Bergarbeiterausstände, je zwei auf Streiks von Textilarbeitern und -arbeiterinnen und Erdarbeitern, sowie je einer auf solche von Kutschern, Kellnern, Eisenbahnern und Glasbläsern. Nicht mehr das Pariser Volk (Handwerker, Kleingewerbetreibende) aus der Zeit der Commune (1870/71), sondern der Proletarier aus den Kohlegruben, die Proletarierin der Textilfabriken wurden zum Symbol der sozialen Kämpfe.
 
Fenstersturz des Ingenieurs Watrin,
                Décazeville 1884
Fenstersturz des Betriebsingenieurs Watrin, Décazeville 1884.
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Soldaten schießen in die Menge, Fourmies
                1891

Soldaten schießen in die Menge, Fourmies 1891.
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Streik der Eisenbahner in
                Nordfrankreich

Streik der Eisenbahner in Nordfrankreich.
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Soldaten im Gare Saint-Lazare

Soldaten im
Gare Saint-Lazare.
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Streik der Stuttgarter Straßenbahner,
                1902

Streik der Stuttgarter Straßenbahner, 1902.
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Streikende Kellner in Paris, 1888

Streikende Kellner
in Paris, 1888.
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Armenspeisung in St. Quentin, 1911

Armenspeisung in
St. Quentin, 1911.
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Bergarbeiter in Décazeville, 1884

Bergarbeiter in Décazeville, 1884.
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Glasbläser und ihre Kinder, 1891

Glasbläser und ihre Kinder, 1891.
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Wohnung eines Knopfdreherehepaares in Paris,
                1886

Arbeiterwohnung in La Villette, Paris 1886.
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Verkehrsstreik in Berlin

Verkehrsstreik in Berlin.
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Zehnstundentagkämpferinnen in Crimmitschau,
                1904

Zehnstundentag-
kämpferinnen in Crimmitschau, 1904.
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Streikende Schuharbeiterinnen, Fougères 1906

Streikende Schuharbeiterinnen in Fougères, 1906.
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