Deutsches
Historisches
Museum
Warum und wofür im
19. Jahrhundert gestreikt wurde
Lothar Machtan, Seite 2 3 4 5
Warum und wofür im 19. Jahrhundert gestreikt wurde

Die soziale Welt der Arbeiter im 19. Jahrhundert wäre höchst unvollständig beschrieben, wollte man nicht auf eine Lebensäußerung hinweisen, die sich wie ein roter Faden durch ihre Geschichte zieht: den Willen und die Fähigkeit zum gemeinsamen Widerstand gegenüber den Zumutungen fremdbestimmter Arbeits- und Lebensverhältnisse und auch dazu, für selbstbestimmte Interessen beherzt in die Schranken zu treten. Schon in der ersten Industrialisierungsphase erhoben Tausende Anspruch auf dieses "natürliche" Widerstands- und Verweigerungsrecht, zwischen Jahrhundertwende und dem Ende des Ersten Weltkriegs waren es bereits Millionen. All dies ungeachtet der Tatsache, dass Deutschland bis zum Zusammenbruch des Kaiserreichs ein wirkliches Streikrecht nicht kannte und dass die Gewerkschaften als legitime Vertretung der Arbeiterschaft nicht anerkannt waren. Zwar gab es seit 1869 kein Koalitionsverbot mehr, aber die obrigkeitsstaatlichen Ordnungshüter bemühten sich eifrig, diesen Zugewinn an Bewegungsfreiheit den Arbeitern möglichst zu verleiden. Was sich politisch trotz vielfältiger Anstrengungen nicht durchsetzen ließ, nämlich eine generelle Einschränkung der endlich errungenen Koalitionsfreiheit per Gesetz, das vollzog sich in Preußen-Deutschland ein Stück weit mit polizeilichen Mitteln. Das Streiken wurde so für viele Beteiligte zu einem Balance-Akt, hart am Rande der Legalität. Auch in anderer Hinsicht barg es für die Teilnehmer hohe Risiken. Große Entbehrungen mussten selbst in den Fällen in Kauf genommen werden, in denen Unterstützungsgelder den Verdienstausfall eben zu überleben halfen; ohne Schulden und Pfandhaus waren längere Ausstände für die Masse der Arbeiter auch dann nicht durchzustehen, wenn die Möglichkeit zu Gelegenheitsarbeiten bestand. Zu dieser Not gesellte sich die Sorge um den Erhalt des Arbeitsplatzes, der durch Streiks notgedrungen aufs Spiel gesetzt werden musste. Schließlich dürfen auch die streikinternen Reibungszonen nicht übergangen werden: wie viele Familienzwistigkeiten mögen Arbeitseinstellungen heraufbeschworen haben? Wie viele Freundschaften und Bekanntschaften werden an den Herausforderungen einer solidarischen Massenaktion zerbrochen, wie viel Hass und Niedertracht durch Uneinigkeit und Kleinmut gesät worden sein?
Aber das war nur die eine Seite. Wer so viele Risiken und Unwägbarkeiten in Kauf zu nehmen bereit war - und das waren zur Reichsgründungszeit schon einige Hunderttausend -, dem sind Mut, Entschlusskraft und Behauptungswillen wohl nicht abzusprechen. Und wer - wie sich im Betrachtungszeitraum immer wieder beobachten lässt - den Ausstand als Fest mit Umzügen, Bier und Musik, oft im Sonntagsanzug begehen zu dürfen glaubt, der verleiht diesem Handeln die Weihe einer "feierlichen" Willenskundgebung, die auch in moralischer Hinsicht einen tieferen Sinn gehabt haben muss. Zeitgenössische Gedichte und Lieder legen davon ein beredtes Zeugnis ab.
Der Streikkampf war in der Tat über Jahrzehnte hinweg eine lebensgeschichtlich zentrale Erfahrung der Arbeiter, die deren gesellschaftliches und politisches Bewusstsein nachhaltig prägte. Zwar gab es auch im Zeitalter der Industrialisierung noch Arbeiter en masse, die das Streiken nur vom Hörensagen kannten, aber mittelbar wurde auch für diese die Aktion des Arbeitskampfs zu einem Emanzipationssymbol. Die mit ihm verknüpften Hoffnungen auf eine Verbesserung der Arbeits- und Daseinsbedingungen setzten jedenfalls allenthalben Kräfte frei, die halfen, Selbstwertgefühle zu entwickeln, Grundlagen für interessenverbundene Solidarität zu schaffen und diese dann organisatorisch zu verstetigen. Diese Kräfte wurzelten in gemeinsamen Erfahrungen des Arbeitens und Lebens und insbesondere in der Überzeugung, dass den "Arbeitsbienen" seitens der "Drohnen" etwas vorenthalten werde, auf das die ersteren berechtigte Ansprüche hätten - schon allein auf Grund der großen Anstrengungen und der Mühsal, unter denen sie ihr Dasein zu fristen hatten. Genauer betrachtet, handelt es sich bei den Streikbewegungen allerdings um einen höchst widerspruchsvollen Entwicklungs- und Erfahrungsprozess, der als historischer Lernprozess im Grunde bis heute nicht abgeschlossen ist und deshalb auch keine abschließende Wertung über "Sieger" und "Verlierer" zulässt. Auf Seiten der Arbeiter wechselten Erfolge, Selbständigkeit und Erkenntniszuwachs mit Niederlagen, enttäuschten Erwartungen, Entmutigung und Unterdrückung. Und den gewerkschaftlichen Bemühungen um eine Rationalisierung und Versachlichung der Konfliktregulierung gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist es nur zum Teil gelungen, dem Streik sein rebellisches Flair und jene Unberechenbarkeit zu nehmen, die Besitzbürgertum und Ordnungskräften noch stets Furcht eingeflößt und wiederholt bestimmt hat, die sozialpolitische Tauglichkeit des Arbeitskampfes grundsätzlich zu bezweifeln. Einige Streiflichter aus der deutschen Streikgeschichte mögen verdeutlichen, wovon hier die Rede ist.

Der Streik im modernen Sinne des Wortes - als gemeinsame Arbeitsniederlegung (lohn-)abhängiger Erwerbsgruppen zur Durchsetzung von Forderungen nach einer Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen - ist eigentlich eine "Erfindung" der Handwerksgesellen aus vor- bzw. protoindustriellen Zeiten. Bereits die Gesellenstreiks des 18. und frühen 19. Jahrhunderts weisen einen Großteil jener Verhaltensmuster und Handlungselemente auf, ohne deren Ausprägung Arbeitskämpfe ohnmächtige Proteste geblieben wären. Zu nennen sind die Meinungsklärung über die konkreten Ziele einer Streikaktion, die an Konjunktur und Jahreszeit orientierte Planung und organisatorische Vorbereitung einer Arbeitsniederlegung, die Koordination und Leitung von Massenaktionen, die Ersinnung von Mitteln zur wirksamen Bekämpfung von Streikbruch, die Anlage eines Fonds zur Unterstützung der Verdienstlosen und vieles andere mehr. Der feste Glaube an die letztendliche Rechtmäßigkeit auch solcher Akte der Selbsthilfe, die leicht in Widerspruch zur vorgegebenen Ordnung geraten konnten, war schon damals als Rückversicherung ebenso unverzichtbar wie das Einfordern dessen, was die Gesellen eine "achtungsgebietende Stellung" gegenüber Prinzipal und Meister nannten und was später dann "Ehre" hieß. All diese Grundelemente eines erfolgsträchtigen Interessenkampfs sind also keine naturwüchsigen Begleiterscheinungen der Konfliktaustragung unter den Bedingungen des industriellen Kapitalismus, sondern waren bereits mehr oder minder ausgeprägt, als letzterer noch in seinen Kinderschuhen steckte. Es traten lediglich neue Erfahrungsmomente hinzu, die das Verhaltensrepertoire streikender Arbeiter erweiterten und gewisse Veränderungen hergebrachter Protest- und Widerstandsmuster bewirkten. Die Fabrikarbeiter hatten im Umgang mit den Verhaltenszumutungen einer neuen und ungewohnten Organisation des Produktionsablaufs Lernprozesse zu vollziehen. Ihre Forderungen änderten sich, die Kampfformen blieben weithin die hergebrachten - anschaulich zu studieren in den Revolutionsjahren 1848/49, als Deutschlands Wirtschaft von einer ersten Welle von Arbeitsniederlegungen erfasst wurde, die allerdings in der Regel sehr harmlos verliefen und noch keine gesellschaftliche Breitenwirkung entfalteten: Mindestlohn, Extrabezahlung bzw. Einschränkung der Überstundenarbeit, zehnstündiger Normalarbeitstag, Arbeitsausschüsse und regelmäßige Betriebsversammlungen, so lauteten etwa die zentralen Forderungen, die die Berliner Maschinenbauer im März 1848 ihren Arbeitgebern "zur gefälligen Beachtung" unterbreiteten. Doch obwohl dieses Interessenprogramm viel Konfliktstoff in sich barg, da es an prinzipielle Fragen der neustrukturierten Arbeitsbeziehungen rührte, hat es eine größere Streikauseinandersetzung nicht heraufbeschworen. Borsigs Appell an seine Arbeiter, "ein[zu]sehen, daß nur durch beiderseitiges kräftiges Zusammenwirken die Ordnung der Dinge wiederhergestellt werden kann", traf nicht auf taube Ohren, nachdem er und andere Fabrikanten ihre Bereitschaft zu Lohnerhöhungen zu verstehen gegeben und in der Arbeitszeitfrage die Grenze bei 11 Stunden täglich zu setzen versprochen hatten. Am Tag der Verkündigung dieser Konzessionen feierten Arbeiter und Fabrikanten die Beendigung des Konflikts bei einem gemeinsamen Festessen, zu dem die Unternehmer eingeladen hatten. Die Maschinenbauer revanchierten sich und zogen mit klingendem Spiel und Hochrufen auf ihre Arbeitgeber in einem mehrtausendköpfigen Umzug durch das Brandenburger Tor.1

Rund 20 Jahre später gewann das Streikgeschehen in Deutschland dann eine ganz neue Dimension. Zwar hatte selbst die reaktionäre Vereins-, Straf- und Koalitionsgesetzgebung der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts es nicht vermocht, Streikkämpfe gänzlich zu unterbinden - 1858/59 gab es sogar wieder annähernd so viele Arbeitseinstellungen wie 1848/49 -, aber die Größenordnungen von Streikhäufigkeit, -beteiligung und -dauer veränderten sich nun schlagartig und tiefgreifend. Zwischen 1869 und 1874 wurde in Deutschland so viel und so intensiv gestreikt wie niemals zuvor. Mit über 1250 Arbeitskämpfen, an denen insgesamt wohl 200 000 bis 300 000 Ausständige beteiligt waren, erreichte die Streikfrequenz damals eine Höhe, die man bislang erst in Großbritannien, dem Mutterland des Industriekapitalismus, hatte beobachten können. Die Konfliktfreudigkeit der deutschen Arbeiter war umso erstaunlicher, als ihnen für die Durchführung ihrer Aktionen noch keineswegs jener gewerkschaftsorganisatorische Rückhalt zu Gebote stand, auf den sich etwa die englischen Arbeiter damals schon stützen konnten. Kampfstarke Berufsvereine existierten nur ausnahmsweise, als die Streikwelle mit elementarer Kraft das Erwerbsleben des in Gründung begriffenen Reichs erfasste. Und doch erreichte die Springflut dieser Welle nahezu alle Berufsgruppen der gewerblichen Wirtschaft und nahezu flächendeckend einige 100 Orte in ganz Mitteleuropa. Überall gingen die Arbeiter jetzt daran, konkrete Ansprüche und Interessen auf einem Wege einzuklagen, der die Bahnen der Bittstellerei verließ und in relativ selbstbewusste und zielgerichtete Demonstrationen gemeinsamer Willensstärke einmündete. Sicherlich wurde der Streikelan stimuliert durch die enorme Wirtschaftskonjunktur jener Zeit, durch den Zuwachs an legalen Handlungsmöglichkeiten, den 1869 endlich die Aufhebung der Koalitionsverbote bescherte, und nicht zuletzt durch die organisatorischen und propagandistischen Hilfeleistungen, die sozialistische, christlich-soziale und linksliberale Organisationen den "Arbeiterbewegungen" mehr oder minder uneigennützig andienten. In der Hauptsache aber blieb die Streikwelle eine massive Äußerung emanzipatorischer Entschlossenheit auf der Basis einer von den Arbeitern im wesentlichen selbst entwickelten Konfliktfähigkeit. Sie fand ihren beredtsten Ausdruck in der sprunghaft gewachsenen Bereitschaft, für die Verwirklichung neunormierter Ansprüche auch die Nöte einer schließlich selbst zu verantwortenden Mittellosigkeit in Kauf zu nehmen - was die bürgerliche Öffentlichkeit damals nicht schlecht in Erstaunen versetzte. Die vielen Wagnisse mehrwöchiger Massenstreiks mit einigen tausend Teilnehmern, die in den Gründerjahren Furore machten, sorgten im Verein mit all den ungezählten kleineren Arbeitskonflikten dafür, dass das Innenleben der (industriellen) Arbeitswelt nunmehr in das Blickfeld der Öffentlichkeit geriet und - darin blieb: Die Berliner und Hamburger Bauhandwerkerstreiks, die Bergarbeiterstreiks in Waldenburg, Königshütte und im Ruhrgebiet, die Metallarbeiterbewegungen von Chemnitz und Berlin, der Werftarbeiterstreik in Danzig sowie schließlich der nationale Arbeitskampf im Druckgewerbe waren in den Gründerjahren viel und ausgiebig diskutierte Tagesthemen.2 Sie machten es fortan unmöglich, die zugrundeliegenden Konfliktursachen einfach beiseite zu schieben.
Für die beteiligten Arbeiter wurden die Streiks zu dem Mittel eigenständiger Interessenfindung und der Interessenwahrung. Im Wege der gemeinsamen Festsetzung konkreter Lebensbedürfnisse und -ansprüche wurden die Fundamente für Interessenverbundenheit geschaffen, die dann im Streik ihre Probe aufs Exempel zu bestehen hatten. Das Selbstvertrauen der streikenden Arbeiter gründete hauptsächlich in sozialmoralischen Gerechtigkeits- vorstellungen und Humanitätsgedanken, in der Wertschätzung der eigenen produktiven Fähigkeiten sowie in (zum Teil handwerklich geprägten) Ehrbegriffen. Getragen wurde es vielfach von dem festen Glauben, "daß guter Wille, Gerechtigkeit und Menschenliebe unsere Forderungen sehr wohl zu erfüllen vermögen".3
 
Der Unzufriedene, Ludwig Knaus 1877
Der Unzufriedene,
Ludwig Knaus 1877.
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Maschinensaal der Firma Richard Hartmann, um 1868

Maschinensaal der Firma Richard Hartmann in Chemnitz, um 1868.
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Arbeiter in der Hartmannschen Maschinenfabrik, um 1900

Arbeiter in der Hartmannschen Maschinenfabrik, um 1900.
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Zehnstundentagkämpfer aus Crimmitschau, Januar 1904

Zehnstundentagkämpfer aus Crimmitschau,
Januar 1904.
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Quittungs-Karte zum Streik-Fonds der Maurer, Berlin 1900

Quittungs-Karte zum Streik-Fonds der Maurer, Berlin 1900.
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