Deutsches
Historisches
Museum
Der Kampf um das tägliche Brot -
Nahrungsmittelproteste im 19. Jahrhundert
Manfred Gailus, Seite 1 3 4
Der untersuchende Beamte betont in seinem Bericht, dass von einem eigentlichen Tumult nicht die Rede sein könne. Gewalttätigkeiten seien nicht vorgekommen. Die Leute hätten einzig aus Mangel und Armut heraus gehandelt. Erst bei seiner Untersuchung habe er erfahren, dass eine zur Vernehmung vorgeladene Tagelöhnerfrau durch die Prügelstrafe lebensgefährliche Verletzungen davongetragen habe und seither bettlägerig sei. Um die Handlungsmotive zu verdeutlichen, teilte er einige Lebensumstände der Leute mit. Eichhof sei eine Dorfgemeinde von ca. 810 Einwohnern, die teils aus Büdner-, teils aus Einliegerfamilien bestehe. Acker besäßen diese Leute zum größten Teil überhaupt nicht. Nur einige Büdner verfügten über ein paar Morgen schlechten Sandbodens als Gärten. Teils in diesen Gärten, teils auf gepachteten Landstücken in benachbarten Ortschaften, hätten die Leute in früheren Jahren Kartoffeln angepflanzt. Sie seien seit langer Zeit nahezu ausschließlich auf Kartoffeln als Nahrungsmittel angewiesen. Bei der schlechten Ernte 1846 hätten sie "kaum durchschnittlich das 3te Korn gewonnen" und von dieser reduzierten Ernte sei mindestens noch ein Drittel verfault. Überdies seien die Leute ohne Arbeit. Ihre Gesichter zeigten, "daß ihnen Hunger und Noth tief in das Mark des Lebens geschnitten hat". Für eine neue Kartoffelaussaat hätten sie die Mittel nicht aufbringen können. Viele seien in Lethargie verfallen. Einige hätten das letzte Geld, das sie erübrigen konnten, dazu verwandt, den Dünger von ihren Höfen auf die Äcker der Nachbarorte abfahren zu lassen, in der Hoffnung, dort Kartoffeln pflanzen zu können. Aber jetzt fehle es ihnen an Saat. Auf die Mitteilung, dass durch die Regierung erhebliche Summen angewiesen worden seien, um ihnen Saatkartoffeln für einen sehr geringen Preis zu überlassen, erwiderten sie, dass sie inzwischen nichts mehr besäßen und nicht imstande wären, auch nur den geringsten Preis zu zahlen.
Abschließend betonte der Beamte, wie dringlich Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wären, bei denen die Leute einen Lohn erhielten, der den Preisen der notwendigsten Lebensmittel angemessen sei. Das allerwichtigste wäre, dass die Leute die Erfahrung machten, dass sie "ihrem eigenen Fleiße ihre Subsistenzmittel zu verdanken hätten". Das Bewusstsein, nicht durch eigene Kraft in einen besseren Zustand gekommen zu sein, würde sie womöglich noch mehr "erschlaffen" lassen.
Die geschilderten Vorgänge werfen Licht auf die prekären Lebensbedingungen agrarischer Unterschichten im vormärzlichen Preußen. Vielfach nahmen sie ihre elende Lage still hin. Nur in Ausnahmefällen zogen sie die Aufmerksamkeit der Behörden oder der Öffentlichkeit auf sich. In diesem Sozialmilieu waren die Übergänge zwischen Formen der Sozialkriminalität und kollektivem Protest fließend. Man wird ohne Übertreibung feststellen können, dass für viele Familien das kleine Eigentumsdelikt (Mundraub, Holzdiebstahl) zu den unverzichtbaren Bestandteilen einer dürftigen Überlebensökonomie gehörte. Kollektive Nahrungsstreifzüge oder Hungermärsche, zumeist am hellen Tag ausgeführt, waren in den Agrarregionen östlich der Elbe verbreitet, nicht nur im Hungerjahr 1847, sondern ebenso während der Revolution von 1848/49. In Ost- und Westpreußen machten sie 1847 sechs von 19 Aktionen aus. Hervorzuheben als Leitprotest für eine gesamte Region ist der Marsch mehrerer hundert "Losleute" (freier Landarbeiter) aus einigen Ortschaften nach Marienwerder, wo sie unter den Augen des machtlosen Regierungspräsidenten den Getreidespeicher eines Großhändlers ausräumten, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen.9 In der preußischen Provinz Posen wurden mindestens sieben von 31 Unruhen völlig oder teilweise durch agrarische Unterschichten bestimmt.10 In Schlesien häuften sich ähnliche Beutezüge vor allem in den ärmlichen Gebirgsregionen um Glatz.11
Es waren freie Landarbeiter, agrarische Kleinstbesitzer und Handwerker der ländlichen Hausindustrien mitsamt ihren Familienangehörigen, die sich zu direkten und zweifellos hungergeleiteten kollektiven Zugriffen auf das entbehrte Minimum an Nahrung zusammenfanden. Diese Gruppen waren während der Krise im allgemeinen schlechter gestellt als gutsherrschaftlich gebundene Dienstleute, die sich an ihrem Gutsherrn halten, oder städtische Unterschichten, die ein - mehr oder minder effektives - kommunales Armenwesen in Anspruch nehmen konnten. Gerade in den ausgedehnten ländlichen Distrikten machte sich in der gesellschaftlichen Übergangszeit das Fehlen einer wirksamen sozialpolitischen Infrastruktur bemerkbar. Gutsbesitzer, wohlhabende Landwirte, Provinzial- und Staatsbehörden stritten untereinander und gegeneinander hinsichtlich der sozialen Verantwortung. Wirksame staatliche Hilfe, etwa Nahrungsmittelbeihilfen oder Arbeitsbeschaffung setzte häufig erst ein, nachdem Betroffene durch eigenes Handeln auf ihre schwierige Lage aufmerksam gemacht hatten.

"Moralische Ökonomie" in der Kleinstadt
Ungewöhnlich hohe Preisforderungen für Butter, Eier, Kartoffeln und Getreide auf dem Wochenmarkt von Schwiebus, einer knapp 5000 Einwohner zählenden Tuchmacherstadt (Provinz Brandenburg, nahe der schlesischen Grenze) am 24. April1847 hatten heftige Dispute zwischen Kaufwilligen und Verkäufern zur Folge, die bald in Handgreiflichkeiten übergingen.12 Mehreren Bauern wurden die Kartoffelsäcke vom Wagen gestoßen und ausgeschüttet. Fluchtartig verließen Bauern und Markthöker mit ihrer Ware den Marktplatz. Alles dies geschah unter den Augen der Ortsobrigkeit. Zwei Rebellen, die sich besonders hervortaten, wurden festgenommen und im Rathaus eingesperrt. Unterdessen wuchs die Menschenmenge auf 500 und mehr Personen an. Um die Mittagszeit formierten sich aus dieser auf dem Marktplatz versammelten Menge mehrere kollektive Nahrungszüge. Was zu früheren Krisenzeiten die Obrigkeit selbst unternahm, führten sie jetzt in eigener Regie durch: die Inspektion der noch vorhandenen Nahrungsvorräte in der Stadt und der näheren Umgebung. Mindestens acht verschiedene Orte bzw. Anwesen wurden aufgesucht. Der erste Zug marschierte zum außerhalb der Stadt gelegenen Gutshof Burglehne. Man erreichte vom Gutsbesitzer das Versprechen, auf dem nächsten Wochenmarkt einen größeren Kartoffelvorrat zu einem vereinbarten, günstigen Preis anzubieten. Bei einem Gastwirt entdeckte man Roggenvorräte eines Mühlenbesitzers. Die Getreidesäcke wurden in Beschlag genommen, größtenteils zum Rathaus getragen und dort aufgestellt. Auch hierin ist eine Stellvertreterhandlung für die während der Notzeit offenbar untätige Ortsobrigkeit zu erkennen. Unter duldender Aufsicht dieser Obrigkeit, deren Polizeikräfte viel zu gering waren, um das Treiben zu verhindern, kam es nun zum Zwangsverkauf des Getreides zu einem von der Volksmenge für "gerecht" erachteten Preis. Viele Stadtbewohner machten von dieser Gelegenheit Gebrauch. Das Geld der Verkaufsaktion erhielten der Bürgermeister oder andere kommunale Funktionsträger.
Im Kern handelte es sich bei dieser Revolte um einen Weberaufstand in einer traditionsreichen Tuchmacherstadt. Etwa jeder fünfte Einwohner der Kleinstadt hatte sich aktiv an den Ereignissen beteiligt. Die meisten der 86 später Verurteilten entstammten den Textilgewerben, an führender Stelle waren verheiratete Webergesellen im mittleren Lebensalter vertreten. Der in der Weberstadt extrem hohe Anteil gewerblich Beschäftigter, die sämtlich von Lebensmittelmärkten abhängig waren, sowie die Existenz einer ungewöhnlich umfangreichen und homogenen Gruppe innerhalb des Gewerbes bewirkten die kommunale Reichweite sowie den außergewöhnlich disziplinierten Charakter dieser Hungerrevolte. Gemeinsamkeiten der handwerklichen Arbeitskultur, verhaltensprägende Gesellentraditionen und schließlich die vielfach geteilten Erfahrungen der vormärzlichen Handweberexistenz, deren Gewerbe sich seit Jahrzehnten im Niedergang befand - alles dies verlieh der Selbsthilfeaktion eine beeindruckend breite soziale Basis und Durchschlagskraft.
Verglichen mit anderen Varianten von Hungerunruhen können die Schwiebusser Ereignisse als Musterfall einer Aktion gelten, die von den traditionellen Ordnungsvorstellungen einer "moralischen Ökonomie" geprägt war. Wie der englische Sozialhistoriker Edward P. Thompson am Beispiel englischer "food riots" des 18. Jahrhunderts demonstrierte, waren die handlungsleitenden Motive der Aufständischen häufig durch einen von Obrigkeiten und Volk weithin geteilten Konsens darüber bestimmt, welche Praktiken auf den Märkten, bei Getreidehändlern, in der Mühle, bei Bäckern, Schlachtern und anderen als legitim bzw. illegitim zu gelten hätten. Zu den Grundsätzen dieser "moralischen Ökonomie" gehörte beispielsweise die Auffassung, dass in Notzeiten sämtliche Nahrungsvorräte eines Ortes oder einer Region den Konsumbedürfnissen der Einheimischen zu erschwinglichen Preisen vorbehalten bleiben müssten. Im 18. Jahrhundert hatten Obrigkeiten zu Krisenzeiten entsprechend gehandelt und erfüllten damit weitgehend die Erwartungen ihrer Untertanen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde diese traditionelle Versorgungsökonomie zunehmend durch liberale, marktwirtschaftliche Wirtschaftspraktiken verdrängt. Hüter der Tradition blieben in Schwiebus wie andernorts die rebellierenden Volksmassen. Sie setzten sich an die Stelle der säumigen Obrigkeit und führten in einer Art Stellvertreteraktion diejenigen Maßnahmen durch, die seit jeher in Notzeiten als recht und billig gegolten hatten.
 
Bilderbogen zur Erinnerung an das Hungerjahr 1847
Bilderbogen zur Erinnerung an das Hungerjahr 1847.
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Lackdose mit Wuchermotiv, 1772

Lackdose mit Wuchermotiv, 1772.
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Der Brotkrawall bei der Langmühle, 1847

Der Brotkrawall bei der Langmühle, 1847.
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Der Wucherer Glück und Ende, um 1816/17

Der Wucherer Glück und Ende, um 1816/17.
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