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                Der untersuchende Beamte betont in seinem Bericht, dass von einem
                eigentlichen Tumult nicht die Rede sein könne. Gewalttätigkeiten seien nicht
                vorgekommen. Die Leute hätten einzig aus Mangel und Armut heraus gehandelt.
                Erst bei seiner Untersuchung habe er erfahren, dass eine zur Vernehmung
                vorgeladene Tagelöhnerfrau durch die Prügelstrafe lebensgefährliche
                Verletzungen davongetragen habe und seither bettlägerig sei. Um die
                Handlungsmotive zu verdeutlichen, teilte er einige Lebensumstände der
                Leute mit. Eichhof sei eine Dorfgemeinde von ca. 810 Einwohnern, die teils
                aus Büdner-, teils aus Einliegerfamilien bestehe. Acker besäßen diese Leute
                zum größten Teil überhaupt nicht. Nur einige Büdner verfügten über ein paar
                Morgen schlechten Sandbodens als Gärten. Teils in diesen Gärten, teils auf
                gepachteten Landstücken in benachbarten Ortschaften, hätten die Leute in
                früheren Jahren Kartoffeln angepflanzt. Sie seien seit langer Zeit nahezu
                ausschließlich auf Kartoffeln als Nahrungsmittel angewiesen. Bei der
                schlechten Ernte 1846 hätten sie "kaum durchschnittlich das 3te Korn
                gewonnen" und von dieser reduzierten Ernte sei mindestens noch ein
                Drittel verfault. Überdies seien die Leute ohne Arbeit. Ihre Gesichter
                zeigten, "daß ihnen Hunger und Noth tief in das Mark des Lebens
                geschnitten hat". Für eine neue Kartoffelaussaat hätten sie die Mittel
                nicht aufbringen können. Viele seien in Lethargie verfallen. Einige hätten
                das letzte Geld, das sie erübrigen konnten, dazu verwandt, den Dünger von
                ihren Höfen auf die Äcker der Nachbarorte abfahren zu lassen, in der
                Hoffnung, dort Kartoffeln pflanzen zu können. Aber jetzt fehle es ihnen
                an Saat. Auf die Mitteilung, dass durch die Regierung erhebliche Summen
                angewiesen worden seien, um ihnen Saatkartoffeln für einen sehr geringen
                Preis zu überlassen, erwiderten sie, dass sie inzwischen nichts mehr
                besäßen und nicht imstande wären, auch nur den geringsten Preis zu
                zahlen. 
                Abschließend betonte der Beamte, wie dringlich Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
                wären, bei denen die Leute einen Lohn erhielten, der den Preisen der
                notwendigsten Lebensmittel angemessen sei. Das allerwichtigste wäre, dass
                die Leute die Erfahrung machten, dass sie "ihrem eigenen Fleiße ihre
                Subsistenzmittel zu verdanken hätten". Das Bewusstsein, nicht durch
                eigene Kraft in einen besseren Zustand gekommen zu sein, würde sie
                womöglich noch mehr "erschlaffen" lassen. 
                Die geschilderten Vorgänge werfen Licht auf die prekären Lebensbedingungen
                agrarischer Unterschichten im vormärzlichen Preußen. Vielfach nahmen sie
                ihre elende Lage still hin. Nur in Ausnahmefällen zogen sie die
                Aufmerksamkeit der Behörden oder der Öffentlichkeit auf sich. In diesem
                Sozialmilieu waren die Übergänge zwischen Formen der Sozialkriminalität
                und kollektivem Protest fließend. Man wird ohne Übertreibung feststellen
                können, dass für viele Familien das kleine Eigentumsdelikt (Mundraub,
                Holzdiebstahl) zu den unverzichtbaren Bestandteilen einer dürftigen
                Überlebensökonomie gehörte. Kollektive Nahrungsstreifzüge oder
                Hungermärsche, zumeist am hellen Tag ausgeführt, waren in den Agrarregionen
                östlich der Elbe verbreitet, nicht nur im Hungerjahr 1847, sondern ebenso
                während der Revolution von 1848/49. In Ost- und Westpreußen machten sie
                1847 sechs von 19 Aktionen aus. Hervorzuheben als Leitprotest für eine
                gesamte Region ist der Marsch mehrerer hundert "Losleute" (freier
                Landarbeiter) aus einigen Ortschaften nach Marienwerder, wo sie unter
                den Augen des machtlosen Regierungspräsidenten den Getreidespeicher eines
                Großhändlers ausräumten, ohne auf nennenswerten Widerstand zu
                stoßen.9 In der preußischen Provinz
                Posen wurden mindestens sieben von 31 Unruhen völlig oder teilweise durch
                agrarische Unterschichten bestimmt.10
                In Schlesien häuften sich ähnliche Beutezüge vor allem in den ärmlichen
                Gebirgsregionen um Glatz.11 
                Es waren freie Landarbeiter, agrarische Kleinstbesitzer und Handwerker
                der ländlichen Hausindustrien mitsamt ihren Familienangehörigen, die sich
                zu direkten und zweifellos hungergeleiteten kollektiven Zugriffen auf das
                entbehrte Minimum an Nahrung zusammenfanden. Diese Gruppen waren während
                der Krise im allgemeinen schlechter gestellt als gutsherrschaftlich
                gebundene Dienstleute, die sich an ihrem Gutsherrn halten, oder städtische
                Unterschichten, die ein - mehr oder minder effektives - kommunales
                Armenwesen in Anspruch nehmen konnten. Gerade in den ausgedehnten
                ländlichen Distrikten machte sich in der gesellschaftlichen Übergangszeit
                das Fehlen einer wirksamen sozialpolitischen Infrastruktur bemerkbar.
                Gutsbesitzer, wohlhabende Landwirte, Provinzial- und Staatsbehörden stritten
                untereinander und gegeneinander hinsichtlich der sozialen Verantwortung.
                Wirksame staatliche Hilfe, etwa Nahrungsmittelbeihilfen oder
                Arbeitsbeschaffung setzte häufig erst ein, nachdem Betroffene durch eigenes
                Handeln auf ihre schwierige Lage aufmerksam gemacht hatten.
                
  
                "Moralische Ökonomie" in der Kleinstadt 
                Ungewöhnlich hohe Preisforderungen für Butter, Eier, Kartoffeln und
                Getreide auf dem Wochenmarkt von Schwiebus, einer knapp 5000 Einwohner
                zählenden Tuchmacherstadt (Provinz Brandenburg, nahe der schlesischen
                Grenze) am 24. April1847 hatten heftige Dispute zwischen Kaufwilligen und
                Verkäufern zur Folge, die bald in Handgreiflichkeiten
                übergingen.12 Mehreren Bauern wurden
                die Kartoffelsäcke vom Wagen gestoßen und ausgeschüttet. Fluchtartig
                verließen Bauern und Markthöker mit ihrer Ware den Marktplatz. Alles dies
                geschah unter den Augen der Ortsobrigkeit. Zwei Rebellen, die sich besonders
                hervortaten, wurden festgenommen und im Rathaus eingesperrt. Unterdessen
                wuchs die Menschenmenge auf 500 und mehr Personen an. Um die Mittagszeit
                formierten sich aus dieser auf dem Marktplatz versammelten Menge mehrere
                kollektive Nahrungszüge. Was zu früheren Krisenzeiten die Obrigkeit selbst
                unternahm, führten sie jetzt in eigener Regie durch: die Inspektion der
                noch vorhandenen Nahrungsvorräte in der Stadt und der näheren Umgebung.
                Mindestens acht verschiedene Orte bzw. Anwesen wurden aufgesucht. Der
                erste Zug marschierte zum außerhalb der Stadt gelegenen Gutshof Burglehne.
                Man erreichte vom Gutsbesitzer das Versprechen, auf dem nächsten
                Wochenmarkt einen größeren Kartoffelvorrat zu einem vereinbarten, günstigen
                Preis anzubieten. Bei einem Gastwirt entdeckte man Roggenvorräte eines
                Mühlenbesitzers. Die Getreidesäcke wurden in Beschlag genommen, größtenteils
                zum Rathaus getragen und dort aufgestellt. Auch hierin ist eine
                Stellvertreterhandlung für die während der Notzeit offenbar untätige
                Ortsobrigkeit zu erkennen. Unter duldender Aufsicht dieser Obrigkeit,
                deren Polizeikräfte viel zu gering waren, um das Treiben zu verhindern,
                kam es nun zum Zwangsverkauf des Getreides zu einem von der Volksmenge
                für "gerecht" erachteten Preis. Viele Stadtbewohner machten von dieser
                Gelegenheit Gebrauch. Das Geld der Verkaufsaktion erhielten der
                Bürgermeister oder andere kommunale Funktionsträger. 
                Im Kern handelte es sich bei dieser Revolte um einen Weberaufstand in
                einer traditionsreichen Tuchmacherstadt. Etwa jeder fünfte Einwohner der
                Kleinstadt hatte sich aktiv an den Ereignissen beteiligt. Die meisten der
                86 später Verurteilten entstammten den Textilgewerben, an führender Stelle
                waren verheiratete Webergesellen im mittleren Lebensalter vertreten. Der
                in der Weberstadt extrem hohe Anteil gewerblich Beschäftigter, die sämtlich
                von Lebensmittelmärkten abhängig waren, sowie die Existenz einer
                ungewöhnlich umfangreichen und homogenen Gruppe innerhalb des Gewerbes
                bewirkten die kommunale Reichweite sowie den außergewöhnlich disziplinierten
                Charakter dieser Hungerrevolte. Gemeinsamkeiten der handwerklichen
                Arbeitskultur, verhaltensprägende Gesellentraditionen und schließlich die
                vielfach geteilten Erfahrungen der vormärzlichen Handweberexistenz, deren
                Gewerbe sich seit Jahrzehnten im Niedergang befand - alles dies verlieh
                der Selbsthilfeaktion eine beeindruckend breite soziale Basis und
                Durchschlagskraft. 
                Verglichen mit anderen Varianten von Hungerunruhen können die Schwiebusser
                Ereignisse als Musterfall einer Aktion gelten, die von den traditionellen
                Ordnungsvorstellungen einer "moralischen Ökonomie" geprägt war. Wie der
                englische Sozialhistoriker Edward P. Thompson am Beispiel englischer "food
                riots" des 18. Jahrhunderts demonstrierte, waren die handlungsleitenden
                Motive der Aufständischen häufig durch einen von Obrigkeiten und Volk
                weithin geteilten Konsens darüber bestimmt, welche Praktiken auf den
                Märkten, bei Getreidehändlern, in der Mühle, bei Bäckern, Schlachtern und
                anderen als legitim bzw. illegitim zu gelten hätten. Zu den Grundsätzen
                dieser "moralischen Ökonomie" gehörte beispielsweise die Auffassung, dass
                in Notzeiten sämtliche Nahrungsvorräte eines Ortes oder einer Region den
                Konsumbedürfnissen der Einheimischen zu erschwinglichen Preisen vorbehalten
                bleiben müssten. Im 18. Jahrhundert hatten Obrigkeiten zu Krisenzeiten
                entsprechend gehandelt und erfüllten damit weitgehend die Erwartungen
                ihrer Untertanen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde diese
                traditionelle Versorgungsökonomie zunehmend durch liberale,
                marktwirtschaftliche Wirtschaftspraktiken verdrängt. Hüter der Tradition
                blieben in Schwiebus wie andernorts die rebellierenden Volksmassen. Sie
                setzten sich an die Stelle der säumigen Obrigkeit und führten in einer
                Art Stellvertreteraktion diejenigen Maßnahmen durch, die seit jeher in
                Notzeiten als recht und billig gegolten hatten.   | 
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                Bilderbogen zur Erinnerung an das Hungerjahr 1847. [größeres Bild]
                
 
  
                
  
                  
                Lackdose mit Wuchermotiv, 1772. [größeres Bild]
                
 
  
                
  
                  
                Der Brotkrawall bei der Langmühle, 1847. [größeres Bild]
                
 
  
                
  
                  
                Der Wucherer Glück und Ende, um 1816/17. [größeres Bild] |