MOKICK FÜR DEN MILLIONSTEN „GASTARBEITER“

„Viva Portugal! Viva España!“, tönt es am 10. September 1964 kurz vor 10 Uhr auf dem Köln-Deutzer Bahnhof. ln zwei Sonderzügen von der iberischen Halbinsel sitzen 1.106 künftige „Gastarbeiter“. Unter den 173 Portugiesen ist auch der 38-jährige Zimmermann Armando Rodrigues de Sá aus dem kleinen nordportugiesischen Dorf Vale de Madeiros.

Rodrigues de Sá ahnt nichts Gutes, als er nach 48-stündiger Bahnfahrt seinen Namen aus den Lautsprechern hört. Er versteckt sich zunächst in der Menge, da er fürchtet, wieder nach Hause zurückgeschickt zu werden. Aber die anderen schieben ihn nach vorne.

„Wir haben ihn!“, ruft der Pressechef der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Werner Mühlbradt: Armando Rodrigues de Sá weiß nicht, dass die Beauftragten des BDA vor Einfahrt des Zuges durch blindes Tippen auf die Namenslisten der angeworbenen Arbeitskräfte gerade ihn als millionsten Gastarbeiter ausgewählt haben. Es dauert eine Weile, bis sein Schreck nachlässt und er mit Hilfe eines Dolmetschers die Situation versteht: Ihm gilt der große Bahnhof mit Musik, Festreden, wehenden Fahnen, Blitzlichtgewitter und surrenden Kameras. Der BDA überreicht ihm als Willkommensgeschenk Blumen, ein Diplom und ein Mokick der Marke Zündapp Sport Combinette. Die Ankunft des millionsten „Gastarbeiters“ wird 1964 in der Bundesrepublik zum Medienereignis. Zugleich rückt dieser Empfang auch das Leben vieler anderer ausländischer Arbeitskräfte in das öffentliche Interesse.

Wie Millionen anderer „Gastarbeiter“ lässt sich Armando Rodrigues de Sá von einer Verbindungsstelle der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung anwerben, um in Deutschland für ein besseres Leben in der Heimat Geld zu verdienen. Als Hilfsarbeiter auf dem Bau führt ihn die Arbeit von Stuttgart über Blaubeuren nach Sindelfingen und Mainz. ln Portugal beträgt der Lohn des gelernten Tischlers 1964 etwa 620 Escudos pro Monat – aufgrund seiner Sparsamkeit kann er aus Deutschland bald 550 DM monatlich nach Hause schicken, das entspricht in dieser Zeit etwa 4.000 Escudos.

Dreimal im Jahr besucht Armando Rodrigues de Sá seine Familie in Portugal. Das Mokick bringt er schon nach drei Monaten zum ersten Weihnachtsurlaub mit, während der Aufenthalte in der Heimat ist es sein ganzer Stolz. Gerne fährt er damit durch den Ort und besucht Verwandte und Freunde. Von seinen Ersparnissen kauft er in Portugal ein Haus und Grundstücke für seine Familie. Schon 1970 kehrt Rodrigues de Sá nach einem Arbeitsunfall nach Vale de Madeiros zurück. Eine schwere Erkrankung zehrt große Teile des angesparten Vermögens auf. Er weiß nicht, dass er Anspruch auf Leistungen aus der deutschen Krankenversicherung hat. 1979 stirbt er im Alter von 53 Jahren. Seiner Familie bleiben vom „Gastarbeiter“-Traum das Häuschen und das geschenkte Mokick.

Das Bild des millionsten Gastarbeiters mit seinen Willkommensgeschenken hat sich durch unzählige Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften, in Büchern und im Fern sehen in das Bewusstsein der deutschen Bevölkerung eingeprägt. Das Mokick erinnert im Haus der Geschichte stellvertretend an die Begrüßung vieler Ausländer seit Mitte der 1950er Jahre, die mit ihrer Arbeit zum wirtschaftlichen Aufschwung der Bundesrepublik beigetragen haben.

Bettina Citron