Der Aufstieg des Tourismus

Alljährlich im März findet in Berlin seit einem halben Jahrhundert die „Internationale Tourismusbörse“ statt. Aus bescheidenen Anfängen mauserte sich die ITB zur weltgrößten Leistungsschau der inzwischen wohl weltgrößten Wirtschaftsbranche. Die Konkurrenz ist riesig: In über siebzig Ländern finden tourismusbezogene Messen statt. Führend ist dabei Deutschland mit nicht weniger als vierzig solcher Großveranstaltungen. Dass gerade Deutschland – und hier zumal Berlin – auf diesem Feld so aktiv ist, ist kein Zufall. Vielmehr lässt sich hier eine lange Traditionslinie ziehen, bis zurück ins Kaiserreich, wie Prof. Dr. Hasso Spode erläutert.

Die erste „Ausstellung für Reise- und Fremdenverkehr“

Am 18. März 1911 eröffnete in den Messehallen am Berliner Zoo (etwa dort, wo heute das „Bikini-Haus“ steht) die erste Touristikmesse der Welt ihre Pforten, die „Internationale Ausstellung für Reise- und Fremdenverkehr“. Knapp ein Dutzend Länder waren vertreten, von Norwegen bis Österreich-Ungarn. Als Schirmherr der Schau fungierte der prominente Weltreisende Adolf Friedrich zu Mecklenburg, später Gouverneur von Togo. Ausrichter war der Verband Berliner Kaufleute und Industrieller. Wegweisend hatte man hier das wirtschaftliche Potential erkannt, das der Fremdenverkehr in einer globalisierten Welt bot.

Das Kaiserreich: Verreisen als Privileg

Es war die Goldene Zeit des Elitetourismus. Findige Veranstalter, voran Thomas Cook & Son, boten ausgeklügelte Arrangements an; auf dem Vesuv, etwa, betrieb die Weltfirma eine Seilbahn. Und riesige Kreuzfahrtschiffe, führend war hier die Hapag, befuhren die Meere von Samoa bis Spitzbergen. Problemlos ließ sich aber auch auf eigene Faust verreisen: Grenzen spielten keine Rolle, Pass- und Visumszwang waren weithin abgeschafft, per Telegraph ließ sich die Suite im Grand Hotel buchen, ein Netz von Luxuszügen verband die Metropolen mit den Freizeitzentren. Zu Recht sprach man vom „Paneuropa des Verkehrs“. Ob Nizza, Biarritz, Ostende, Baden-Baden, Ischl oder Interlaken: In den mondänen Kur- und Seebädern tummelten sich Adelige und Großkapitalisten, hohe Beamte und Militärs, Künstler und Wissenschaftler. Aber auch die gutbürgerliche Familie verreiste. Mit Kind und Kegel ging es in die Sommerfrische; die Männer zogen auch als „Rucksacktouristen“ durch die Berge. Führendes Urlaubsland war die Schweiz; der Tourismus hatte sie reich gemacht. Das sprach sich natürlich herum: Tausende „Verkehrsvereine“ entstanden um 1900, etliche waren dann auf der Berliner Messe vertreten. „Zu den Eigentümlichkeiten unserer Zeit gehört das Massenreisen“, notierte Theodor Fontane. Indes war sein Blick auf die eigenen, bürgerlichen Kreise gerichtet. Neun Zehntel der Deutschen hatten keinen Anteil am „Massenreisen“. Es fehlte an Zeit und Geld für diesen Luxus.

Die Weimarer Jahre: Isolationismus und Wirtschaftskrisen prägen den Tourismus

Mit dem Ersten Weltkrieg ging das glänzende „Paneuropa des Verkehrs“ unter. Nationale Abschottung hieß fortan die Devise, Urlaub im Inland wurde „vaterländische Pflicht“. Und statt der klassischen Bourgeoisie prägten nun Angestellte und Lehrer die Urlaubsorte. Grand Hotels gingen reihenweise in Konkurs. Vorbei die „Zeit der sechswöchentlichen Erholungsreise“, notierte Tucholsky. Die Branche versuchte, den Rückgang des „zahlenden Publikums“ durch billige „Volksreisen“ für rund einhundert Reichsmark zu kompensieren. Doch die Urlaubsreise blieb ein Vorrecht der „besseren Leute“, obwohl Arbeiter (etwa die Hälfte der Erwerbsbevölkerung) nun ebenfalls einen Urlaubsanspruch hatten. Freilich oft nur drei Tage, und bei einem Monatslohn von nicht einmal 200 Reichsmark blieb nichts übrig für solche „Volksreisen“.

„Kraft durch Freude“-Reisen im Nationalsozialismus

Die „Brechung des bürgerlichen Reiseprivilegs“ nahmen sich dann die Nationalsozialisten vor. Am 17. Februar 1934 rollten fahnengeschmückte Sonderzüge durchs Reich: 10.000 „Arbeiterurlauber“ wurden in die Ferien geschickt – ein propagandistischer Paukenschlag. „Nazis send workmen to Alps for vacation”, titelte die New York Times und meldete fälschlich nur tausend Teilnehmer – aber registrierte erstaunt, dass die Löhne während der einwöchigen Reise weiterbezahlt wurden. Veranstalter des Spektakels war die halbstaatliche „NS-Gemeinschaft ‚Kraft durch Freude’“, kurz KdF. Der Sozialtourismus – auch der Urlaubsanspruch für Arbeiter wurde deutlich verbessert –  wurde zum Kernstück des „Sozialismus der Tat“, der die renitente Arbeiterschaft vom „Klassenkampfgedanken“ abbringen sollte: Reisen als Ausgleich für den Verlust der Menschen- und Tarifrechte. Noch im selben Jahr verkaufte KdF eine halbe Million Urlaubsreisen – Durchschnittspreis: 35 RM. Der Preissturz gelang vor allem durch Fließbandfertigung. Die Reise wurde erstmals industriell produziert – KdF wurde aus dem Stand zum weltgrößten Veranstalter, weit vor Thomas Cook. Bis zum Kriegsbeginn organisierte man über 37 Millionen Kurzreisen und transportierte siebeneinhalb Millionen „Volksgenossen“ in den Urlaub; 700.000 machten sogar eine Kreuzfahrt mit der „KdF-Flotte“. Die Bilder „deutscher Arbeitsmenschen“, die sich an Deck von Luxuslinern sonnten, sorgten im In- und Ausland für eine Sensation.

1960er Jahre: Durchbruch des „Massenreisens“

Freilich: Der Propagandarummel verdeckte, dass trotz beachtlicher Teilerfolge kein sozialer Durchbruch erzielt wurde: Die Urlaubsreise blieb letztlich eine Sache der Ober- und Mittelschichten. Erst in den 1960er Jahren wird das „Massenreisen“, von dem Fontane gesprochen hatte, in Ost und West allmählich soziale Realität. Auch untere Einkommen haben jetzt zunehmend Teil am Tourismus. Zugleich setzt erneut ein Prozess der Globalisierung ein und der Tourismus schickt sich an, eine weltwirtschaftliche Großmacht zu werden. In diesem Kontext fand 1966 in West-Berlin wieder eine Touristikmesse statt, viel bescheidener als die von 1911: Die erste ITB verzeichnete neun Aussteller aus fünf Ländern – 2017 sind es über zehntausend aus 187 Ländern. Nur sechs UN-Mitgliedsstaaten stehen da noch abseits.

 

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Prof. Dr. Hasso Spode

Prof. Dr. Hasso Spode ist Historiker und Soziologe. Er leitet das Historische Archiv zum Tourismus der Technischen Universität Berlin (Willy-Scharnow-Archiv) und lehrt an der Leibniz-Universität Hannover. Mitherausgeber der Annals of Tourism Research und Mitbegründer von Voyage. Jahrbuch für Reise- und Tourismusforschung; über 200 wissenschaftliche Publikationen (www.hasso-spode.de), jüngste Bücher: Ressource Zukunft. Die sieben Entscheidungsfelder der deutschen Reform, Opladen 2009, und als Hrsg. Mobilitäten!, Berlin 2014.