Moses vor Moses

Stefan Moses gehörte zu den großen Fotografen der Bundesrepublik. Deutschland und die Deutschen blieben bis zuletzt sein fotografisches Lebensthema. Unsere Ausstellung „Das exotische Land. Fotoreportagen von Stefan Moses“ zeichnet seinen Weg nach. Prof. Dr. Christoph Stölzl, Präsident der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Museums beschreibt in seiner Eröffnungsrede zur Ausstellung, die wir hier in Auszügen veröffentlichen, den Werdegang von Stefan Moses, bevor er zum berühmten Bildchronisten der Bundesrepublik wurde.

1928 wurde Stefan Moses in eine bildungsbürgerliche  Familie im schlesischen Liegnitz hineingeboren. Bald wurde die jüdische Herkunft der väterlichen Familie, die jeder religiösen Orthodoxie längst fern geworden war, zum Zwangsschicksal von Isolierung, Bedrängnis, am Ende auch Lebensgefahr. Ein Teil der Moses-Familie und viele Freunde und Bekannte gingen in die Emigration. Aus Liegnitz zogen Mutter und Sohn nach dem Schock des Novemberpogroms in die vermeintlich sicherere, weil anonyme Großstadt Breslau. Doch dort griff 1944 die Staatsgewalt zu. Moses landete im Zwangsarbeits-Lager Ostlinde, und es fehlte nicht viel und das Mahlwerk des Terrors hätte ihn verschlungen. Doch Glück im Unglück ermöglichte Stefan im Februar 1945 die Flucht aus dem Lager. Im Sommer 1945 finden wir ihn mit seiner Mutter, von der Schicksalsflut aus dem Osten nach Westen gespült, in Jena. Bei der Kinderfotografin Grete Bodlée beendete er hier seine Fotografenlehre.

Jüngster Theaterfotograf Deutschlands

Von 1947 bis 1949 war Moses der jüngste Theaterfotograf Deutschlands am Nationaltheater Weimar und geriet dadurch mitten hinein in den damals noch gesamtdeutschen Aufbruch des Theaterlebens. Mit Kindern hatte Stefan Moses angefangen als Fotograf, damals selbst noch ein halbes Kind in dunklen Zeiten. Nun wurde für drei Jahre das Zauberreich des Theaters sein ästhetisches Labor. Und er entdeckte die Verwandlung der vertrauten Schauspielerkollegen in ihre Rollen, die auch Masken sein konnten.

Die Weimarer Jahre sind die Zeit, wo Moses auch erste Schritte als Fotoreporter und Fotochronist tat. Oft hielt er auch Szenen fest, die nicht ins Bild des kommunistischen Zwangsoptimismus passten. Die unbändige Neugier auf das Alltägliche, das Durchschnittliche und auf die Physiognomien ist auch hier schon spürbar. Ein Talent im Menschenbilden tut die ersten vorsichtigen Schritte.

Im Jahr 1950, als nach Gründung der DDR die SED die Zügel der staatlichen Kunstlenkung straff anzog, ahnte Moses, dass er im „Arbeiter- und Bauernstaat“ nicht frei würde atmen können. Und so machte er den Sprung in den Westen, nach München. Beinahe wäre daraus ein Abschied von Deutschland geworden – verständlich genug nach dieser Kindheitsgeschichte. In München lagen schon zwei Visa zur Ausreise nach Chicago bereit, besorgt von einem hilfreichen, früher exilierten Onkel. Aber dieser wartete vergebens.

„… es war mir unmöglich, dieses Deutschland, das ich ja kaum wirklich kannte, zu verlassen.“

Ein Instinkt raunte ihm zu, dazubleiben, um Bilder von den Menschen zu machen, die wie er den Krieg überlebt hatten. In Deutschland, und nur hier, wollte er sein, wenn die neue Zeit begann, „voller Vorfreuden und Hoffnungen auf neue Freiheiten, neues Leben, Demokratie und neues Glück. [Ich war] „unheimlich neugierig auf alles Kommende […] die unübersehbare Zukunft, in die man auf den schnellen Wolken dahinsegelte, mit den Bildern im Kopf und der Leica in der Hand.“

„Der liebe Gott hat mich nach München geschickt“

In München erschienen Moses’ erste Bildgeschichten in der Wochenendbeilage der von der amerikanischen Besatzungsmacht gegründeten, der reeducation, dem Aufbau eines liberalen, weltoffenen Deutschlands gewidmeten Neuen Zeitung. Sie war der ideale Startplatz für einen jungen Bildermacher, der unbändig Lust hatte auf Menschen und Talente.

Wochenendbeilage der Neuen Zeitung, 26. August 1950

Wochenendbeilage der Neuen Zeitung, 26. August 1950

Zwischen 1950 bis 1960 fotografierte Moses dann als Fotoreporter für die Zeitschriften des Kindler-Verlags, Das Schönste und Revue, die wie der gleichzeitig entstandene stern dem übermächtigen Vorbild des amerikanischen Life nacheiferte, die wiederum zu großen Teilen eine Schöpfung der aus Deutschland nach 1933 vertriebenen jüdischen Fotografen gewesen war. Die noch fernsehlosen Jahre bescherten den Magazinen hohe Auflagen, viele Anzeigenseiten und die Rolle eines einflussreichen Forums für politische Diskussionen.

Kindler schickte den jungen Moses Mitte der 1950er Jahre erst nach New York und dann auf eine ausgedehnte Europareise, die er mit dem im englischen Exil lebenden Autor und Schauspieler Walter Rilla unternahm. Das Resultat dieser Erkundung von Gesichtern, Gesten, Verhältnissen, Landschaften und Architekturen war das Buch mit dem Titel eines Goethe-Zitates aus dem Faust-Prolog: Herrlich wie am ersten Tag – ein visuelles Plädoyer für die Unzerstörbarkeit der europäischen Humanität, unbeschadet der unterschiedlichen politischen Verhältnisse in Ost und West, Süd und Nord. Und dann kam 1956: der blutige Aufstand in Ungarn, der ganz Europa erschütterte. Moses hielt die gespenstischen Szenen des bittertraurigen Budapester Herbstes fest.

In der Genietruppe des stern

1960 holte Chefredakteur Henri Nannen den Münchner zum stern. Damit begann die legendäre Großzeit der deutschen Human-Touch-Fotografie – Fotojournalismus als „moralische Anstalt“. Beim stern erlebte Moses die „aufregenden, schönen, jungen Jahre mit neuen Menschen, neuen Sprachen und neuen Freiheiten. Niemand konnte und wollte uns hindern‚ die Weltsprache  der Fotografie in unseren Bildern intelligenter zu formulieren. Wir waren jetzt die neuen ‚Bildermacher’. Es kamen produktive Jahre. Wir erlebten eine Aufbruchsstimmung. Wir hörten schon das Rollen der hoffnungsvollen Sixties 1960.“

Der stern der 1950er und 1960er Jahre wurde berühmt durch seine Reportagen aus aller Welt. Aber bei Moses, anfangs dabei, in Israel zum Beispiel, wo er emigrierte Verwandte traf oder in Südamerika, verwandelte sich der Blickwinkel: je mehr er von der exotischen Fremde kennenlernte, desto mehr wurde ihm bewusst, dass seine terra incognita nicht weit draußen, sondern ganz nahe lag: Deutschland wurde ihm, wie er es einmal gesagt hat, zum „exotischsten Land“. Die doppelgesichtige Heimat, die ihm in seiner Kindheit und Jugend die Fratze des Terrors gezeigt hat und die jetzt so demonstrativ harmlos an ihrem „Wirtschaftswunder“ werkelte, faszinierte ihn mehr und mehr. Er hat rückblickend bemerkt, Deutschland sei für ihn „genauso exotisch wie Caracas, Kathmandu oder der Kongo, überall unerforschte Gebiete“. Auf einer Reise für den stern nach England, die eine Bestandsaufnahme der britischen Gesellschaft einbringen sollte, keimte bei ihm die Idee, sich an eine groß angelegte Bild-Soziologie der Deutschen zu machen.

Das exotischste Land der Welt

Im fließenden Übergang von stern-Reportage-Aufträgen über Religion in Deutschland in ihren Schattierungen, über deutsche Feste, von der populären „Monsterkirmes“(Thomas Mann) des Münchner Oktoberfestes bis zum elitär-verschwörerischen Kultort Bayreuth, über das Biotop Bonn, die Vereine und Gruppierungen der Deutschen in ihren Regionen, von schlagenden Studentenverbindungen bis zu Skatgruppen, formte sich langsam die Idee zu einer sorgsam auf systematische Langzeit-Arbeit an Porträts angelegte, in wechselnden dramaturgischen Konzepten inszenierten Erkundung der Deutschen. Wie waren die Nachkriegsgesichter derjenigen, deren Vorkriegs- und Kriegsgesichter er doch gut im Gedächtnis bewahrt hatte? Ihre Gestalten, Kostüme, Haltungen?

Von 1962 bis 1964 fuhr Stefan Moses durch die Bundesrepublik und suchte nach Menschen, die mit ihrem Gesicht, ihrer Haltung, ihrer Kleidung ohne Worte eine ganze Geschichte erzählen konnten. Am Ende seiner mühevollen Tour brachte er ein umfassendes Panorama der Westdeutschen mit, wie es seit August Sanders legendärem Unternehmen der 1920er Jahre noch niemandem gelungen war. Das waren die Höhepunktjahre des „Wirtschaftswunder“-Gefühls. Welcher Kraftanstrengung der Wiederaufstieg der westdeutschen Teilnation geschuldet war, lesen wir in den – trotz allen Lächelns – tiefernsten Gesichtern der Menschen, die Moses ihre Persönlichkeit offenbarten. Ein Jahrzehnt später war die Bundesrepublik durch die 68er Kulturrevolution radikal verändert. Moses „Deutsche“ sind der letzte Blick auf die wirkliche „Nachkriegsgesellschaft“.

Moses und das graue Tuch

Moses’ konzeptionelle Grundidee war es, scheinbar anachronistisch in die Rolle des Wanderfotografen des 19. Jahrhunderts zu schlüpfen. Statt des Ateliers ein großes graues Filztuch, das es ermöglichte, überall einen neuen privaten, gleichsam magisch umgrenzten Raum zu schaffen. Überall, wo ein Gesicht oder eine Arbeitskleidung ihn fesselten, spannte er es auf und bat die Menschen vor die Kamera. Er traf sie auf der Straße und Rummelplätzen, in Fabrikhallen oder Friedhöfen, in Büros und Restaurants, in Bahnhofshallen und Kirchen. Und das Wunder geschah: aus unauffälligen „Durchschnittsmenschen“ wurden von einem Augenblick zum anderen unverwechselbare Individuen. Jeder Mensch, mochte seine gesellschaftliche Funktion noch so marginal sein, gewann die unantastbare Würde, die seit gerade einmal einem guten Jahrzehnt die zentrale Versprechung der westdeutschen Verfassung geworden war. Vielleicht zum ersten Mal brachte einer dieses Verfassungsversprechen überzeugend ins Bild.

Emigranten

Es ist keine Überraschung, dass sich das Thema Emigration wie ein roter Faden durch Stefan Moses’ Werk zieht. Denn Kontinuität und Brüche der deutschen Geschichte, aber auch das Schicksal des deutschen Judentums kommen darin exemplarisch zusammen. Auch sein Familienschicksal war ja damit verknüpft. Schon 1949, als Theaterfotograf in Weimar, hat Moses die zum Goethe-Jubiläum aus Amerika angereisten Thomas und Katja Mann aufgenommen. Von diesen ersten Emigrantenporträts bis zu den letzten, 2003 entstandenen Aufnahmen sind es die Menschen, die Deutschland nach 1933 verlassen mussten, denen Moses’ aus der eigenen Biografie geschöpften Empathie gegolten hat. 99 bedeutende Gestalten hat er noch erreichen können, viele Gewünschte aber auch nicht: zu weit waren die einen in die Welt verstreut, zu früh verstorben die anderen. Moses nennt seine Emigrantenporträts „so etwas wie den versunkene Kontinent Atlantis.“ Dabei ist er sich bewusst, dass mit diesen Gesichtern etwas Unwiederbringliches verschwand: deutsche Schicksale von einer Dramatik, Tragik und Heldenhaftigkeit, wie es sie nicht mehr geben wird.

Vergänglichkeit und Humanität

In unserem kurzen Leben könne man sich nur auf eine Sache einlassen, hat Moses einmal bemerkt. Da habe er das Interessanteste gewählt, seine nächste Umgebung, seine „Heimat“ Deutschland zu erforschen. Je länger nun dieser zweite Teil von Moses‘ Werk, die großen Porträts, in der Welt sind, desto deutlicher wird, dass sie mit traditionellem „Dokumentarismus“ wenig zu tun haben. Moses’ Deutsche sind Abbilder und Möglichkeitsbilder in einem. Sie leben damit von der chamäleonhaften Vieldeutigkeit der Fotografie, die seit ihrer Erfindung vieles zugleich und in wechselnden Amalgamierungen gewesen ist: Dokument und Kunstwerk, Tagebuch und Epos, Flüchtigkeit  und Verdichtung, Wirklichkeit und Schein, Monument und Demontage, Konvention und Überraschung – kurz, vielleicht die beste Methode, um dem unauslotbaren Geheimnis des Humanen auf die Spur zu kommen.

Prof. Dr. Christoph Stölzl

Prof. Dr. Christoph Stölzl ist einer der prominentesten deutschen Kulturhistoriker. 1944 in Bayern geboren, begann er seine Laufbahn mit Forschungen zur Geschichte der europäischen Nationalbewegungen. 1987 wurde er zum Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Museums in Berlin berufen, und 1991 eröffnete er die erste Ausstellung des Museums im Zeughaus mit Porträts, die Stefan Moses von den Menschen in der DDR während des dramatischen Umbruchs 1989/90 aufgenommen hatte. Seit 2010 ist er Präsident der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar.