Entwurf einer physischen Weltbeschreibung

Alexander von Humboldt und der Film

Stephan Ahrens | 28. November 2019

Alexander von Humboldt drängte nach der Welt. Auf seinen Forschungsreisen suchte er die unmittelbare Begegnung mit der materiellen Welt, sein Kosmos trägt den Untertitel „Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“. Eine solche physische Geografie setzt eine körperliche Erfahrung des Beschreibenden voraus. Exakt in diesem Drängen begegnen sich Humboldt und der Film. Stephan Ahrens hat die aktuelle Filmreihe „Alexander von Humboldt“ im Zeughauskino kuratiert und stellt in seinem Artikel zwei Filme exemplarisch vor.

Die Suche nach Spuren von Humboldt in der Filmgeschichte beginnt jenseits von der historischen Figur.[1] Vielmehr geht es um die Frage, wo sich Film und Humboldts Schaffen in einer materialen Ästhetik kreuzen. Humboldts Expedition in den südamerikanischen Kontinent war nicht nur ein wissenschaftliches, sondern auch ein literarisches Ereignis. Seine Leser*innen machten mit umfassenden Reisebeschreibungen geborgte Naturerfahrungen von einem Kontinent, von dem sie zuvor kaum eine Vorstellung hatten. Damit begründete sich die Legende von Humboldt als der „zweite Entdecker“ Amerikas, als einer, der nicht – wie beispielsweise die spanischen Konquistadoren – als Eroberer kam.

Orinoko, Nuevo Mundo

Der venezolanische Regisseur Diego Rísquez lässt in Orinoko, Nuevo Mundo Alexander von Humboldt und den Botaniker Aimé Bonpland auf Christoph Kolumbus, Antonio de Berrio, die katholische Mission und Walter Raleigh folgen. Ist er hier der „zweite Entdecker“, der sich von seinen Vorgängern unterscheidet? Einerseits steht Humboldt in ihrer Nachfolge, Rísquez hebt ihn andererseits von den Abenteuern, Eroberern und Missionaren ab. Eine Differenz, die insbesondere durch den Einsatz von Musik deutlich wird. Mit Humboldts Ankunft wird bisher sphärisch klingende elektronische Musik durch Klavierspiel abgelöst. Seine Beziehung zu dem Land scheint eine intimere zu sein als jene seiner Vorgänger. So wie Humboldt und Bonpland konzentriert Blätter und Flusstiere an ihrem Schreibtisch am Ufer des Orinoko unter Vergrößerungsgläsern studieren, umfährt auch Rísquez’ Kamera behutsam und langsam die Europäer, um ihre Gesten genau zu beobachten.

Humboldt vermisst in Rísquez’ Film nicht nur die „neue Welt“, er versucht sie in einen Rahmen einzufügen. Der Regisseur verdoppelt den Rahmen der Leinwand durch einen bildinternen barocken, goldenen Bilderrahmen, durch den sein Humboldt immer nur einen Ausschnitt einfangen kann. Die Natur hingegen sprengt diesen Rahmen — so wie sie auch den Rahmen der Kamera übersteigt. Eine „physische Beschreibung der Welt“ muss auch die potentielle Unendlichkeit des Flusses der Natur mitdenken.

Filmstil aus „Orinoko, Nuevo Mundo“ von Diego Risquez (VEN 1984).

Filmstill aus „Orinoko, Nuevo Mundo“ von Diego Rísquez (VE 1986).

Es ist gerade die Begeisterung für die Natur, die wir beim Sehen mit Humboldts Blick teilen. Die Verbindung von dem Beschreibenden und den Rezipienten macht auch der Filmtheoretiker Siegfried Kracauer für den Film geltend, wenn er schreibt, dass „filmische“ Filme – gemeint sind jene, die sich ihren fotografischen Voraussetzungen bewusst sind – „sich Aspekte der physischen Realität einverleiben, um sie uns erfahren zu lassen.“[2] Aus dem Grund habe der Film eine „Affinität zum Kontinuum des Lebens oder ‚Fluss des Lebens‘“.[3] Kracauer definiert für den Film eine materiale Ästhetik, in der der Zuschauer über den Blick der Kamera Realität ungestellt erfahre. „Filmische“ Humboldt-Filme koppeln in diesem Sinne auch zwei Subjektpositionen im Erleben der Natur. So wie Humboldt mit seinen Schriften Begeisterung für die Natur Amerikas auslöste, wird auch der Blick der Kamera zur Erfahrungswelt der Zuschauer.

Die Besteigung des Chimborazo

Man musste sich mit Händen und Füßen festhalten. Wir alle verletzten sie uns, wir alle bluteten… Auch das Atmen wurde stark beeinträchtigt, und noch unangenehmer war, dass alle Übelkeit, den Drang sich zu erbrechen verspürten… Außerdem blutete uns das Zahnfleisch und die Lippen. Das Weiße unserer Augen war blutunterlaufen.[4]
Alexander von Humboldt

Langsam schritten wir los. Schon nach den ersten Metern merkte ich, wie mein Herz klopfte, und dass ich unabhängig davon, wie schnell Baltazar ging, meinen eigenen Rhythmus finden musste, bedächtig Schritt für Schritt, zwar wurde es immer anstrengender, in immer kürzeren Abständen musste ich mich auf die Skistöcke stützen und ausruhen, doch ich gewöhnte mich an die Herausforderung, und mit jedem gewonnenen Meter ging es mir besser. Es war, als ob ich in mir Grenzen sprengte.[5]
– Rainer Simon über die Vorbereitungen zu Die Besteigung des Chimborazo

Rainer Simons Die Besteigung des Chimborazo ist nicht nur ein Film über Humboldt (hier gespielt von Jan Josef Liefers), er teilt mit ihm die materiale Ästhetik in der Erkundung der Landschaft und der unbeherrschten Naturkräfte.

Jan Josef Liefers als Alexander von Humboldt (vierter von links) in Rainer Simons „Die Besteigung des Chimborazo“. © DEFA Stiftung/Wolfgang Ebert.

Jan Josef Liefers als Alexander von Humboldt (vierter von links) in Rainer Simons „Die Besteigung des Chimborazo“ (DDR/BRD 1989), Filmstill. © DEFA Stiftung/Wolfgang Ebert.

Beispielhaft sind die immer wieder eingefügten Bilder eines ausbrechenden Vulkans. Wenn wir den Trek des Naturforschers die Anden hochkraxeln sehen, so sehen wir auch einen nur von dem Auge der Kamera vermittelten Naturzustand. Simon macht Humboldt in seinen Jugendjahren exemplarisch zum eingezwängten Subjekt, das gegen die objektiven Verhältnisse ankämpft. Zu diesen gehören die Forderungen der Familie, der preußische Verwaltungsapparat und das spanische Kolonialsystem. Für Simon ist Humboldt nicht nur der Forscher der physischen Welt, sondern auch ein Sinnsucher:

Einen Film über Alexander von Humboldt zu drehen, heißt nachzudenken über einen Menschen, der mit äußerster Konsequenz versuchte, seinem Leben einen Sinn zu geben.[6]

Simon platziert Humboldt bereits früh an einen Scheideweg: Reisen oder seine Liebe zu Reinhard von Haeften (Sven Martinek). Doch mit Haeften hätte er sich mit der preußischen Gesellschaft arrangieren müssen — und Humboldt ist einer, der gegen die Verhältnisse aufbegehrt. Als Humboldt ihm anbietet mit ihm wie in einer Familie, „in Ruhe“ zu leben, ihm verspricht, „wir werden die Welt in uns machen“, entlarvt Haeften das als ein Selbstbetrug. Hier berührt uns Humboldt als ein Sinnsucher.

Gegen die objektiven Verhältnisse der erstarrten Gesellschaft setzt Simon das Kontingente, meist in Form der Improvisation des Augenblicks. Ganz im Gegensatz dazu steht Werner Herzogs 1971/72 in Peru gedrehter Film Aguirre, der Zorn Gottes. Der titelgebende Aguirre gehört zu jenen spanischen Konquistadoren, die im 16. Jahrhundert in Lateinamerika die Besitzansprüche der spanischen Krone ausweiten und sichern sollten. Als Herzogs Protagonist einen Yagua-Indianer trifft, versucht er gar nicht seine Erzählungen zu verstehen. Lieber blickt der Konquistador nur auf das Gold, das sein Gegenüber um den Hals trägt.

Klaus Kinski in Werner Herzogs „Aguirre, der Zorn Gottes“ © Werner Herzog Filmporduktion.

Klaus Kinski in Werner Herzogs „Aguirre, der Zorn Gottes“ (BRD 1972), Filmstill. © Werner Herzog Filmporduktion.

Einen solch eingeengten Blick hat Humboldt in Simons Film nicht. Hier sitzt er mit Quechua-Indianern zusammen und versucht, einzelne Worte ihrer Sprache zu lernen. Es ist ein langsames Herantasten. Humboldt fragt nach den Worten für „Mund“, „Hand“, „Frau“ und er nennt ihnen im Gegenzug die deutschen Worte. Eine unverstellte, in einer einzigen Einstellung gedrehten Szene, in der sich der Filmemacher sowie Jan Josef Liefers und Kameramann Roland Dressel auf das Unberechenbare der Situation eingelassen haben.

Der reine Blick auf die materielle Welt – eine romantische Fantasie?

Das Vertrauen auf die Improvisation, auf ein unberührtes Erlebnis und den reinen Blick auf die materielle Welt ist auch ein Phantasma, eine romantische Fantasie. Gerade hier liegt der Unterschied zwischen der technischen Voraussetzung des Films und Humboldts „physische Weltbeschreibung.“ Rísquez zeigt in Orinoko – Nuevo mundo, wie Humboldt der Welt zwar physisch begegnet, diese Begegnung aber auch eine präformierte ist. Der Naturforscher versucht durch Messungen die Welt in eine Form, in einen Rahmen zu pressen, dem stets etwas entgeht. Das Aufbegehren gegen die preußische Gesellschaft schlägt hier wieder in die Form um. Aber zugleich gibt es gegen die Form auch ekstatische, mithin ironische Momente, angefangen von Papageien, die sich trotzig auf den Messinstrumenten niederlassen bis zum Orgasmus an einer Baumwurzel.  Doch am Ende treiben seine Messinstrumente und der goldene Bilderrahmen ebenso im Orinoko wie zuvor die Bibel und das Kreuz des Missionars.

Humboldt und Bonpland sind die letzten Europäer in Rísquez’ Film, die am Orinoko landen. Man könnte ergänzen: Nach ihnen werden die Filmemacher kommen, die eine physische Erfahrung suchen, ausgestattet mit all jenen technischen Mitteln des Filmens, die Humboldt, der die frühe Fotografie als technische Neuheit in Paris kennenlernte, für seine Arbeit bewusst nicht nutzte und vielleicht sogar ablehnte. Auch die vermeintliche Unmittelbarkeit des Films basiert auf einer Voraussetzung, hier auf einer technischen. Sowohl Filme als auch Humboldts Schriften vermitteln (Natur-)Erfahrungen, deren Wert wir stets neu bestimmen müssen, zwischen persönlichem Sinnsucher und physischem Weltbeschreiber.

Quellen

[1] Solche Interpretationen spiegeln die Schauspieler Albrecht Schuch in der Kehlmann-Adaption von Detlev Buck Die Vermessung der Welt (2012), oder Werner Herzog in Edgar Reitz’ Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht (2013) wieder.

[2] Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985. Ebd., S. 69.

[3] Ebd., S. 109.

[4] Zitiert nach Alexander von Humboldt, in: Schaper, Rüdiger: Alexander von Humboldt. Der Preuße und die neuen Welten, München 2018, S. 127.

[5] Simon, Rainer: Fernes Land: die DDR, die DEFA und der Ruf des Chimborazo. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2005, S. 251.

[6] Simon, Rainer: Fernes Land: die DDR, die DEFA und der Ruf des Chimborazo. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2005. S. 305.


© Mirko Kubein

Stephan Ahrens

Stephan Ahrens, Filmwissenschaftler, promoviert mit einer Arbeit zur Geschichte und Theorie des Filmmuseums an der Filmuniversität KONRAD WOLF. Von 2017 bis 2019 war er wissenschaftlicher Volontär am Zeughauskino. Für das Goethe-Institut kuratierte er die Reihe „Humboldt y las Américas“.