Sheindi Ehrenwalds Aufzeichnungen

Raphael Gross | 27. Januar 2020

Als deutsche Truppen am 19. März 1944 Ungarn besetzten, begann dort für die jüdische Bevölkerung der Holocaust. Die damals 14-jährige Sheindi Ehrenwald aus der Kleinstadt Galánta schrieb vom Tag der Besetzung an auf, wie sie Bedrohung, Verfolgung, Zwangsarbeit und Vernichtung erlebte. Diese Aufzeichnungen zeigen wir als Intervention „Deportiert nach Auschwitz“ in unserer Dauerstellung. Anlässlich der Eröffnung der Ausstellung erläuterte Prof. Dr. Raphael Gross, Präsident des Deutschen Historischen Museums, am 22. Januar den näheren Kontext damaligen Ereignisse.

Was Sheindi Miller-Ehrenwald in ihren Aufzeichnungen niedergeschrieben hat, stand im Zusammenhang eines verheerenden historischen Geschehens. 1944 war das bereits fünfte Jahr des Zweiten Weltkrieges, den Deutschland begonnen hatte. 1942 und vor allem 1943 hatten die Alliierten der deutschen Wehrmacht endlich die ersten empfindlichen militärischen Niederlagen bereiten können. Im September 1943 wurde dann mit der Kapitulation Italiens auch das Gefüge der Allianzen, die sich in Europa um das nationalsozialistische Deutschland knüpften, tief erschüttert. Ungarn gehörte mit seiner autokratischen und grundsätzlich deutschfreundlichen Regierung zu den engeren Verbündeten Deutschlands. Um jedoch nicht zu den Verlierern zu gehören, nahm die ungarische Regierung nach der Kapitulation Italiens im September 1943 Kontakte zu den alliierten Mächten auf. Sie versuchte, einen Separatfrieden abzuschließen. Deutschland erhielt von diesen Bestrebungen Kenntnis. Um einen Seitenwechsel Ungarns zu verhindern und zudem auf dessen Ressourcen besser zugreifen zu können, besetzte Deutschland das vormals verbündete Land. Die Wehrmacht marschierte am 19. März 1944 in Ungarn ein. Das ist der Zeitpunkt, zu dem auch das Tagebuch von Sheindi Ehrenwald einsetzt.

Fast zeitgleich mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Ungarn traf auch Adolf Eichmann, Leiter der Abteilung 4 B 4 im Reichssicherheitshauptamt, ein, bald gefolgt von den Angehörigen seines Sondereinsatzkommandos Ungarn. Sie taten alles, um die antijüdischen Maßnahmen, die sie schon in anderen Ländern durchgeführt hatten, sofort in Gang zu bringen. Die neu gebildete ungarische Regierung, die nach dem Willen der Okkupanten mit antisemitischen Amtsträgern durchsetzt war, verfügte die Kennzeichnung aller Juden im Land mit einem gelben Stern bereits am 29. März 1944 für den 5. April. Es folgten sehr schnell weitere Erlasse gegen die ungarischen Juden – zur Offenlegung der Vermögensverhältnisse (21. März, galt ab Mitte April) – Einschränkungen der Freizügigkeit (7. April) – Rationierung der Lebensmittel (ab 23. April) – Errichtung von Ghettos zur gewaltsamen Vertreibung der Jüdinnen und Juden aus ihren Häusern (ebenfalls ab 7. April). Druck aus Deutschland und von Seiten deutscher Stellen trafen sich hier mit der eifrigen Tätigkeit ungarischer Antisemiten. Sie sorgten dafür, dass die Maßnahmen besonders schnell und umfassend in die Gesetzgebung gebracht und durchgeführt wurden. Besonderen Anteil daran hatten das Innenministerium und die Gendarmerie. In kürzester Zeit, d.h. in etwa drei Wochen, wurden im ganzen Land größere und kleinere Ghettos errichtet. Da es so gut wie keine Vorbereitungen dafür gab, wurden sehr oft leerstehende Fabrikbrachen oder Ziegeleien dafür ausgewählt. Die Versorgung der Ghettos war sehr schlecht. Weder gab es medizinische, sanitäre noch eine ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln.

Sheindi Ehrenwald beginnt ihre Aufzeichnungen an dem Tag der Besetzung Ungarns. Sie zitiert dabei ganz am Anfang ihre Mutter: „Die Deutschen sind einmarschiert. […]“ und dann eine ihrer Schwestern: „Wir sind verloren.“ Das Ziel der Deutschen in Bezug auf die Juden war zu diesem Zeitpunkt in der internationalen Öffentlichkeit weitgehend bekannt. Die Durchführung des Holocaust, also der vollständigen Vernichtung sämtlicher Jüdinnen und Juden, hatte bereits im Sommer 1941 mit dem Überfall des deutschen Reiches auf die Sowjetunion begonnen. Darüber, wann und wie dies im Sommer 1941 zum Ziel sämtlicher deutschen Behörden wurde, wird immer noch geforscht. Fest steht aber, dass dieser Plan spätestens ab dem Herbst 1941 das Handeln der Deutschen in ihrem gesamten Herrschaftsbereich bestimmte. Die Frage, wie weit dieser Plan dann auch umgesetzt wurde, hing nun nicht mehr von internen Bedenken oder Entscheidungs­schwierigkeiten, sondern allein von den politischen Gegebenheiten ab. Allein daraus ergab sich der „paradox anmutende Umstand, dass ausgerechnet in den Ländern Europas, die von Anfang an in […] Nähe zu Nazideutschland standen – etwa Ungarn, die Slowakei, Rumänien und Bulgarien“1 – die Juden weniger gefährdet schienen als in Ländern, die direkt von der Wehrmacht besetzt wurden, wie etwa Polen oder die Niederlande. Als die antijüdischen Maßnahmen in Ungarn durchgesetzt wurden, waren die meisten Juden aus anderen Ländern, aus Polen, aus den baltischen Staaten, aus Frankreich, schon ermordet worden. Worum es den Deutschen in Ungarn ging, war daher zu diesem Zeitpunkt schon vielen bekannt. Zahlreiche ungarische Juden, hauptsächlich in Budapest, heimkehrende Angehörige der Arbeitsbataillone, ungarische Soldaten, die von der Ostfront zurückkamen, und jüdische Flüchtlinge aus Polen und der Slowakei verbreiteten die Informationen, die sie über die massenhafte Vernichtung der Juden gesammelt hatten. Sheindi Ehrenwald erwähnt etwa das „schreckliche Schicksal der Menschen in der Slowakei“. Dasselbe taten die ungarischen Programme der BBC. All das verhinderte nicht, dass die Deutschen ihren Plan, die ungarischen Juden zu ermorden, umsetzten. Am 14. Mai 1944 begannen die Deportationen aus den ungarischen Provinzen nach Auschwitz, mit 12.000-14.000 Menschen pro Tag.

Im Rahmen der Ausstellung „Deportiert nach Auschwitz – Sheindi Ehrenwalds Aufzeichnungen“ finden sich Sheindis Aufzeichnungen jetzt an der Stelle, an der zuvor das Auschwitz-Modell des polnisch-katholischen Künstlers Mieczyslaw Stobierski stand. Er hatte das Modell 1995 – 50 Jahre nach der Befreiung Auschwitz – in Krakau angefertigt. Dass wir durch diese letzte Veränderung der jetzigen Dauerausstellung ein jüdisches Opfer zur Sprache kommen lassen, ist uns wichtig. Die Aufzeichnungen von Sheindi Ehrenwald sind ein Dokument, welches uns ermöglicht, die damaligen fürchterlichen Verbrechen zu erinnern.

Verweis

1 Dan Diner: Zeitenschwelle: Gegenwartsfragen an die Geschichte, 2010