Christoph Stölzl und das Deutsche Historische Museum

Jürgen Kocka | 5. März 2024

Am 10. Januar 2023 verstarb der Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Museums, Prof. Dr. Christoph Stölzl. Am 17. Februar 2024 wäre er 80 Jahre alt geworden: Mit einem „Abend für Christoph Stölzl“ erinnerten wir an einen enthusiastischen Ideengeber, Kulturhistoriker und Ermutiger, der unser Haus nachhaltig prägte. Die Festrede, die wir hier veröffentlichen, hielt Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Jürgen Kocka.

Jürgen Kocka bei der Festrede zur Erinnerung an Christoph Stölzl im DHM am 17.02.2024, Foto: © DHM/Matthias Völzke


Christoph Stölzl war vieles zugleich und nacheinander: Historiker, Museumsdirektor, Feuilletonchef, Abgeordneter und Senator, Auktionator, Präsident einer Musikhochschule, daneben kontinuierlich Autor und öffentlicher Intellektueller: ein Mann vieler Berufe, Rollen, Interessen und Talente. Er war damit originell und erfolgreich.  Zukünftige Stölzl-Biografen – und die wird es geben – werden herausfinden müssen, aus welchen inneren Antrieben sich seine risikobereite,  ideenreiche, produktive, rastlose Öffnung zu immer Neuem ergab, und aus welchen Quellen seine Kraft stammte, um dennoch die kontrollierte, kohärente, imponierende  Persönlichkeit zu sein, die er war.

Aber seine Tätigkeit als Gründer und erster Direktor des DHM von der Mitte der 1980er bis zum Ende der 1990er Jahre ragt in seiner Biografie hervor. Sie hat ihn zu einer Figur der Zeitgeschichte gemacht, durch sie ist er zu einem einflussreichen, wirkungsvollen Akteur der Kulturpolitik geworden, im Übergang von der Bonner zur Berliner Republik.

Auf Christoph Stölzl und die Entstehung des DHM konzentriere ich mich im Folgenden. Es ist die Periode, in der ich am meisten mit ihm zu tun hatte. Und es passt in eine Veranstaltung, mit der dieses Haus an seinen Gründer – und damit auch an die mit seiner Gründung verbundenen Erwartungen – erinnert.

Die Diskussion über ein deutsches Nationalmuseum nahm Anfang der 1980er Jahre Fahrt auf, auch angeregt durch vorangehende erfolgreiche historische Ausstellungen – über die Staufer (1977), die Wittelsbacher (1980) und über „Preußen. Eine Bilanz“ 1981 im hiesigen Gropius-Bau. Besonders diese Preußen-Ausstellung war wichtig, sie hatte beispielsweise zur Folge, dass über Sinn und Unsinn eines Deutschen Historischen Museums oder aber – alternativ – eines „Forums für Geschichte und Gegenwart“ diskutiert wurde, das ganz und gar auf thematisch wechselnde Ausstellungen unter der Regie wechselnder Ausstellungsmacher setzen würde. Zum „Forum“ tendierte die Regierung des Landes Berlin mit Volker Hassemer als zuständigem Senator.

In der Regierungserklärung des neugewählten Bundeskanzlers Helmut Kohl von 1983 und im „Bericht zur Lage der Nation“ von 1985 wurde dagegen die Errichtung eines Deutschen Historischen Museums angekündigt, zuletzt als „Geburtstagsgeschenk“ des Bundes an die Stadt Berlin zu deren bevorstehendem 750. Jubiläum im Jahr 1987. Der Kanzler sah das DHM zusammen mit dem gleichzeitig geplanten und errichteten „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ als einen Teil der „Wende“, die er nach den langen Jahren sozialliberalen Regierens in Gang setzen wollte. Man mag bezweifeln, dass eine solche Wende wirklich stattgefunden hat. Aber sie zeitigte einige Ergebnisse, die beiden Museen gehören dazu. Sie wären wohl ohne das entschiedene Engagement des Kanzlers nicht entstanden.

In Berlin war man über das Angebot nicht nur erfreut. Überhaupt gewann die Kritik an dem Vorhaben 1985/86 erheblich an Fahrt, und zwar parallel zum „Historikerstreit“ von 1985/86, dieser heftigen, in den allgemeinen Medien von Historikern und anderen ausgetragenen Kontroverse um den Ort des Holocaust in der deutschen Geschichte. Der wichtigste Einwand gegen das Museum beruhte auf der Befürchtung, hierdurch werde der „Entsorgung“ deutscher Geschichte Vorschub geleistet, die Erinnerung an deren dunkle Seiten marginalisiert und insofern ein Stück „Schadensabwicklung“ betrieben, mit dem Ziel einer nationalpolitisch eingefärbten Identitätsbildung durch ein regierungsseitig indoktriniertes Geschichtsbild.

1985 wurde eine Sachverständigenkommission eingesetzt mit Museumspraktikern (darunter Stölzl, der damals das Münchener Stadtmuseum leitete), Historikern (darunter auch ich) und anderen, unter dem Vorsitz von Werner Knopp, dem Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Diese Kommission hatte den Auftrag, ein Konzept für das geplante Museum zu erarbeiten. Sie hat sehr selbstständig gearbeitet, ohne weitere inhaltliche Vorgaben durch die beteiligten Regierungen. Zahlreiche Hearings und mehrere Konferenzen fanden statt, die Medien begleiteten unsere Arbeit kritisch, selten dürfte ein großes Museum mit so viel Öffentlichkeit konzipiert worden sein. Ich rekapituliere drei von der Kommission getroffene Entscheidungen, die überdauert haben.

Zwar blieb es bei der Entscheidung für ein Museum, aber die nicht mehr weiter verfolgte Idee eines Forums fand gleichwohl Eingang in das Konzept, denn dieses sah ein Museum mit zwei Standbeinen vor: eine Dauerausstellung zur deutschen Geschichte und die Veranstaltung von zeitlich begrenzten Ausstellungen zu wechselnden, auch aktuellen Themen in Folge, an denen auch Gestalter von außen beteiligt sein sollten.

Was die Inhalte und Ziele des zu errichtenden Museums anging, hat in den Diskussionen der Kommission nie die Gefahr einer nationalgeschichtlichen, gar nationalistischen Engführung bestanden. Als Aufgabe wurden Aufklärung und Verständigung, Erkenntnis und Besinnung im Umgang mit der „deutschen Geschichte in ihrem europäischen Zusammenhang und ihrer inneren Vielfalt“ formuliert. Unbedingt zu berücksichtigende Thematiken wurden umrissen , darunter die Frage nach nationalen Gemeinsamkeiten der Deutschen; Herrschafts- und Staatsbildung, Freiheit und Unterdrückung;  soziale Ungleichheiten und Konflikte; Wirtschaft, Arbeit und das Verhältnis zur Natur; kulturelle und religiöse Deutungen, Wissen und Wissenschaft. Es war ein Vorschlag zur Befassung mit deutscher Geschichte in zivilisationsgeschichtlicher Absicht, verbunden mit dem Aufruf, die dunklen Seiten dieser Geschichte weder zu verdrängen noch zu verabsolutieren.1 Die Befürchtung, dass das DHM eine Anstalt zur vaterländischen Aufrüstung bei gleichzeitiger Relativierung der NS-Vergangenheit sein würde, trat in den Kommentaren nach seiner Eröffnung – aus gutem Grund – völlig zurück.

In Bezug auf diese Grundsatzentscheidungen gab es in der Kommission sehr viel Konsens. Anderes war umstrittener. So betonten die einen sehr den Primat der auszustellenden Objekte und deren Fähigkeit, für sich selbst sprechen, wenn man ihnen nur ihre Authentizität und ihre Aura „zurückgäbe“. Andere, betonten jedoch, dass Exponate – wie andere historische Quellen auch – erst durch Fragen zum Sprechen gebracht würden. Sie setzten die Formulierung von Leitfragen durch, auch um größere Zusammenhänge begreiflich zu machen. Mit dieser Differenz verband sich die Frage nach dem angemessenen Verhältnis zwischen thematisch- analytisch und chronologisch gliedernden Darstellungsformen. Die Kommission verwandte einige Mühe darauf, eine angemessene Kombination beider Darstellungsprinzipien mithilfe unterschiedlich gestalteter Raumtypen vorzuschlagen.

Das Konzept, auf das sich die Kommission einigte, wurde regierungsseitig akzeptiert. Es lag zu Grunde, als das DHM am 28. Oktober 1987 in einer festlichen Veranstaltung im Reichstagsgebäude gegründet wurde, mit Christoph Stölzl als „Generaldirektor und Professor“ an der Spitze.

Was er, der aus München nach Berlin umziehende Gründungsdirektor, im Gepäck hatte, so schrieb Christoph Stölzl später in der Rückschau, „ das war die Erfahrung mit großen historischen Ausstellungen und die Praxis in der Leitung eines kulturgeschichtlichen Museums, das von der Gemäldegalerie bis zur Kinemathek alle Objektgattungen und Medien unter einem Dach vereinigte.“ Und er habe die „Lust zur Politik“ mitgebracht.2

Die „Lust zur Politik“ konnte er gut gebrauchen. Denn die Implementierung des Vorhabens stieß immer wieder auf Schwierigkeiten, unter anderem beim neu gewählten rot-grünen Berliner Senat, in einflussreichen Teilen der Berliner Öffentlichkeit und in den Verhandlungen mit den A- und B-Ländern im deutschen föderalen System.

Schnell gelang es – und das war sehr wichtig –, hoch qualifizierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, Kolleginnen und Kollegen zu gewinnen. Das gab der deutsche Arbeitsmarkt her, auch und gerade in Berlin, nach den vorausgegangenen Ausstellungen (zuletzt „Berlin-Berlin“ zum 750. Stadtjubiläum). Die rasch rekrutierte Kerngruppe von meist jüngeren Wissenschafts- und Museumsleuten machte sich unter Stölzls Leitung sofort an eine umfassende Erwerbungskampagne mit internationaler Reichweite, denn an historischen Objekten fehlte es dem neuen historischen Museum fast ganz, Geld dagegen war aus dem Bundeshaushalt hinreichend vorhanden.

Man betrieb die Vorbereitung des Museumsbaus. Den internationalen Wettbewerb gewann 1988 der Mailänder Architekt Aldo Rossi, mit einem hochinteressanten, postmodernen Entwurf, der im Spreebogen realisiert werden sollte.

Christoph Stölzl bei der Eröffnung der Ausstellung „1.9.39 Ein Versuch über den Umgang mit Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg”, 1.9.1989, Windscheidstraße, Berlin © DHM

Die erste, kleine und etwas improvisierte Wechselausstellung eröffnete das neue Museum am 1.  September 1989, in Erinnerung an den deutschen Überfall auf Polen genau 50 Jahre zuvor, mit dem der Zweite Weltkrieg begonnen hatte. Sie wurde in den Kellerräumen eines Industriehofs in Berlin-Charlottenburg gezeigt, wo das entstehende DHM provisorisch untergekommen war. Es war wohl eine typische Stölzl-Idee, die Ausstellung mit dem Titel „Versuch über den Umgang mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg“ morgens um 4.45 Uhr zu eröffnen. Damit spielte man auf die oft zitierte Erfolgsmeldung Hitlers an, der am 1.9.1939 im Rundfunk die deutsche Bombardierung der polnischen Befestigungen auf der Westerplatte vor Danzig mit den propagandistisch verdrehten Worten bekannt machte: „Seit 4:45 Uhr wird zurückgeschossen“. Aber Stölzl kam nicht zur Eröffnung um 4.45 Uhr, er kam etwa eine Stunde zu spät. Es waren eine Menge Leute da, und so hatten die Stellvertretende Direktorin Marie-Louise von Plessen und ich als Mitglied der Sachverständigenkommission die Ehre, die erste Ausstellung des DHM zu eröffnen, mit ein paar improvisierten Sätzen, natürlich längst nicht mit der rhetorischen Finesse, die Stölzl zur Verfügung gestanden hätte, wäre er da gewesen. In späteren Rückblicken ist diese erste Ausstellung des DHM meist übersehen worden, überstrahlt durch die glanzvolle und opulente Bismarck-Ausstellung im Gropius-Bau, ein Jahr später. Aber man sollte sie nicht vergessen.

Dann aber holte der reale Geschichtsverlauf das Geschichtsmuseum ein, in Gestalt des Mauerfalls und der deutschen Wiedervereinigung. Die Planung überlebte im Großen und Ganzen, aber praktisch änderte sich einiges. Im Spreebogen, wo der Grundstein für das neu zu errichtende Gebäude des DHM gelegt worden war, entstand – an eben dieser Stelle – das Bundeskanzleramt. Der für das Konzept maßgeschneiderte Entwurf Rossis wurde nicht realisiert, dass DHM zog vielmehr nach einigen provisorischen Zwischenstationen ins Zeughaus Unter den Linden 2 ein, und übernahm das bis dahin dort residierende Ostberliner „Museum für deutsche Geschichte“ – nicht seine Struktur und Ideologie, aber seine Schätze, d.h. Objekte, Depots und einen großen Teil seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Die Planung wurde an das alte Gebäude angepasst. Dabei ging auch manches aus der ursprünglichen Konzeption verloren, was im Rossi-Bau realisiert worden wäre, etwa die bauliche Unterscheidung zwischen Epochen-, Vertiefungs- und Themenräumen.

Es folgte eine lange Reihe hoch interessanter, teils fulminanter, durchweg sehr publikumswirksamer Wechselausstellungen, seit 2003 in diesem Gebäude, für dessen architektonische Gestaltung Stölzl, während eines Besuchs in New York, den international hoch renommierten Architekten Ieoh Ming Pei gewonnen hatte, zweifellos ein Glücksfall (oder, besser, ein Geniestreich). Es waren die Wechselausstellungen, die in den nächsten anderthalb Jahrzehnten das Bild des DHM in der Öffentlichkeit positiv prägten und ihm das hohe Maß an Zustimmung und Anerkennung einbrachten, das es bald auszeichnete.

Denn die Vorbereitung der chronologisch aufgebauten Dauerausstellung unter dem Titel „Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen“ im Hauptgebäude brauchte länger, sie wurde – nach einem provisorischen Überblick Mitte der 90er Jahre – erst 2006 eröffnet, lange nach dem Weggang Stölzls zunächst zur „Welt“ und dann in die Berliner Politik, unter der Regie seines Nachfolgers Hans Ottomeyer. Auch diese Dauerausstellung war am Gründungskonzept von 1987 orientiert, wenn auch nicht in jeder Hinsicht. Die expliziten Leitfragen, die analytischen Vertiefungen und die der Umschau dienenden Haltepunkte traten sehr weit zurück.3

Bedenkt man, wie umstritten, ja umkämpft das Vorhaben vor allem in den 80er Jahren war, fragt man sich, wieso es dennoch, aufs Ganze gesehen, so glatt entstand und gut gelang. Es gibt mehrere Antworten:

Da war das sehr entschiedene, sehr wirkungsvolle Engagement Helmut Kohls in einer von ihm als Gelegenheit zur politisch-kulturellen Wende wahrgenommenen Konstellation, ein Engagement, das er mit finanzieller Großzügigkeit und persönlicher Ausdauer realisierte. Und Kohl war mächtig.

Da war die äußerst geschickte, sehr stark auf breiten Konsens zielende Vorgehensweise der beteiligten Entscheidungspersonen. Früh wurde ein relativ breites, wenn auch nicht unbegrenztes Spektrum politisch unterschiedlich verorteter Personen einbezogen. Man könnte es an der Zusammensetzung der Sachverständigenkommission zeigen, in der Historiker saßen, die im sogenannten „Historikerstreit“ auf gegensätzlichen Seiten gestanden hatten und standen. Mir scheint, dass der Verleger Wolf Jobst Siedler, der große Personalkenntnis und Verbindungen in verschiedene intellektuelle Kreise besaß, als Ratgeber und Pate des Ganzen eine sehr wichtige Rolle gespielt hat.

Und da war die Tatsache, dass in den nicht-öffentlichen, kleinformatigen, strikt problem- und gegenstandsbezogenen Diskussionen der Historiker, Museumsleute, Politiker und Intellektuellen – in jenen letzten Jahren der Bonner Republik und in der entstehenden Berliner Republik – sehr viel mehr stillschweigender Konsens zum Vorschein kam, als es die oft erregten und zugespitzten Debatten in der medienvermittelten Öffentlichkeit vermuten ließen. Andererseits haben diese leidenschaftlichen Kontroversen in der Öffentlichkeit und das sich darin ausdrückende tiefe Misstrauen gegen den Museumsplan die Akteure in der Politik zu besonderer Vorsicht und Rücksicht veranlasst, was die Gründung des Museums erleichterte.

Schließlich kann man in der Rückschau erkennen, dass Verschiebungen im kulturellen Umgang mit der Geschichte stattfanden, die sich auf das Museumsprojekt günstig auswirkten. Die Bereitschaft, Geschichte als Quelle von Identitätsbildung zu akzeptieren, nahm in vielen Formen und auf verschiedenen Ebenen seit den späten 70er Jahren zu, nicht nur in der Bundesrepublik. Auch in der DDR zeigte sich diese Tendenz, als man sich in den 80er Jahren der Geschichte Preußens als Teil der eigenen Tradition zuwandte. Damit wurde die deutsch – deutsche Konkurrenz um die Deutung der gemeinsamen Geschichte heftiger – ein weiteres Motiv für die Einrichtung von Institutionen wie dem DHM. Dann die Wiedervereinigung: sie brachte Entscheidungen in lange ungelösten Fragen nach dem Zusammenhalt und den Grenzen Deutschlands. Sie warf aber auch neue Fragen auf, die historischer Antworten bedurften, etwa zur Geschichte der deutschen Diktaturen im Vergleich und zu Deutschlands Ort in Europa. Wer an der Berechtigung der Frage nach Nation und Nationalstaat gezweifelt und sie als passé abgehakt hatte, sah sich eines Besseren belehrt, wenn er unvoreingenommen die ungestüme Rückkehr des Nationalstaats als eines zentralen Ordnungsfaktors in die Gegenwart Deutschlands und Osteuropas seit dem Ende der 80er Jahre beobachtete. All das bedeutete Rückenwind für ein Projekt wie das DHM. Es ist in den Auseinandersetzungen der späten Bonner Republik entstanden und entschieden worden, aber erst in der Berliner Republik ausgeformt und realisiert worden. Man kann seine Frühgeschichte als Teil der inneren Wiedervereinigung verstehen, westlich inspiriert und dominiert, aber mit gesamtdeutsch-europäischer Perspektive und mit einigen inhaltlich-institutionellen Anpassungen an die neue Situation.

Ein weiterer, zentraler Grund für den Erfolg des DHM wird klar, wenn man Person und Rolle seines Gründungsdirektors betrachtet. Christoph Stölzl, der anderthalb Jahrzehnte lang die Entwicklung des DHM stark beeinflusst hat, war ein Glücksfall für das entstehende Museum.

Stölzl war studierter Historiker, hatte selbst wissenschaftlich gearbeitet, zur Geschichte des Habsburger Reichs, zur Geschichte Böhmens, dabei vor allem zur Geschichte der böhmischen Juden, mit besonderem Interesse an Kafka. Sein historisches Interesse war tief verankert und durchaus kritisch, bis zu seinem letzten Großprojekt, seiner Mitarbeit an dem in Berlin geplanten Exilmuseum. Von dieser geschichtsaffinen Grundposition her ist es ihm gelungen, ungeachtet vielfältiger Kritik im Einzelnen den Respekt der unterschiedlichsten Fachvertreter zu gewinnen, die an dem Projekt DHM beteiligt waren – von den häufig skeptischen Museumspraktikern bis hin zu Historikern und Historikerinnen auch im linken Teil des wissenschaftlich-politischen Spektrums.

Historiker müssen sich, wenn sie synthetisieren, mit vielen Sachgebieten beschäftigen, für die sie nicht speziell ausgebildet sind. In gewisser Hinsicht sind sie immer auch Dilettanten. Das gilt in besonderem Maße für Stölzl, und das war eine seiner Stärken. Gerade die Tatsache, dass er meist als Nicht-Spezialist auftrat, sich oft nicht genau festlegte und manches in der Schwebe, im Ungefähren hielt, gerade das erleichterte ihm in kontroversen Situationen das intellektuelle Überleben und verstärkte seine Durchsetzungskraft.

Stölzl gab den Versuch einer wissenschaftlichen Karriere auf, er strebte danach zu gestalten. Und dies gelang ihm, auch im Fall des entstehenden DHM, in dreifacher Hinsicht. Zum einen hatte er in seinen Münchener Jahren – learning by doing – die Fähigkeit zum institutionellen Arbeiten erworben, als Leiter des Stadtmuseum. Die brauchte er auch als DHM – Direktor, auch wenn er vieles zu delegieren verstand.

Zum andern wusste er, dass zur Errichtung eines Museums, wie zur Organisation jeder Großausstellung, Diplomatie gehört. Er beherrschte sie, gewann Personen und Positionen auch im ganz kleinen Kreis. Er erwarb das Vertrauen von Kanzler Kohl, beriet ihn in wichtigen kulturpolitische Fragen: bei der Gestaltung der „Neuen Wache“, in Bezug auf das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, vermutlich auch in Bezug auf den partiellen Wiederaufbau des Stadtschlosses. So verfügte er über großen Einfluss, was seiner Leitungstätigkeit im DHM und überhaupt dem DHM sehr zu statten kam.

Stölzl war drittens ein Mann der Öffentlichkeit. Er konnte öffentlich sprechen, zumeist ohne Manuskript, aber druckreif. Er war rhetorisch brillant. Seine Neugier wirkte ansteckend, er verbreitete Frohsinn selbst in krisenhaften Situationen, seine Reden besaßen meist zugleich hohen Unterhaltungswert. Er besaß ein immenses Bildungswesen, das er wohl auch seiner bildungsbürgerlichen Herkunft verdankte und über das er frei, einfalls- und assoziationsreich verfügte. Kai-Uwe Peter, Präsident der Deutschen Schiller-Gesellschaft, formulierte das kürzlich so: „Christoph Stölzl konnte mühelos von Michelangelos römischer Pieta über die späte Industrialisierung in den deutschen Ländern zum frömmelnden Marienkult in Bayern und den Klebeetiketten der ersten Münchner Flaschenbiere flanieren.“ Ja, Stölzl schätzte das Flanieren, nicht zufällig engagierte er sich 2016 für die schöne Ausstellung über „Harry Graf Kessler – Flaneur durch die Moderne“ im Liebermann-Haus. Trotzdem passt es nicht, Stölzl als „Flaneur“ zu bezeichnen. Dafür war er viel zu sehr jemand, der nicht nur beobachtete, sondern auch mit Engagement entschied und gestaltete. Dass aber ein solch fliegender Wechsel von einem zum andern Thema fast notwendig mit gelegentlicher Ungenauigkeit verbunden war, hätte Stölzl ohne weiteres zugegeben.

Diese drei Erweiterungen seiner fachmännischen Qualität – als Institutionenleiter, Diplomat und Mann der Öffentlichkeit – brachte er zusammen, nicht zuletzt durch seinen persönlichen Charme. Dem DHM kam dies zweifellos zugute.

Schließlich: Stölzl war kein Linker. Soweit er sich parteipolitisch engagierte, geschah dies in der FDP und dann in der Berliner CDU, der er kurzzeitig vorsaß. Er galt vielen als Konservativer. Selbst lehnte er es nicht ab, so eingeordnet zu werden, wenn er es auch vorzog, sich als Bürger zu beschreiben. Und auch in seiner Zeit als DHM-Gründer und -Direktor finden sich häufig Entscheidungen und dahinterliegende Überzeugungen, die man gemeinhin als konservativ bezeichnen würde, politisch wie ästhetisch. Aber diese Haltung verband er mit ausgeprägter Experimentier- und Unternehmungslust, mit sprudelnder Ideenvielfalt und Risikobereitschaft, mit Neugier, Zukunftsvertrauen und Reformlust, für die das Wort konservativ sich nicht direkt anbietet. Seine thematischen Interessen als Historiker – etwa für jüdische Geschichte, Antisemitismus oder Exil – stehen nicht gerade für ausgeprägten Konservatismus. Sein Auftreten, seine Kleidung, sein Habitus wirkten urban, nicht konservativ. Sollte man von einem „progressiven Konservativen“ sprechen, oder von einem liberal-konservativen Reformer, oder gar, um eine bekannte Theaterintendantin zu zitieren, von einem „konservativen Anarchisten“?

Lassen wir es offen.

Ich erinnere mich mit großer Hochachtung an Christoph Stölzl und bedaure, dass wir ihm zu seinem heutigen 80. Geburtstag nicht mehr persönlich gratulieren können.


Verweise

  1. Ch. Stölzl (Hg.), Deutsches Historisches Museum. Ideen – Kontroversen – Perspektiven, Berlin 1988, S. 609-636, bes. 611-614. ↩︎
  2. Ch. Stölzl, Wie die Idee eines Deutschen Historischen Museums Gestalt annahm, 1985-1999, in: Zwanzig Jahre Deutsches Historisches Museum, Berlin 2007, S. 33-42, hier 36. ↩︎
  3. J. Kocka, Ein chronologischer Bandwurm. Die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums, in: Geschichte und Gesellschaft 32, 2006, S. 398-411 ↩︎