Demokratie und Gewalt

Die Karikatur des Künstlers George Grosz erschien Anfang April 1919 auf der Titelseite der illustrierten Satirezeitschrift „Die Pleite“, kurz nachdem eine Reihe von Gewaltausbrüchen die Stadt Berlin und die junge Weimarer Republik erschüttert hatte: die Märzunruhen des Jahres 1919.

Der spöttische Bildunterschrift

„Prost Noske! - - das Proletariat ist entwaffnet!“

gilt dem karikierten Gustav Noske, der uniformiert und triumphierend zwischen zahlreichen Toten dem Leser sein Champagnergläschen entgegenhält.

Wer war Gustav Noske?

Gustav Noske war Mitglied des Rats der Volksbeauftragten. Diese provisorische Regierung leitete die Staatsgeschäfte vom 10. November 1918 bis zum 13. Februar 1919, in der Übergangszeit zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik. Sie bestand zunächst aus drei Vertretern der Mehrheitssozialdemokratischen Partei Deutschlands (MSPD) und drei Vertretern der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD).

Der Rat war von Anfang an zerstritten. Während die gemäßigte MSPD eine parlamentarische Demokratie anstrebte, verfolgte die linke USPD eine sozialistische Räterepublik. Die Räterepublik ist ein politisches System, wie es sich in der russischen Oktoberrevolution durchgesetzt hatte. Gruppen von Bürgern, z.B. Soldaten einer Kaserne, wählen über ein Stufensystem Räte, die sie vertreten und die ihnen direkt weisungsgebunden sind.

 

In den ersten Wochen der deutschen Revolution 1918/19 wurden die Hoffnungen der Befürworter einer Räterepublik, der Spartakusbund und der linke USPD-Flügel schwer enttäuscht: 

Der Erste Allgemeine Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands, der vom 16. bis 21. Dezember 1918 in Berlin tagte, sprach sich für das System einer parlamentarischen Demokratie und für die Wahl einer Nationalversammlung am 19. Januar 1919 aus.

Die Mehrheitssozialdemokraten Gustav Noske und Rudolf Wissel wurden Mitglied eines neuen fünfköpfigen Rates der Volksbeauftragten, nachdem die USPD-Mitglieder wegen den Weihnachtskämpfen 1918 am 29. Dezember 1918 den Rat verlassen hatten: der Leiter des Rates und MSPD-Mitglied Friedrich Ebert hatte Frontsoldaten gegen eine der USPD nahestehenden Volksmarinedivision eingesetzt.

Mit diesem Bruch zwischen den beiden Linksparteien begann eine neue radikale Phase der Revolution. Gustav Noske wurde Volkbeauftragter für Heer und Marine und ließ Freikorps anwerben, um die Schlagkraft der Regierungstruppen zu verbessern.

Freikorps

Die Freikorps waren Truppenverbände aus Freiwilligen. Schon zur Zeit der Napoleonischen Kriege hatte es sie gegeben. Während der Revolution 1918/19 wurden in Absprache mit der Obersten Heeresleitung zahlreiche Brigaden gegründet, um die Revolution zu bekämpfen. Es gab im Jahr 1919 mehr als 100 Freikorps mit etwa 250.000 Mann, die ab dem 6. März in die Reichswehr überführt wurden.

Erster Reichswehrminister der Weimarer Republik war seit Februar 1919 Gustav Noske.

Die Märzunruhen 1919

In der Hauptstadt der jungen Republik kam es in den Märztagen 1919 zu Straßenschlachten und Hinrichtungen mit mehr als 1200 Opfern, darunter Arbeiter und Regierungssoldaten sowie zahlreiche unbeteiligte Zivilisten.

Wie konnte es zu diesen blutigen Unruhen kommen?

Am 3. März 1919 entschied die Vollversammlung des Groß-Berliner Arbeiterrates die Ausrufung eines Generalstreiks: Unabhängige Sozialdemokraten, Kommunisten und Sozialdemokraten forderten die Anerkennung der Arbeiterräte, die Überführung der Großbetriebe in Gemeineigentum und die Ersetzung der Regierungstruppen durch ein Heer revolutionärer Arbeiter.

Schon am ersten Tag des Streiks verhängte das Preußische Staatsministerium den Belagerungszustand über Berlin, denn die Befürchtung war groß, dass Spartakisten die Herrschaft im Land übernehmen könnten, so wie die Bolschewisten in Russland im Oktober 1917. Reichswehrminister Noske fiel die ausübende Befehlsgewalt in Berlin zu.

Belagerungszustand

Der Ausnahmezustand für ein räumlich begrenztes Gebiet ermöglicht Einsätze des Militärs im Inneren des Landes und gibt den Militärbehörden erweiterte Machtbefugnisse auch im zivilen Bereich. Bürgerliche Grundrechte können außer Kraft gesetzt werden. Der Belagerungszustand war 1919 in Preußen durch das 
Gesetz vom 4. Juni 1851 geregelt.

71 Jahre vor dem Generalstreik im Frühling 1919 gab es schon einmal revolutionäre Märzunruhen:
die Märzrevolution 1848.
Am 13. März 1848 war das Militär in Berlin gegen oppositionelle Volksversammlungen vorgegangen. Die Barrikadenkämpfe vom 18. und 19. März zwischen Demonstranten und königlichen Truppen forderten mehrere hundert Todesopfer.

König Friedrich Wilhelm IV. musste zunächst gegenüber den Revolutionären zahlreiche Zugeständnisse machen, die er aber 1849 wieder zurücknehmen konnte.
Das Gesetz vom 4. Juni 1851 zum Belagerungszustand war eine Reaktion auf die Märzrevolution 1848.

Erste Gewaltausbrüche am Alexanderplatz

Am ersten Tag des Generalstreiks versammelte sich eine große Menschenmenge vor dem Polizeipräsidium am Alexanderplatz.

In der Nacht kam es zu Plünderungen von Geschäften und Polizeirevieren, ersten Schusswechseln und Toten, darunter sowohl Polizisten als auch Angreifer. 

Am 4. März ließ Gustav Noske Freikorpsverbände in die Innenstadt marschieren.

Am 5. und 6. März kam es am Alexanderplatz zu einer regelrechten Schlacht zwischen den Freikorps einerseits und der Republikanischen Soldatenwehr und der Volksmarinedivision andererseits. Diese zwei links-orientierten republikanisch-revolutionären Truppenverbände sollten die Plünderer festnehmen, verteilten dann aber Waffen an die versammelten Arbeiter, nachdem sie von Freikorpssoldaten beschossen worden waren.

Als die Freikorpssoldaten am 6. März schwere Artillerie, einen Panzer und Flugzeuge einsetzten, zogen sich die sogenannten „Aufständischen“ in die östlichen Gebiete der heutigen Stadt Berlin zurück. Der Begriff der „Aufständischen“ wird damals wie heute oft von den Gegnern benutzt, die so benannten Demonstranten sehen sich selbst nicht als „Aufständische“.

Weiterführung der Kämpfe im Osten

Der Streik wurde am 8. März beendet, die Kämpfe, die parallel dazu ausgebrochen waren, verlagerten sich vor allem in die damals noch unabhängige Stadt Lichtenberg im Osten Berlins, die 1920 eingemeindet wurde, und den Berliner Bezirk Friedrichshain.

Dort bauten Matrosen, Soldaten der Republikanischen Soldatenwehr, Arbeiter und Anwohner Barrikaden. Sie waren mit Gewehren und Pistolen bewaffnet.

Um gegen sie vorzugehen, benutzten die Regierungstruppen die Einschnürungstaktik: Die Kampfzone wurde abgeriegelt und mit Artilleriegeschützen, Mörsern, Maschinengewehren – ohne Rücksicht auf zivile Opfer –beschossen. Jagdflugzeuge wurden zu Erkundungsflügen eingesetzt.

Minenwerfer richteten oft verheerende Schäden an Wohnhäusern an. So auch in der Alten Schützenstraße, wo sie einen einen ganzen Dachstuhl zerstörten.

Fake-News Anno 1919 und Schießbefehl


Nach Beschuss einer Vermittlungsdelegation griffen am 8. März 1919 etwa 300 „Aufständische“ das Polizeipräsidium von Lichtenberg an. Dort befanden sich ungefähr 50 Polizisten zum Teil mit ihren Familien. 

Ein Teil der Polizeibeamten wurde gefangengenommen, aber in der unübersichtlichen Gemengelage konnte der Polizeipräsident entkommen und den Regierungstruppen Bericht erstatten.

Am 9. März druckte die B.Z. am Mittag unter dem Titel „Furchtbarer Massenmord durch Spartakisten in der Warschauer Straße“ die Nachricht, dass 60 Polizeibeamte ermordet worden seien.

Diese Nachricht war, wie sich später herausstellte, falsch: Bei dem Angriff auf das Polizeipräsidium wurden zehn Menschen getötet, davon zwei Polizisten, 20 wurden verletzt und 20 wurden gefangen genommen.

Die irreführende Meldung wurde von zahlreichen Zeitschriften ohne Überprüfung, verbreitet, da die Reporter nicht in die abgeriegelten Kampfgebiete kamen und Militärberichte übernahmen. Vermutlich wurde mit dieser Falschmeldung – heute würde man Fake News sagen – allerdings auch Noskes Reaktion auf den Angriff auf die Polizei vorbereitet.

Er gab noch am selben Tag einen folgenreichen Erlass heraus, der Grosz den Anlass für seine Karikatur liefern sollte:

„Die Grausamkeit und Bestialität der gegen uns kämpfenden Spartakisten zwingen mich zu folgendem Befehl:
Jede Person, die mit der Waffe in der Hand gegen die Regierungsgruppen kämpfend angetroffen wird, ist sofort zu erschiessen.“

Mit Noskes Schießbefehl hatten die radikalisierten Regierungstruppen freie Hand, als sie am 12. März Lichtenberg besetzten.

Standgerichte sprachen im Schnellverfahren Urteile aus, wie zum Beispiel im Gasthaus „Schwarzer Adler“, wo elf Menschen zum Tode verurteilt wurden. Sie wurden an einer Friedhofsmauer hingerichtet. Unter den Getöteten waren der 16-jähriger Walter Pormann und ein Arbeiter, der mit seinem 15-jährigen Sohn hingerichtet wurde.

Diese sogenannte „Blutsmauer“ befindet sich im Rathauspark Lichtenberg.

Auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris gibt es auch eine Mauer, die zur Hinrichtung von Aufständischen durch eine republikanische Regierung gedient hat. Während der Zeit der „Kommune“ im Jahr 1871 hatte die Nationalgarde und Arbeiterschaft von Paris sich gegen die konservative Zentralregierung der Dritten Republik erhoben. 

Die Regierungstruppen besiegten die Kommunarden in blutigen Straßenkämpfen. Am 28. Mai 1871 wurden die letzten 147 Aufständischen auf dem Friedhof zusammengetrieben und an der Friedhofsmauer erschossen. Insgesamt wurden in Paris während des zweimonatigen Aufstandes etwa 20 000 Männer und Frauen standrechtlich erschossen. 

In Lichtenberg fanden zahlreiche Exekutionen aufgrund von Waffenfunden statt. Es gab aber auch Tötungen wegen Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei Deutschlands oder um die Opfer auszurauben.

Am 16. März 1919 wurde der Schießbefehl aufgehoben. Nach Noskes Bericht waren zwischen dem 3. und dem 16. März 1200 Personen den Kämpfen zum Opfer gefallen. Auf Regierungsseite waren es 75 Personen, plus Vermisste und 150 Verletzte.

Der Großteil der Opfer waren dementsprechend Aufständische und Zivilisten, die durch den großflächigen Einsatz von Kriegswaffen tödlich verletzt wurden.

Als Noske am 13. März 1919 den Sieg der Regierungstruppen verkündete, beteuerte er:

„Getan habe ich, was ich gegenüber dem Reiche und dem Volke für meine Pflicht hielt. Ich scheue das Urteil unserer Nation nicht.“

Der Schießbefehl fand breite Zustimmung in den eigenen Reihen der Sozialdemokraten. Der Großteil der Presse und der Bevölkerung verteidigte den Schießbefehl, zur Bekämpfung der sogenannten „Bestie“ der Spartakisten.

Schritt für Schritt auf dem Weg zur Gewalteskalation

Während der Weimarer Republik erlebten die Deutschen eine neue Form von staatlicher Gewalt gegen die eigene Bevölkerung. Sie drückte sich am radikalsten in Noskes Schießbefehl aus. Lieferte die Gewalteskalation der Kämpfe und der Zuspruch eines großen Teiles der Bevölkerung die Voraussetzungen für die brutalen Straßenschlachten Ende der 1920er Jahre zwischen Sturmabteilung und Gruppen anderer Parteien?

Soldaten der Freikorps, die gegen die Aufständischen 1919 gekämpft hatten, wurden oft Mitglieder der paramilitärischen Kampfgruppe der NSDAP, der Sturmabteilung (SA).

Die Schlägertruppen der SA lieferten sich besonders gewalttätige Straßenschachten mit linksgerichteten Parteien, vor allem mit ihrer kommunistischen Entsprechung, dem Rotfrontkämpferbund (RFB). 1930 wurden in der Bevölkerung dieselben Ängste vor einem kommunistischen Umsturz geschürt, wie bereits 1919.

Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold war ein überparteilicher Wehrverband zum Schutz der Republik, der Anfang der 1930 vermehrt in Auseinandersetzungen mit der SA und dem Stahlhelm verwickelt war.

Hermann Göring, der nationalsozialistische Reichskommissar für das Preußische Innenministerium, verfügte den sogenannten „Schießerlass vom 17. Februar 1933“: Polizisten, die gegen deklarierte Staatsfeinde von der Schusswaffe Gebrauch machten, garantierte der Erlass Straffreiheit. Außerdem ordnete er an, dass Polizei und Mitglieder der SA als Hilfspolizisten in gutem Einvernehmen zusammenarbeiten sollten.

Dies führte durch die Notverordnung vom 04. Februar 1933 zum Schutz des deutschen Volkes und durch die Notverordnung vom 28. Februar 1933 zu den rechtlichen Voraussetzungen für Willkürakte der Polizei und schließlich auch der SA.

Staatliche Gewalt in Deutschland nach 1945

Der Begriff des Schießbefehls ist eine Form der staatlichen Gewaltausübung gegen eigene Bürger, die wir auch nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und anderen europäischen Ländern wiederfinden.

Zwischen 1960 und 1989 bestand die Anweisung an die Grenzsoldaten der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), auf Flüchtlinge scharf zu schießen. 1964 wurde dieser Schießbefehl mithilfe von großformatigen Schildern direkt an der Mauer in Richtung Berlin (Ost) angeprangert: „Wer Mord befiehlt, ist doppelt schuldig!“

Staatliche Gewaltanwendung gegen eigene Bürger war kein alleiniges Charakteristikum der DDR. Dieses politische Plakat von Christian Schaffernicht wirft einen ironischen Blick auf staatliche Gewaltanwendungen gegenüber Andersdenkenden in der Bundesrepublik im Jahr 1976. 

Wer definiert, ob staatliche Gewalt übermäßig ist? Wann hört Widerstandsrecht auf und wann beginnt eine Revolution? Zu welcher Gewalt darf der Staat greifen, um eine revolutionäre, prärevolutionäre Situation, einen Aufstand oder eine Demonstrationswelle unter Kontrolle zu bekommen?

Bei diesen Fragen kann wieder der Blick nach Frankreich gehen, dem Land, wo 1797 das erste europäische Gesetz zum Belagerungszustand im eigenen Land bei Aufständen und Bedrohung durch zivile Rebellen erlassen wurde.

Ab Oktober 2018 rief eine Bürgerbewegung zu landesweiten Protesten gegen eine höhere Besteuerung fossiler Brennstoffe auf. Die Protestierenden, die wegen ihrer gelben Warnwesten, die „Gelbwesten“ genannt wurden, stellten während des Winters immer weitere soziale Forderungen.

Die Regierung unter Emmanuel Macron ließ die Polizisten wiederholt mit „nicht tödlichen Waffen“ wie Gummigeschossen oder Blendgranaten auf demonstrierende „Gelbwesten“ schießen: eine Person wurde getötet, der Einsatz der Gummigeschosse und der Granaten führten zu zahlreichen Schwerverletzten, die ein Auge oder eine Hand verloren.

Michelle Bachelet, die Hohe Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, hat die französische Regierung um eine „vertiefte Untersuchung zu Berichten über Fälle exzessiver Gewaltanwendung“ durch die Sicherheitskräfte gebeten. Offizielle Zahlen der Regierung zu den Schwerverletzten gibt es bis heute nicht.

Literatur- und Medientipps:

Jones, Mark: Am Anfang war Gewalt – Die deutsche Revolution 1918/1919 und der Beginn der Weimarer Republik, Berlin 2017.

Lange, Dietmar: Schießbefehl für Lichtenberg, Begleitbroschüre zur gleichnamigen Ausstellung, Bezirksamt Lichtenberg, Berlin 2019.

Silke Christ
25. September 2019

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