> Henning Wenzel: Revolution und Wahl 1918/19

Henning Wenzel: Revolution und Wahl 1918/19

Dieser Eintrag stammt von Henning Wenzel (* 1908) aus Siegen, 04.04.2000:

Zwar bin ich im September 1908 in Magdeburg geboren, betrachte mich aber als Berliner da meine Mutter - nach dem frühen Tode des Vaters - bereits im Frühjahr 1910 mit mir und meinen 3 älteren Geschwistern nach Berlin übersiedelte, wo in ihrem Elternhaus eine passende Wohnung zur Verfügung stand. In Berlin wuchs ich auf, ging da auf das Luisenstädtische Realgymnasium und studierte an der Technischen Hochschule (heute TU). Meine erste Berufstätigkeit war in Hennigsdorf bei Berlin. Erst 1937 ging ich nach Westdeutschland.
Das Elternhaus meiner Mutter lag in der Luisenstadt "diesseits des Kanals", unweit vom Spittelmarkt. Dort erlebte ich das Ende des Ersten Weltkrieges und ab dem 9. November 1918 auch ziemlich hautnah die Revolution und die Zeit der Spartakus-Aufstände. Denn unser Haus lag nicht weit vom Königlichen Marstall (beim Schloß), vom Polizeipräsidium am Alexanderplatz und vom Druck- und Redaktionshaus des sozialdemokratischen "Vorwärts" in der Lindenstraße. Besonders nah lag die Reichsdruckerei (Ecke Ritter-Straße und Alte Jakob Straße). Alle vier genannten Gebäude waren Haupt-Brennpunkte der Kämpfe zwischen den Spartakisten (Kommunisten) und den bewaffneten Verbänden (u.a. Freikorps), die die provisorische Regierung, den "Rat der Volksbeauftragten" (SPD und anfänglich auch USPD), stützten.
Mit Unterbrechungen zogen sich diese Kämpfe wochenlang hin. Von unserer Wohnung hörten wir das MG- und -vom Schloß her- gelegentlich Geschützfeuer. Am Tage ließen wir bei näheren Schußwechseln die Jalousien der Fenster herunter, um uns vor verirrten Kugeln zu schützen. Wir fanden auch einmal einige im Treppenhaus. Nachts ließ uns unsere Mutter manchmal aufstehen, um eventuell in den Keller flüchten zu können. Dazu kam es aber nie.
Überhaupt - im Rückblick kaum verständlich - ging das Leben leidlich normal weiter, gingen wir ohne nennenswerte Unterbrechung zur Schule. Anfang 1919 allerdings einige Wochen in die benachbarte Luisenstädtische Oberrealschule - halbwöchentlich alternierend im Vor- und Nachmittag-Unterricht -, da unser Schulgebäude zur Unterbringung von Truppen geräumt werden mußte. Ich bin heute noch erstaunt, daß unsere sorgliche Mutter mich 10-Jährigen mit meinem 13-jährigen Bruder am Morgen des Heiligabend 1918 zu einem Besuch nach Neukölln, einem damals recht unruhigen Vorort, gehen ließ.
Auch ist es erstaunlich, daß die provisorische Regierung bereits für den 19. Januar 1919 die Wahl zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung ausschreiben konnte (die dann in Weimar zusammentraf) und sich dafür auch bürgerliche Parteien organisieren konnten. Meine Mutter engagierte sich für eine dieser Parteien. Meine Schwester, die damals schon Studentin der Staatswissenschaften war, hielt in einem evangelischen Gemeindehaus eine überparteiliche Rede vor Frauen, um diese in ihre neuen Rechte und Pflichten als Stimmbürgerinnen einzuführen. Aber sie ging auch - mit mir als "männlichem Schutz"- durch Häuser, um Werbezettel für die bürgerliche Partei zu verteilen. Ich erinnere mich, daß wir im Treppenhaus eines Vielfamilienhauses eine junge Frau an einer offenen Wohnungstür antrafen. Die rief in die Wohnung zurück: "wat wähln wir'n?" Eine Männerstimme aus dem Hintergrund: "Scheidemann" (SPD). Meine Schwester: "Lesen Sie sich das mal durch. Wenn der Herr auch Scheidemann wählt, können Sie doch eine andere Partei wählen".
Damals gab es noch keine "Amtlichen Stimmzettel". Jede Partei druckte und verteilte Stimmzettel (etwa DIN A6) mit ihrem Namen und den der ersten Kandidaten in dem betreffenden Wahlkreis. An dem eisig kalten 19.01.1919 standen wir 13 bzw. 10 Jahre alten Brüder stundenlang - mit gelegentlicher Ablösung - vor einem Wahllokal in der Ross-Straße in Berlin-Mitte und teilten Stimmzettel der von unserer Mutter favorisierten Partei an die hineingehenden Wähler aus.
In den Schulklassen - auch in meiner Quinta- bildeten sich eine blaue und eine rote Partei, je nach Einstellung der Eltern in mehr nationaler oder sozialistischer Richtung. Aber es kam nie zu ernstlichen Auseinandersetzungen.


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