TANZ AUF DEM VULKAN. EIN TAG IM BERLIN DER GOLDENEN ZWANZIGER

Nach dem verlorenen Weltkrieg und dem Untergang des Kaiserreichs bricht in der deutschen Hauptstadt eine neue Ära an. In Zeiten politischer Unruhen geben sich viele Berliner dem Vergnügen hin – und wagen im rasenden Tempo der 4-Millionen-Metropole einen Tanz auf dem Vulkan. Das Berlin der Zwanziger ist eine Stadt der Gegensätze. Bis heute ist es ein Sehnsuchtsort geblieben. Wie wäre es, diese schillernde Großstadt noch einmal zu erleben, die unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft nach und nach verschwand? Unser Autor hat die Zeitreise gewagt.

Eine ferne Uhr schlägt zwölf Uhr Mittag, als ich durch die Neue Schönhauser Straße in Berlin-Mitte spaziere. Seit wenigen Augenblicken erst befinde ich mich in der Hauptstadt der Weimarer Republik, doch schon jetzt umgibt mich eine allgemeine Rastlosigkeit. Der Schritt der Menschen ist schnell, das Grollen der Busse und Bahnen unaufhörlich. Angezogen von diffusem Lärm und Getöse biege ich in die Rosenthaler Straße ab und bleibe abrupt stehen: Nur wenige Meter entfernt fliegen Fäuste, erklingen Schreie, aus der Ferne heulen die Sirenen. Wo ich ein Volksfest vermutet habe, tobt eine Straßenschlacht. Das Viertel ist in Aufruhr.

TEMPO, TECHNIK UND TRISTESSE: DER ALEXANDERPLATZ

Nur wenige hundert Meter entfernt, am verkehrsumtosten Alexanderplatz, ist von der Auseinandersetzung zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten nicht viel zu spüren. Monumental wirkt der Platz mit seinen Menschenmengen, seinen Straßenbahnen und Warenhäusern. Im prachtvollen Kaufhaus Wertheim, das wie so viele Geschäfte der Stadt jüdische Besitzer hat, gibt es Produkte aus nahezu allen Winkeln der Erde zu kaufen.

Das Publikum bei Wertheim ist ein anderes als auf dem vorgelagerten Platz: vornehm gekleidet und kultiviert. Die Damen tragen Bubikopf, ihre Warenkörbe sind prall gefüllt. Ich bezahle meinen Einkauf und verlasse das Gebäude Richtung Untergrundbahn. Am Eingang in die Unterwelt sitzt ein Einbeiniger und bettelt. In seiner Linken hält er für alle gut sichtbar sein Eisernes Kreuz aus dem Ersten Weltkrieg.

Am unterirdischen Verkehrsknotenpunkt Alexanderplatz fließen Menschenströme durch ein Labyrinth aus Leuchtreklamen und Bahnsteigen. Überall wird gebaut, gebohrt, gearbeitet. Ebene um Ebene gräbt sich die Technik in die Tiefe. Unter ohrenbetäubendem Gekreische rauscht die U-Bahn in die Station, saugt mich auf und spuckt mich in einem besseren Viertel wieder aus.

WELTSTADTFLAIR AM KURFÜRSTENDAMM

Am Wittenbergplatz lasse ich das Kaufhaus des Westens hinter mir und folge dem steten Fluss der Passanten. Sie alle scheinen nur ein Ziel zu haben: den Kurfürstendamm – Champs-Élysées, Broadway, Piccadilly Circus der Reichshauptstadt. Ich streune über den Boulevard mit seinen Boutiquen und Schaufenstern, lese die Werbeplakate an den Litfaßsäulen und schaue den Frauen in ihren wehenden Kleidern hinterher. Die Atmosphäre auf den Terrassen der Bistros ist durchtränkt von Champagner und weltstädtischer Lässigkeit.

AUF EINEN DRINK MIT DER BOHÈME IM ROMANISCHEN CAFÉ

Als ich am späten Nachmittag das Romanische Café an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche betrete, herrscht dort reges Treiben. Männer in teuren Anzügen stehen in Gespräche vertieft an der Bar, ein helles Frauenlachen erfüllt den Saal. Der Ober nimmt geschäftig die Bestellungen entgegen. „Bitteschön, Herr Döblin“, sagt er zu einem Gast, der in sein Notizbuch vertieft am Fenster sitzt, und stellt ein Glas Weißwein auf dessen Tisch. An der Theke bestelle ich ein Bier, sauge Dialogfetzen und Worte in mich auf. In Berlin, so entnehme ich den Gesprächen, gibt es samstagabends nur zwei Optionen: das Theater oder das Lichtspielhaus.

IMPOSANTES BILDSPEKTAKEL IM UFA-PALAST

Meine Wahl fällt auf den Ufa-Palast am Zoo, mit 2.165 Plätzen das größte Kino der Republik und nur wenige Schritte vom „Romanischen“ entfernt. Schon auf dem Bürgersteig vor dem Lichtspielhaus drängen sich die Menschen in großen Trauben. Heute wird ein Film gezeigt, der die Stadt seit Wochen in Atem hält: Walther Ruttmanns Berlin. Die Sinfonie der Großstadt. „Der mächtige Rhythmus der Arbeit, der rauschende Hymnus des Vergnügens, der Verzweiflungsschrei des Elends und das Donnern der steinernen Straßen – alles wurde vereinigt zur Sinfonie der Großstadt“, wirbt der Verleiher. Auch ich will eine Karte ergattern.

Zu spät. Die Vorstellung sei restlos ausverkauft, verrät mir der Herr im Kassenhäuschen. Stattdessen empfiehlt er mir den jüngsten Film von Fritz Lang. „Nicht sehr beliebt, aber ein Geheimtipp.“ Für 75 Pfennig erwerbe ich ein Billett und finde mich kurze Zeit später in einem halbleeren Saal wieder. Als das Licht erlischt, bricht ein düster-imposantes Spektakel über mich herein. Metropolis erzählt die Geschichte einer ungleichen Zukunftsgesellschaft – und zieht mich mit gewaltigen Bildern und einem monumentalen Soundtrack in seinen Bann.

DURCH DIE NACHT AM BAHNHOF FRIEDRICHSTRASSE

Wieder auf dem glänzenden Kurfürstendamm angekommen, bittet mich eine Frau um Feuer. Das Ticket in ihrer Hand verrät mir, dass auch sie Metropolis gesehen hat. Wir kommen ins Gespräch. Sie heißt Claire, stammt aus Breslau und ist Künstlerin. Rund um den Bahnhof Friedrichstraße seien die Varietés und Cafés bis spät in die Nacht geöffnet, sagt sie. Ob ich nicht mitkommen möge? Ich zögere noch, doch meine neue Begleiterin hat schon ein Taxi herangewinkt. Während die Lichter an uns vorbeirauschen, das wilde Funkeln und Fauchen der Großstadt, schließe ich für einen Moment die Augen. Ein Traum muss es sein, in dieser wundersamen Stadt zu leben.