DER KNIEFALL VON WARSCHAU: DIE GROSSE GESTE VON WILLY BRANDT

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges führen die Bundesrepublik Deutschland und Polen keine diplomatischen Beziehungen. 1970 reist Bundeskanzler Willy Brandt nach Warschau und entscheidet sich für eine besondere Geste: Vor dem Ehrenmal für die Helden des Ghettos geht er auf die Knie – und bittet so um Vergebung für die Verbrechen der NS-Zeit. Wir erinnern an den bewegenden Moment, mit dem der Bundeskanzler seiner Ostpolitik vor 46 Jahren ein Denkmal setzte.

Als Willy Brandt am 7. Dezember 1970 zum Ehrenmal für die Helden des Ghettos schreitet, könnte das graue und frostige Wetter nicht besser zur Stimmung passen. Zwar will der deutsche Kanzler noch heute den Warschauer Vertrag und somit die Anerkennung der polnischen Westgrenze durch die Bundesrepublik unterschreiben. Doch trotz der angestrebten Entspannungspolitik sprechen die Delegationen beider Länder nur über das Allernötigste. Zu erdrückend sind die polnischen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, zu präsent die brutale Unterdrückung und die Gräueltaten der Deutschen.

UNVERMITTELT UND EHRLICH: BRANDTS GESTE DER DEMUT

Umgeben von Politikern, Journalisten und Fotografen nähert sich Brandt an diesem düsteren Tag dem Mahnmal im Herzen Warschaus. Er zieht die Schleife des mit weißen Nelken geschmückten Trauerkranzes zurecht und tritt einige Schritte zurück. Während er mit versteinerter Miene den Kranz fixiert, geschieht es: Willy Brandt, fast 57 Jahre alt und erster SPD-Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik, fällt auf die Knie. Dies passiert so unvermittelt, wirkt so echt und ehrlich berührt, dass die Menschen schlagartig verstummen und einzig die im Sekundentakt klickenden Auslöser der Kameras die Stille durchbrechen. Rund dreißig Sekunden harrt Brandt kniend aus, eine Zeit, die aufgrund der ungeheuren Demut der Geste wie eine Ewigkeit erscheint. Als der Kanzler sich erhebt, hat er Geschichte geschrieben. Von diesem Tag an wird die Nachwelt vom Kniefall von Warschau sprechen.

BRANDT, DER NS-GEGNER

Vielleicht brauchte es jemanden wie Willy Brandt, um sich für das Unvorstellbare, das Unsagbare zu entschuldigen. Denn an den Verbrechen, für die der 1913 geborene Brandt soeben um Vergebung gebeten hat, trägt er selbst keine Schuld. Schon im April 1933, kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, hatte der überzeugte Gegner des neuen Regimes seine Heimatstadt Lübeck verlassen, um in Norwegen einen Auslandsstützpunkt der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands aufzubauen. 1936 weilte er mehrere Wochen als Spion in Berlin, arbeitete im Folgejahr als Kriegsberichterstatter im spanischen Bürgerkrieg. Nach dem Überfall des Deutschen Reichs auf Norwegen flüchtete er 1940 nach Schweden, wo er für einen Internationalen Kreis von Sozialisten arbeitete. Erst 1945, nachdem die Alliierten dem Furor der Nazi-Herrschaft ein Ende bereitet hatten, kehrte er in sein Heimatland zurück.

Als Brandt 24 Jahre später die Wahl gegen seinen Amtsvorgänger – das ehemalige NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger – gewinnt, zieht mit ihm auch ein anderes, ein neues Deutschland ins Bonner Palais Schaumburg ein. Brandt möchte die deutsche Politik mit seiner sozialliberalen Koalition grundlegend verändern – und scheut dabei auch vor heiklen Themen nicht zurück.

DEUTSCHLAND RICHTET SEINE OSTPOLITIK NEU AUS

Ein zentraler Punkt auf der Agenda von Brandts Kabinett ist die Neuausrichtung der deutschen Ostpolitik, die Entspannung gegenüber Moskau und weiteren Staaten des Warschauer Pakts vorsieht. Besonders kompliziert sind dabei die Beziehungen zu Polen. Nicht nur hat kein anderer Staat so sehr unter der Brutalität des NS-Regimes gelitten. Auch die erzwungenen deutschen Gebietsabtretungen nach dem Kriege sind nach wie vor ein großes Reizthema in beiden Ländern. Brandts Vorgänger, allesamt CDU-Politiker, hatten Polen in ihrer Außenpolitik deshalb außen vor gelassen. Auch die Zugehörigkeit des Staates zum sogenannten Ostblock machte diplomatische Beziehungen für die Konservativen unmöglich.

Nun kommt Brandt nach Warschau, bittet kniend um Vergebung und akzeptiert den endgültigen Verlust der Ostgebiete. In Teilen der Bundesrepublik stößt dies auf Ablehnung. Besonders bei den Vertriebenen und der CDU/CSU, die weiterhin an einer Rückgewinnung des Territoriums jenseits von Oder und Neiße festhalten, herrscht Empörung über das Verhalten Brandts. Der Bundeskanzler hingegen gibt staatsmännisch zu Protokoll: „Mit diesem Vertrag geht nichts verloren, was nicht längst verspielt worden war.“

DIE OPPOSITION EMPÖRT, DIE DEUTSCHEN KRITISCH – DIE WELT BEGEISTERT

Viele Bundesbürger bleiben dennoch kritisch: Als der Brandt gegenüber tendenziell wohlwollende SPIEGEL seine Leser kurz nach dem Ereignis fragt, ob der Bundeskanzler hätte knien dürfen, antworten nur 41 Prozent mit „Ja“. 48 Prozent lehnen die Geste ab. Anders die Reaktionen in der westlichen Presse: Das einflussreiche US-Magazin Time etwa erklärt den deutschen Bundeskanzler nach seinem Kniefall kurzerhand zum „Man of the year“. Spätestens als man ihm ein Jahr später in Stockholm den Friedensnobelpreis verleiht, wird deutlich: Indem er um Vergebung und Aussöhnung bat, hat Willy Brandt das Bild Deutschlands in der Welt nachhaltig verändert.

Dies hinderte die CDU/CSU-Opposition nicht daran, im Bonner Parlament weiter vehement Stimmung gegen die sozialliberale Ostpolitik zu machen. Sie kritisierte den Warschauer Vertrag bei seiner Unterzeichnung als „Ausverkauf deutscher Interessen“ und befürchtete, mit dem Vertrag würde nicht nur die Oder-Neiße-Grenze als Grenzverlauf, sondern auch die DDR als zweiter deutscher Staat anerkannt. Auch argumentierte sie, die Bundesrepublik sei vor Abschluss eines Friedensvertrages mit den Siegermächten gar nicht berechtigt, auf Gebiete östlich der Oder-Neiße-Grenze zu verzichten. Nach einer der erbittertsten politischen Auseinandersetzungen, die in der Geschichte der „alten“ Bundesrepublik Deutschland zwischen Regierung und parlamentarischer Opposition zu verzeichnen waren, wurde der Vertrag erst im Mai 1972, eineinhalb Jahre nach Brandts Kniefall, ratifiziert. Die Bundesrepublik erkannte die Oder-Neiße Grenze damit zunächst ohne endgültige Friedensregelung an.

Auch das Verhältnis zu Polen blieb trotz der geglückten Aufnahme diplomatischer Beziehungen nicht einfach. Themen wie die Entschädigung polnischer NS-Opfer bargen eine hohe Brisanz. Der Ost-West-Konflikt und die Zugehörigkeit der beiden Staaten zu unterschiedlichen Machtblöcken waren ein weitere Grund für die Komplexität der Beziehungen. Doch dank Willy Brandt war ein erster Schritt gemacht.

WILLY BRANDTS KNIEFALL: SYMBOLBILD DES 20. JAHRHUNDERTS

Bis heute ranken sich Diskussionen um die Frage, ob der Kniefall des Kanzlers eine spontane Idee war oder bereits im Vorfeld von diesem geplant worden sei. Beobachter der Szene wie der damalige Außenminister und spätere Bundespräsident Walter Scheel oder der Publizist Hansjakob Stehle waren sich jedoch sicher: Der Bundeskanzler hatte aus einem spontanen Gefühl heraus gehandelt. Brandt selbst bekräftigte dies in seinen 1989 erschienenen Memoiren. In diesen legte der Altkanzler auch dar, was ihn zu seiner Geste bewogen hatte: „Am Abgrund der deutschen Geschichte und der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“ Mit seinem Kniefall hat Willy Brandt der Welt ein friedliches Deutschland vor Augen geführt – und ihr gleichzeitig ein Symbolbild des 20. Jahrhunderts geschenkt.