Warum hat eine Schulstunde 45 Minuten?

Am Montag beginnt in Berlin und Brandenburg die Schule wieder. Deutsch, Mathe, Englisch, Naturwissenschaften – eingeteilt sind all diese Fächer meist in Schulstunden von 45 Minuten. Woher diese Taktung kommt und dass sie seit jeher umstritten ist, erklärt unser Autor Robert Kluth.

Noch 37 Minuten! … Mist. … Wie langweilig! … Und jetzt? … Die Uhr muss kaputt sein! Oder der Zeiger ist eingeschlafen: als ich das letzte Mal auf die Uhr geschaut habe, war es doch genauso spät wie jetzt! … Vorne steht der Lehrer und erklärt Unerklärbares. …. Jetzt schreibt er etwas an die Tafel. … Noch 36 Minuten! Wann klingelt es endlich zur Pause?
Solche Gedanken kennen alle, die einmal eine langweilige Schulstunde erlebt hat. Zeit ist relativ, manchmal vergeht sie schnell – und manchmal eben sehr langsam. Zwei Minuten können Kaugummi oder Augenschlag sein. Darum weiß jeder nur zu gut, dass eine Schulstunde 45 Minuten dauert. Woher kommt aber dieser Rhythmus? Schließlich hat eine Zeitstunde 60 Minuten.

Szene in einer Dorfschule. Der Schulmeister, 1840 © DHM

Am Anfang war Preußen

Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert war eine Unterrichtsstunde tatsächlich 60 Minuten lang. Es war zudem üblich, dass Unterricht vormittags und nachmittags stattfand. Dazwischen gab es eine lange dreistündige Pause, in der die Schüler nach Hause gingen, oft ihren Vätern das Essen auf die Arbeit brachten und am Nachmittag zurückkamen.
Die Nachmittagsstunden waren unbeliebt. Kritiker argumentierten am Beginn des 20. Jahrhunderts, dass nach dem Mittagessen „die Verdauungstätigkeit“ einsetze, „die einen hemmenden Einfluss auf die geistige Leistungsfähigkeit ausübt. Ganz besonders störend wirken all diese Momente im Hochsommer; eine bleierne Schwere lastet dann oft auf der ganzen Klasse.“1 Die neue Wissenschaft der experimentellen Psychologie führte „Ermüdungsmessungen an Schulkindern“2 durch und kam zu dem Ergebnis, dass die 60-Minuten-Taktung der Gesundheit der Kinder schade und für das Lernen nicht förderlich sei. Die Wissenschaft empfahl daher, kleinere Kinder in 30-Minuten-Lektionen zu unterrichten, ältere Kinder in 45- oder 50-Minuten-Lektionen.

Schiefertafel im Buchenholzrahmen, um 1945 © DHM

Am 22. August 1911 legte der Preußische Kultusminister August von Trott zu Solz (1855-1938) fest, „dass an allen höheren Lehranstalten die Dauer der Unterrichtsstunde allgemein auf 45 Minuten festzusetzen ist“3. Der preußische Erlass von 1911 orientierte sich an den neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen. Mit den nun eingeführten sogenannten „Kurzstunden“ von 45 Minuten konnten die 30 bis 32 Wochenstunden komplett auf den Vormittag gelegt werden. Der unbeliebte Nachmittagsunterricht entfiel, die Schüler hatten nun frei.

Eine umstrittene Entscheidung

Die „schulhygienische“ Entscheidung war jedoch nicht unumstritten. Damit der Unterricht nur noch vormittags stattfinden konnte, mussten auch die Pausen zwischen den Stunden kürzer werden – ganz gegen die Erkenntnisse der experimentellen Psychologie, die längere Pausen mit fortschreitender Stunde gefordert hatte. Auch Lehrer waren nicht davon überzeugt, dass kürzere Zeit besseren Unterricht hervorbringe. Bereits 1906 wendete ein Lehrer gegen das verkürzte Stundenmodell ein „mir ist noch keine 55-Minutenlektion – längere gibt’s nicht – zu lang geworden“4 und dass in 45 Minuten kein vernünftiger Unterricht stattfinden könne, da die Zeit zu knapp sei. Ein anderer führte aus:

„Galoppierende Schwindsucht! Freilich läßt’s sich machen, […]. Die Pensen werden erledigt, zweifellos, aber mich will bedünken, die Gefahr rückt nahe, das wir Streckenarbeiter werden und das ein zu hastiges Tempo die Harmonie des Unterrichts stört. Das Frage- und Antwortspiel, das heute schon m. E. viel zu eifrig betrieben wird, macht dann die Gedanken der Schüler noch unruhiger, die jungen Leute kommen noch weniger als jetzt zum Aussprechen und zum zusammenhängenden Reden. Geht das nicht auf Nerven? […] „Nur rasch fertig“, das wird, fürchte ich, die Melodie sein, die dem Knaben schon auf dem Schulwege in den Ohren klingt, und vielleicht summt sie auch bald der Lehrer mit.“5

Zudem sollte, so erklärt das Lexikon der Pädagogik 1917, die Kurzstunde den Unterricht erleichtern, da nun Unterrichtszeit und -stoff auf das Wesentliche beschränkt werden müsse. Das Lexikon urteilte, dass der Erlass wohl aus Rationalisierungsgründen geschehen sei. Die Entscheidung des preußischen Kultusministers sei eine Sparmaßnahme: Mit dem Halbtagesunterricht solle in weniger Zeit mehr gelernt werden. Damit sei „die Halbtagsschule als das anerkannt, was sie in Wirklichkeit ist, nämlich ein übler Notbehelf“.

Zeugnis für Hildegard Wallentowitz, Schülerin der IX. Klasse des Städtischen Lyzeums Thorn; Thorn, 1. Oktober 1913 © DHM

Das 45-Minuten-Modell – eine auslaufende Erfolgsgeschichte?

Nach dem preußischen Erlass setzte sich in Deutschland der 45-Minuten-Takt durch. Als am Ende der Weimarer Republik wieder ein 50-Minuten-Modell eingeführt werden sollte, protestierte die Lehrerschaft. Dieser Versuch gehe gegen die Gesundheit der Schüler und Lehrer und sei zu verhindern: „Nach einem fünfstündigen 50-Minutenunterricht ist es einfach ausgeschlossen, von jungen Leuten, die in der Entwicklungszeit stehen oder sie eben überwunden haben, irgendwelche geistige Anstrengung zu verlangen.“6 Die preußische Verwaltung unter Bernhard Rust (1883–1945) führte, wenige Tage nach der Machtübernahme Hitlers, den 45-Minuten-Takt wieder ein.7 Dieser blieb bis in das jetzige Jahrhundert weitgehend unangetastet.

Stundenplan mit Abbildungen zur Anwendung des elektrischen Stroms, um 1933 © DHM

Während heute in Frankreich und den Niederlanden im 50- oder 60 Minuten-Takt unterrichtet wird, gibt es in Finnland, Großbritannien und Polen ähnlich wie bei uns das 45-Minuten-Modell. Mit Argumenten, die stark an die aus dem auslaufenden langen 19. Jahrhundert erinnern, wird der 45-Takt hierzulande aber zunehmend kritisiert: Er sei zu starr, presse den Lehrstoff in zu wenig Zeit, verbreite Hetze und Unruhe. Darum entschließen sich jetzt immer mehr Schulen, im 60- oder 90-Minuten-Takt zu unterrichten.8
Allen neuen Unterrichtsmodellen zum Trotz: Die 45-Minuten-Einheit bleibt die Währung der Schulleitung. Jede Lehrerstelle wird, laut Schulgesetz, mittels der 45-Minuten-Einheit verwaltet. Eine 60-Minuten-Stunde ist laut nach Schulverwaltung 1 1/3 Stunde. Die 45-Minuten leben als Takt also fort, und sei es auch nur verdeckt in der Schulverwaltung.

Die „Verdiente Lehrerin des Volks“ Elisabeth Urban der 13. POS Berlin-Mitte erteilt Russischunterricht, 1962 © Martin Schmidt / DHM

1 Pharus (1914), Nr. 5, Halbjahresband 1, S. 526.
2 Pädagogische Monatshefte (1898), Nr. 4, S. 400.
3 Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen (1911), S. 528.
4 Pädagogische Woche (1906), Nr. 2, S. 233.
5 Korrespondenzblatt für den akademisch gebildeten Lehrerstand (1911), Nr. 19, S. 362.
6 Deutsches Philologen-Blatt (1932), S. 15.
7 Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen (1933), S. 61.
8 Der Spiegel (2012), Nr. 8.


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Robert Kluth

Robert Kluth ist Historiker und Ausstellungskurator und hat u. a. für deutsche und amerikanische Museen gearbeitet. Er hat Geschichte und Philosophie an einem Berliner Gymnasium unterrichtet. Erreichbar ist er via Twitter.