Die Novemberpogrome

Harry Kranner war erst 12 Jahre alt, als am 12. November 1938 zwei Gestapo-Offiziere in die Wohnung seiner Familie in Wien kamen, angeblich, um nach Waffen zu suchen. Harrys Familie war einer von vielen jüdischen Haushalten, in denen damals solche Razzien stattfanden. In den meisten Fällen wurden die erwachsenen männlichen Familienmitglieder verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau oder Mauthausen deportiert, so auch Harrys Onkel Arthur. In Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei wurden rund 30.000 jüdische Männer inhaftiert. Harry hat all diese Ereignisse in seinem Tagebuch festgehalten.

Drei Tage zuvor, in der Nacht vom 9. auf den 10. November, inszenierten die Nazis eine in Ausmaß und Intensität beispiellose Welle von Gewalt gegen Jüdinnen und Juden. In der Kristallnacht, auch bekannt unter dem Begriff Novemberpogrome, der das Ausmaß der Gräueltaten noch treffender beschreibt, wurden 267 Synagogen und rund 7.000 jüdische Geschäfte und Betriebe zerstört. Mindestens 91 Jüdinnen und Juden wurden getötet. Unbekannt ist die Anzahl derer, die geschlagen und vergewaltigt wurden. Finanziell beliefen sich die Schäden der Novemberpogrome auf rund 400 Millionen US-Dollar (mehr als 6,8 Milliarden US-Dollar nach heutigem Kurs).[1] Das emotionale Trauma derer, gegen die sich die Gewalt richtete, lässt sich nicht beziffern.

Was zunächst als „spontaner Volkszorn“ in Reaktion auf die Ermordung des deutschen Diplomaten Ernst vom Rath in Paris durch Herschel Grynszpan dargestellt wurde – Herschel Grynszpan war ein junger Jude polnischer Staatsangehörigkeit, der in Hannover geboren wurde und dessen Familie zusammen mit rund 17.000 Jüdinnen und Juden polnischer Nationalität aus Deutschland vertrieben wurde – war in der Tat eine akribisch vorbereitete Aktion, die darauf abzielte, noch mehr Angst unter deutschen Jüdinnen und Juden zu verbreiten und sie zu zwingen, bald das Land zu verlassen. Ähnliche Terrorinstrumente wurden spätestens ab März 1938 systematisch – wenngleich nicht in demselben Ausmaß – eingesetzt, als das nationalsozialistische Deutschland Österreich annektierte und eine Reihe brutaler Maßnahmen gegen die lokale jüdische Bevölkerung ergriff. Da heftige Reaktionen vonseiten nichtjüdischer Bürgerinnen und Bürger ausblieben, verschärften die Nazis die rechtliche und soziale Lage der Jüdinnen und Juden in den darauffolgenden Monaten. Während des Passahfestes im April 1938 wurden Wiener Jüdinnen und Juden gezwungen, auf Händen und Knien Straßen der Hauptstadt zu waschen. Wie es zuvor bereits in Deutschland geschehen war, wurden sie ihrer beruflichen Positionen enthoben und aus ihren Wohnungen vertrieben. Ihre Waren wurden ihnen gestohlen. Im Juni erreichten die gewalttätigen Aktionen Berlin. Zwischen dem 13. und dem 17. Juni intensivierten die Nazi-Behörden ihre Überfälle auf örtliche Cafés. Selbst Einrichtungen an der repräsentativsten Straße Berlins, dem Kurfürstendamm, der noch an die blühende Kaffeehauskultur der Weimarer Republik erinnerte, blieben von den gewalttätigen Ausschreitungen nicht verschont. Gegen zahlreiche Jüdinnen und Juden wurde brutal vorgegangen, sie wurden auch geschlagen. Es kam zu rund 2.000 Verhaftungen. Am 8. Juli wurde die Hauptsynagoge in München abgerissen. Die örtliche jüdische Gemeinde hatte nur eine Nacht, um die heiligen Schriftrollen vor der Zerstörung zu retten – ein Luxus, wie sich später zeigte, den viele Gemeinden in der Kristallnacht nicht hatten.

Als direkte Folge der Ereignisse bildeten sich vor den ausländischen Konsulaten in jeder größeren deutschen Stadt lange Schlangen. Die Menschen versuchten verzweifelt, sich aus Nazideutschland in Sicherheit zu bringen. Dennoch akzeptierten die meisten Länder Europas und weltweit nicht mehr als die zugewiesene Quote jüdischer Flüchtlinge aus Nazideutschland. Aus pragmatischen Gründen wie Kosten für die Gesellschaft und unter Missachtung humanitärer Appelle internationaler Hilfsorganisationen nahmen Länder wie die USA, England, Australien und die Schweiz sowie Länder Südamerikas keine weiteren Visaanträge entgegen. Nur Jüdinnen und Juden, die Verwandte im Ausland hatten und eidesstattliche Erklärungen vorlegen konnten, wonach diese sie finanziell unterstützen würden, konnten ein lebensrettendes Visum erhalten.

Zu den dramatischsten Folgen der Novemberpogrome gehörte der Beginn der Kindertransporte. Angesichts der zunehmenden sozialen und rechtlichen Unsicherheit der Jüdinnen und Juden beschlossen die Eltern von 10.000 Kindern in Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei, ihre Kinder im Alter zwischen 6 Monaten und 16 Jahren unbegleitet nach England, in die Schweiz, nach Holland, Belgien, Frankreich und Schweden zu schicken. Die meisten Familien sahen sich nie wieder.

Die 14-jährige Marianne Salinger lebte zur Zeit der Novemberpogrome noch in Berlin. Als sie in dieser Nacht Zeuge der enormen Zerstörung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur in ihrer Stadt wurde, schlich sie sich ungeachtet der Gefahr in die Synagoge in der Pestalozzistraße. Obwohl sie unter normalen Umständen nach jüdischem Recht die Thorarollen nicht berühren durfte, erkannte sie die Ausnahmesituation, in der sie sich befand. Sie hob ein Stück der Thorarolle auf und versteckte es sorgfältig in ihrem Gebetbuch. Ein paar Monate später nahm sie es mit, als sie Deutschland in Richtung England verließ. Mariannes Odyssee führte sie letztendlich in die USA. Heute werden das von Marianne gerettete Thorastück sowie die Dokumente und das Tagebuch von Harry Kranner am Leo Baeck Institute New York|Berlin aufbewahrt, der größten Sammlung von Gegenständen, die von der deutsch-jüdischen Diaspora gerettet wurden, wozu natürlich auch die Dokumentation der tragischen Ereignisse von 1938 gehört.

Verweis

[1] https://www.dollartimes.com/inflation/inflation.php?amount=400&year=1938 (abgerufen am 18. Oktober 2018)

Dr. Magdalena M. Wrobel

Magdalena M. Wrobel promovierte am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur der Ludwig Maximilian Universität in München. Seit 2016 arbeitet sie als Projektmanagerin am Leo Baeck Institut – New York | Berlin in New York. Am Institut ist sie momentan für das 1938Projekt zuständig.