Die Weihnachtsinsel

Die „Weihnachtsinsel“ – was wird das für eine Insel sein? Leben dort Männer mit weißen Bärten und roten Bademänteln, die stets Weihnachten feiern? Gibt es hier jeden Tag Geschenke? Schneit es dort unablässig? Herrscht hier stets himmlischer Friede? Der Historiker Robert Kluth hat für unseren Blog zur Geschichte dieser Insel recherchiert. 

Neugierig gebe ich den Ort in eine Suchmaschine ein und lese, dass die Weihnachtsinsel im Indischen Ozean südlich von Java liegt. Minimaltemperatur 22,3° Celsius, also kein Schnee. Fotos zeigen ein azurblaues Meer, Palmen, große Felsen. Eine Art Robinson-Crusoe-Idylle baut sich von meinem geistigen Auge auf. Nicht gerade der typische Ort für Weihnachten.

Vor 375 Jahren segelte ein englischer Kapitän der Ostindien-Kompanie durch den Indischen Ozean. Über William Mynors, so war sein Name, und seine Fahrt ist nicht viel bekannt. Ein Bild von ihm kann ich nicht finden, aber ich stelle mir einen englischen Kapitän mit wettergegerbten Gesicht, vielleicht hatte er auch einen weißen Bart, vor. Er liegt in seinem Bett, es ist 3 Uhr morgens. Ein Matrose stürmt in seine Kajüte „Land in Sicht!“ Mynors lässt beidrehen, eine Insel erscheint. Dunkel ragen steile Felsklippen aus dem Meer auf, darauf Bäume. Später wird ein Forscher die Insel als „angenehme Erscheinung mit hohen Bäumen“ beschreiben. Vielleicht lässt Mynors einmal die Insel umrunden, entdeckt aber keinen Ort zum Ankern. Der Kapitän fragt nach dem Datum, vielleicht weiß er es aber auch bereits: Trotz des warmen Wetters ist heute Weihnachten, der 25. Dezember 1643, der Heilige Abend ist gerade vorbei. Mynors überlegt kurz und schreibt in sein Logbuch, dass sie eine Insel entdeckt hätten, „weil es der Weihnachtstag war, haben wir sie „Weihnachtsinsel“ genannt“. Was für ein schöner Name!

Weihnachten ist für Europa ein wichtiges Fest, auch heute noch. Weihnachten sagt uns „etwas“, und sei es auch nur „Familienfest“. Für einen europäischen Kapitän mit seiner Besatzung, weit weg von zu Hause, musste der Name „Weihnachtsinsel“ sehnsuchtsvoll klingen. Das Schiff segelte schließlich durch einen für Europäer sehr fremden Raum. Wer „Weihnachtsinsel“ hört, bei dem schneit es gedanklich, trotz der Tropenhitze. Jeder Europäer kann sich etwas darunter vorstellen, und sei die Insel noch so weit weg und sei die Umgebung noch so fremd.

Was hätten die englischen Entdecker dazu gesagt, dass die Insel bereits andere Namen trug? Bis ins 19. Jahrhundert hieß sie wahlweise auch „Monij“ oder „Selam“. Diese exotischen Namen finden sich auf Kartenmaterial des 17. und 18. Jahrhunderts. Der Namensforscher Jan Tent vermutet, dass „Monij“ wahrscheinlich aus dem Sanskrit stammt und auf die ruhige und abgelegene Lage der Insel verweist. „Selam“ hingegen steht in der javanischen Sprache für „Edelstein“ und könnte die steile Felsküste der Insel beschreiben. Hätte der Engländer Mynors eine dieser Namen akzeptieren können, an einem 25. Dezember 1643? Der Kapitän und die Besatzung machen die fremde Insel zu etwas Eigenem, bannen sie mit einem europäisch-christlichen Namen.

Die Besatzung von William Mynors Schiff, der Royal Mary, hat die Insel übrigens nie betreten. Erst ein Schiff mit dem Pirat und Entdecker William Dampier an Bord schickte 1688 zwei kleine Boote auf die Insel. Sie kamen mit Holz, Vögeln und Krabben zurück. Die Insel war unbewohnt. Bis ins 19. Jahrhundert war nicht mal klar, ob an dieser Meeresstelle eine oder drei Insel liegen. Eine eigenständige geographische Wissenschaft mit exakten Karten gab es zu dieser Zeit noch nicht, die Europäer „entdeckten“ die Welt noch und forschten noch nicht (Jürgen Osterhammel). Es wurde behauptet, dass die Namen „Monij“ und „Selam“ zwei andere Inseln in unmittelbarer Umgebung bezeichnen: So zeigt eine Karte aus dem Jahr 1707 drei Inseln an der Stelle.

Im 19. Jahrhundert begannen die Briten, die Insel wissenschaftlich zu erforschen. Nun ging es um die Geographie und Geologie selbst. Die Forscher produzierten exakt vermessenes Kartenmaterial und stellten fest, dass es an dieser Meeresstelle nur eine Insel gibt und dass auf ihr Phosphat vorkommt. Im 20. Jahrhundert wurde die Insel schließlich Teil der Weltgeschichte: Im Zweiten Weltkrieg wurde sie ab März 1942 von Japan besetzt und ging erst im Oktober 1945 an das Vereinigte Königreich zurück. Am 1. Oktober 1958 wurde die Insel der Hoheit Australiens überstellt. 2001 wurde dort das australische Internierungslager für asylsuchende Boatpeople errichtet: Hintergrund war der Versuch der australischen Regierung nicht erwünschte Menschen von ihrem Staat fernzuhalten: So wurden Boatpeople mit dem Ziel Australien, gar nicht erst ins Land gelassen, sondern in Lager gesteckt. Die Weihnachtsinsel war hierfür ein geradezu perfekter Ort, immerhin liegt die Insel über 2.500 km von Australien entfernt mitten im Meer. Das Lager, von einem elektrisch geladenen Zaun umschlossenen, jeder Raum von einer Kamera überwacht, machte ein Entkommen nahezu unmöglich. Und damit die Insassen kein Asyl in Australien beantragen konnten, wurde die Insel kurzerhand für exterritorial erklärt. Die Menschen im Lager protestierten immer wieder gegen ihre Lage, es kam zu Todesfällen. Im Oktober 2018 schloss die Regierung dann das Lager.

Der schöne Name „Weihnachtsinsel“ prallt im Pazifik auf die schroffe Realität. Die heutigen Inselbewohnerinnen und -bewohner leben meist vom Phosphatabbau und tragen hierbei sicher keine roten Bademäntel.


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Robert Kluth

Robert Kluth ist Historiker und Ausstellungskurator und hat u. a. für deutsche und amerikanische Museen gearbeitet. Er hat Geschichte und Philosophie an einem Berliner Gymnasium unterrichtet. Erreichbar ist er via Twitter.